Hände
Es waren seine Hände, die ihr zuerst an ihm auffielen. Nicht die blauen Augen, nicht die starken Arme und das harte Gesicht. Seine Hände. Hände können so viel über einen Menschen aussagen. Sie können groß und weich sein, nicht gewohnt hart zu arbeiten und doch fähig zu schaffen. Es gibt spitze Hände, die eitel und gepflegt aussehen und doch fähig sind, sich tief ins Fleisch zu bohren. Schwitzende Hände, Hände mit deutlichen Adern, die sich wie ein Flussdelta über dem Handrücken ausbreiten. Es gibt Hände die zuschlagen können, Hände die nie gestreichelt wurden, Hände die zittern, die gehalten werden wollen und Hände die durch tiefe Furchen gezeichnet sind. Hände verraten das Alter der Person und ihre Gewohnheiten. Es gibt Raucherhände, gecremte Hände, Hände mit spitzen Fingerkuppen und langen Fingernägeln. Es gibt faltige und glatte Hände. Es gibt Arbeiter- und Hausfrauenhände. Die Hand ist ein Ausdruck der Persönlichkeit, dem viel zu wenig Respekt gezollt wird. Nicht das Gesicht, nicht der Hals und der Bauchansatz haben diese Aussagekraft, nur die Hände haben alles Selbstgeschaffene auch angefasst, erfunden und mitgestaltet. Nur die Hände haben diese Ausstrahlung, diesen untrügerischen Charakter, der die Person an sich beschreibt. Die Hände sind der Spiegel der Erfahrungen, wie die Augen der Spiegel der Seele sind.
Seine Hände waren rau, mit abgenagten Fingernägeln. Der Zeige- und der Mittelfinger der rechten Hand verrieten den starken Raucher, die Bräune den Naturmensch, die Fingernägel den unsicheren Mann. Obwohl seine Finger relativ kurz und kräftig waren, wirkten sie gemeinsam doch schmal. Ein Klavierspieler versteckte sich nicht hinter dem Mann, aber einer, der die Schönschrift beherrschte.
Die starken Sehnen auf dem Handrücken ließen erkennen, dass diese Hände fest zupacken konnten, die weichen Linien der Handinnenflächen zeigten aber auch, dass Zärtlichkeit in ihnen wohnte. Es waren keine schönen Hände. Nichts an diesen Händen ließ auf einen hingebungsvollen Liebhaber schließen. Der Mann hinter den Händen war kein Don Juan. Doch nur ein Blick auf diese Hände ließ eine Sehnsucht in ihr wachsen, von diesen Händen gestreichelt zu werden, von ihnen beschützt zu werden. Und je öfter sie diese Hände sah, desto stärker wurde der Wunsch in ihr, von ihnen gehalten zu werden. Von eben diesen Händen, die streicheln und schlagen konnten. Die Liebesschwüre verfassen konnten, Holz hacken konnten und sowohl schaffen als auch zerstören konnten. Irgendwann wollte sie von diesen Händen gehalten werden, geschützt und sicher. Sich diesem Mann hingeben, der solche Hände hatte. Der rau und zart und unberechenbar zugleich sein musste.
Es war einer dieser trügerischen Frühsommervormittage, an denen die Sonne scheint, aber man doch noch die Kälte des Winters spüren konnte, der in diesem Jahr erst spät den Kuckucksrufen gewichen war. Man spürte die Wärme der Sonne, doch der Wind brachte immer noch Abschiedsgrüße der toten Jahreszeit mit sich. Einer dieser Vormittage, an denen man die Jacke oder den Pullover nur widerwillig ablegte, denn kühle Böen ließen die kleinen Härchen auf den Armen vibrieren und vor allem bei schmalen blassen Mädchen Gänsehaut erscheinen.
Er saß im Innenhof der Cafeteria und trank Kaffee. Noch nie hatte sie diesen Bären beachtet, der zwar viele Vorlesungen mit ihr gemeinsam besuchte, doch in der Masse der Studenten ein bisher unbekanntes, unbedeutendes Gesicht war. Unscheinbar, unwichtig und fremd. Es hätte auch so bleiben können, wenn sie diese Hände nicht gesehen hätte. Er wäre weiterhin untergegangen im Meer der Strebenden, er wäre nicht ihr Schicksal geworden.
Doch das spielt nun keine Rolle mehr, ist unwichtig geworden, denn sie hat seine Hände gesehen und ihr Blick wanderte verwundert die starken Arme entlang, streifte am muskulösen Hals vorbei bis zum Gesicht des Bären und lächelte in seine blauen Augen. Selbst jetzt hätte sich alles noch anders entwickeln können. Sie hätte ihr unbewusstes Verlangen verdrängen und vergessen können und ihm nie näher zu kommen brauchen. Aber all das, was passieren würde, wusste sie damals noch nicht. Vielleicht war es Schicksal und es gibt tatsächlich eine Vorsehung. Vielleicht war sie dazu bestimmt, ausgerechnet an diesem Tag zu dieser Zeit in die Cafeteria zu gehen, obwohl sie sonst ihr Geld zusammen halten musste und Kaffee lieber daheim kochte. Vielleicht gibt es tatsächlich diese unsichtbaren Fäden, die fest verwoben zu einem Netz, die die Menschen in das Maul der Schwarzen Witwe treiben.
Oder es war alles Zufall. Aber wer glaubt schon an Zufall? Wer mag sich wirklich dem Chaos ausgesetzt sehen, das unberechenbare Ereignisse aneinander reiht, Menschen zusammen bringt und auseinander reißt, ohne Sinn und Verstand. Wem soll man die Schuld für alles geben, wen zur Verantwortung ziehen, wenn nicht das Schicksal die Fäden spinnt? Wer kann das Chaos ertragen, ohne an eine höhere Macht zu glauben? Wer möchte schon daran glauben, dass er ungelenkt durch das Leben geht, dass jede Begegnung, jedes Ereignis, das das Leben umwirft, dem Zufall geschuldet ist? Wie sollen wir eine solche Welt ertragen?
Also muss es doch Schicksal gewesen sein. Also war es doch die Vorsehung, die sie an seinen Tisch trieb und nach seiner Interpretation der Gedichte Eichendorffs fragen ließ. Es klingt ein Lied in allen Dingen, alles fließt und das melodische Plätschern der Wellen übertönt das gewaltige Brausen des Schicksalflusses, die reißende Strömung verbirgt sich unter dem zarten Glitzern der Sonnenstrahlen auf dem aufgewühlten Wasser. Jetzt war es zu spät und beide Seelen prallten aufeinander, unfähig, das Offenbare zu erkennen, blindgläubig und hingebungsvoll der Vorsehung ergeben und folgend.
Und was für eine Macht sie damit entfesselten! Unbesiegbar und natürlich größer als alle anderen Lieben sollte diese sein! All die heißen Schwüre in der Nacht, die ehrlich gemeinten Lügen, die auch jetzt noch in ihrem Kopf nachklangen: „Wir nicht! Uns passiert das nicht! Wir zeigen es allen, gemeinsam schaffen wir alles, solange wir zusammen sind, wird uns der Sturm namens Schicksal nicht umwerfen!“ Im Strudel der Liebe gefangen, hatten sie sich an den Händen gehalten und waren dem vorgegebenen Weg gefolgt. Sie hatten ihre Liebe als einziges Antriebsmittel, doch das reichte aus. Diese gewaltige Macht, die sie antrieb, diese gewaltigen Gefühle, das musste Vorsehung sein, das war Schicksal, das war Gott! Es schlugen ihre Herzen geschwind, alles war getan, fast eh gedacht, die Liebe besiegt alles und wahre Liebe ist unbesiegbar!
Und jetzt, zehn Jahre später, sitzt sie gebrochen und zerstört da und schaut auf ihre Hände. Es sind keine schönen Hände, die Finger etwas zu kurz, um schmal zu wirken, die spitzen Fingerknöchel, die hinter der Handwurzel hervorragen, gerade wie Eisberge aus dem Meer, dazu das Überbein am Mittelfinger der rechten Hand, vom vielen Schreiben.
Erste Alterszeichen sind zu erkennen, Falten, Narben und raue Haut. Kurze, unlackierte Fingernägel mit weißen Flecken, nichtssagend und unscheinbar. Und doch haben diese Hände perfekt in seine gepasst, sie hatten genau die richtige Größe und ihre Finger konnten sich nie so gut mit anderen Fingern verknoten wie mit seinen.
Heute zittern seine seltsamen Hände. Sie arbeiten, bauen, schreiben und kochen und zittern dabei unentwegt.
Noch immer halten sie die weiße Kaffeetasse der Universität, doch auch sie sind älter geworden, vernarbter, stärker und zugleich immer noch sanft. Doch sie wollen ihre Hände nicht mehr halten und beschützen. Sie haben andere Hände gefunden.
Ungläubig sitzt sie nun - und weint in ihre leeren Hände.