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Hände weg!

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07.11.2003
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Hände weg!

Da sich die Gentlemen beim Gedanken an Carambeau und dessen misslicher Lage in Unentschlossenheit übten, bemerkte Ariel Lieberman: »Vielleicht wäre heute ein Franzose passender? Ich habe einen Sancerre aus der Loire-Gegend dabei.«
Als Lieberman die Flasche auf den Tisch stellte, zeigte Fortunato di Campli wenig Begeisterung.
»Meine lieben Freunde, wir wollen Ariel verzeihen. Er scheint mir heute etwas durcheinander geraten.«
Fortunato nahm Liebermans Flasche an sich und ließ Roberto, den Dienstrobot, ein ›Wunder aus Friaul‹ auftragen. Einen der besonders köstlichen italienischen Weißweine. Die einzig mögliche Variante dieses Abends.
Im Nebenzimmer, der für seine exquisiten Speisen und Getränke bekannten Trattoria, herrschte eine gedrückte Stimmung. Die Clubmitglieder der galaktischen Gentlemen, als da waren: Richard Lester, ein Patentanwalt; Urs Hägi, der Bibliothekar; Ariel Lieberman, der Finanzbeamte; Sheik Yerbouthi, Besitzer einiger Spielhöllen; Ladyman Bofinger, ›Paradiesvogel‹ und Lebenskünstler sowie Fortunato di Campli höchstselbst, der Trattoriabesitzer – sie alle sahen voller Erwartung der Ankunft von Patrick Carambeau entgegen, dem einzig wirklichen Kriminalisten. Für gewöhnlich vertrieb man sich die Zeit zwischen den Mahlzeiten mit dem Genuss einzelner, historischer Kriminalfälle. Diese wurden dann ausgiebigst besprochen, analysiert und auf Fehler hin überprüft. Es kam aber auch vor, dass Carambeau etwas derart Kopfzerbrechen bereitete, dass er ›Arbeit‹ mitzubringen pflegte. Die Gentlemen versuchten dann selbstverständlich, dem Clubmitglied zu helfen. Und jeder in der kleinen Runde, war sich sicher, dass so ein Fall heute eintreten würde. Denn seit Wochen geisterte nur ein Thema durch die einschlägigen Medien. Wann würde es der Polizei endlich gelingen, den ›Verrückten‹ zu schnappen?


Als Carambeau dann endlich eintraf, waren die Gentlemen nebst Ladyman Bofinger erst einmal erleichtert. Schließlich hatte man sich Sorgen gemacht. Nachdem Carambeau seine Jacke neben dem sündhaft teuren Inverness-Mantel des Patentanwalts aufgehängt und die Begrüßungszeremonie hinter sich gebracht hatte, saß man alsbald komplett zu Tisch.
Im Club der galaktischen Gentlemen war es ungeschriebenes Gesetz, dass Kriminalfälle, auf keinen Fall und unter gar keinen Umständen, auf nüchternen Magen behandelt wurden. Obwohl die Spannung groß war, widmete man sich so zunächst dem lumineszenten Seebarsch. Die spezielle Züchtung, eines Schwagers von Fortunato, die auch nach der Zubereitung noch durch eine schöne Schuppenzeichnung bestach. Eine wirklich köstliche Unterbrechung. Auch im Hinblick dessen, dass der folgende Fall sehr ›delikat‹ sein würde. Als die Gentlemen dann aufs Vortrefflichste gespeist hatten, kam man, wie stets vor dem Nachtisch, zur Sache:
»Ihr könnt euch vermutlich denken, welcher Fall mir zu Zeit den Schlaf raubt«, machte sich Carambeau Luft.
»Ich kann mir jedenfalls vorstellen, dass du alle ›Hände‹ voll zu tun hast«, warf der Patentanwalt mit einem süffisanten Lächeln dazwischen. Carambeau wusste, um den eigenen Humor von Richard, doch mit dieser plumpen Anspielung, hatte dieser voll danebengegriffen. Der Flic zog die Augenbrauen hoch, legte die Stirn in Falten und wollte loslegen, doch Fortunato nahm die Schwingungen auf und reagierte prompt.
»Aber, aber, liebe Gäste. Wir wollen unseren Freund Carambeau doch nicht reizen. Seine Nerven dürften ohnehin längst blank liegen. Wir können uns vorstellen, dass es alles andere als ein Vergnügen ist, sich mit diesen rätselhaften Ritualmorden zu beschäftigen. Habe ich nicht recht, mein lieber Patrick?«
Carambeau schien fürs Erste besänftigt.
»Und ihr tappt wirklich noch völlig im Dunklen?«, wollte der Bibliothekar wissen.
»Ja, Urs, leider. Auch die Spur, vom Lebensgefährten, der zuletzt aufgefundenen Toten, verläuft wohl im Sande. Wir sind zur Zeit auf der Suche nach ihm. Wir glauben nicht, dass er mit dieser Tat beziehungsweise den anderen Morden etwas zu tun hat. Vermutlich weiß er noch gar nicht, dass seine Freundin tot ist. Es handelt sich bei ihm um einen neureichen Patentbörsen-Junkie. Wäre gut möglich, dass er sich in irgendeiner Beauty-Farm einer Körperflüssigkeiten-Regeneration unterzieht, und somit für ein paar Tage ›weggetreten‹ ist. In jedem Fall, keine Verbindung zwischen ihm und den anderen Opfern«.
»Aber Carambeau, ist das nicht mehr als seltsam? In unserer heutigen Zeit, in der wir uns einer permanenten Überwachung ausgesetzt sehen, unsere Schritte nahezu lückenlos nachzuvollziehen sind, da müssten doch gemeinsame Spuren zu finden sein. Denn, ein Zufall, dass verschiedene Täter, völlig unabhängig voneinander, sich für solch eine Art der Verstümmelung entschließen, steht doch außer Frage, oder?«
»Gewiss«, stimmte Carambeau dem fordernden Patentanwalt zu. »Bedenkt ihr aber auch, die vielen Methoden der Verschleierung. Ihr könnt heute schon für wenige hundert Credits illegale Unternehmen beauftragen, eure Spuren zu verwischen. Gerade Überwachungskameras geben hier ein gutes Ziel ab.«
Sheik Yerbouthi meldete sich zu Wort:
»Ich habe kürzlich ein Paar meiner Jungs belauscht, die sprachen von einer Art Tarnkappe.«
Carambeau nickte bestätigend.
»Auch dieses illegale Mittel kannst du dir relativ leicht besorgen. Es wird in Sprühdosen abgefüllt und gelangt so zum Kunden. Die Person nebelt sich mit dem Zeug von Kopf bis Fuß ein. Der dünne Film ist luftdurchlässig, die Haut kann atmen. Dies ist aber auch das Einzige was durchkommt. Kein Härchen, nicht einmal eine Hautschuppe, bleibt so am Tatort zurück. Innerhalb einer Stunde zersetzt sich das Zeug, und mit dem Mittel werden auch alle Spuren des Opfers, die dem Täter eventuell anhafteten, beseitigt. Nur einmal half uns Kommissar Zufall. Nach einem heftigen Handgemenge hatte ein Mann seine Frau erwürgt. Er behauptete, zur fraglichen Zeit gar nicht Zuhause gewesen zu sein und erfand den berühmten Unbekannten. Uns kam die Sache gleich verdächtig vor, doch obwohl die Leiche zahlreiche Blutergüsse und Schürfwunden aufwies, konnte an dem Mann kein Stäubchen nachgewiesen werden. Allerdings hatte er etwas übersehen. Als wir den Mann von oben bis unten scannten, entdeckten wir ein interessantes Detail. In seinem Barthaar konnten wir ein fremdes Haar lokalisieren, ein Schamhaar.«
Ariel Lieberman räusperte sich sichtlich verlegen: »Nun, das ääh… intime Indiz könnte doch schließlich auch ohne Kampf dorthin gekommen sein.«
»Vollkommen richtig, Ariel. Ist es auch. Nur stammte das Härchen nicht von seiner Frau, sondern von seiner Sekretärin!«
»Uff…«, stöhnte der Finanzbeamte auf.
»Ja, der Biedermann hatte schon seit längerer Zeit ein Verhältnis mit der aufreizenden Dame geführt. Durch die DNA-Datenbanken machten wir die entsprechende Person recht schnell ausfindig. In den meisten Fällen, reicht hier allein die kriminalistische Spürnase, da viele dieser Damen, im engsten Umfeld zu finden sind. Dem Druck des Verhörs hielt die Schöne nicht lange stand. Zudem sah sie es überhaupt nicht ein, ihren Brötchengeber, bei einem Mord zu decken. Denn die Zuneigung für ihrem Chef endete stets mit Beginn des Feierabends.«
»Demnach hat hier das Wundermittel versagt«, stellte Bofinger fest.
»So würde ich das nicht sagen. Der Täter hat sich nur selbst ein Bein gestellt. Er war im Büro bei der Geliebten gewesen und hatte ihr Vergnügen bereitet. Danach kam er auf die Idee, seine Frau abzumurksen und sprühte sich das Mittel auf. Zu diesem Zeitpunkt befand sich dass pikante Detail bereits an seinem Bart. Hätte er das Mittel nicht aufgesprüht, wäre das Härchen vermutlich nicht lange an seinem Platz geblieben. So aber schirmte die Tarnkappe verdächtige Spuren von außen ab und hielt die inneren für uns bereit, nachdem sich das Mittel verflüchtigt hatte.«
»Bei Allah!«, warf der Sheik dazwischen und adaptierte eine Redewendung, »das war ein teures Kamelstündchen«.
»Das kannst du laut sagen, denn es kostete schließlich seinen Kopf, da das Verbrechen in einer Todesstrafen-Zone begangen wurde.«
Das Ende dieser bildhaften Anekdote, wurde von einer Köstlichkeit umrahmt, da Fortunato einen edlen Roten aus dem Piemont hatte auftragen lassen. Auch der Ladyman war entzückt und kraulte sanft den Nacken von Püppi, seinem Hündchen, als ihm ein ähnlicher Fall in Erinnerung kam:
»Weißt du noch, die Ganoven, denen die Jahreszeit einen Strich durch die Rechnung machte? Da ging es doch auch um ein spezielles Mittelchen.«
»In gewisser Weise schon«, bestätigte Carambeau. »Wenngleich es hier eher die Faulheit eines einzelnen war, der die ganze Bande hinter Gitter brachte.«
Carambeau ließ auch diesen Fall kurz Revue passieren, da einzelne Gentlemen damals nicht anwesend waren.
»Damals herrschte ein verdammt strenger Winter. Da kommen den bösen Jungs, die düstersten Gedanken. Ein paar besonders Schlaue waren auf die Idee gekommen, ein Wettbüro auszurauben. Natürlich hatten sie einen genialen Plan. Die Sache lief anfangs auch gar nicht schlecht. Sie hatten den Laden über einen längeren Zeitraum abwechselnd observiert, um ja kein Aufsehen zu erregen. Wäre ihnen der dumme Fehler nicht unterlaufen, hätten uns die Überwachungskameras vermutlich nicht sehr weitergeholfen. Aber am Ende einer Tat, bleibt halt immer noch die Flucht.«
Carambeau gönnte sich einen Schluck vom guten Roten und fuhr fort:
»Ihr wisst, dass wir durch die Aufzeichnungen der Kameras auffällige Verhaltensmuster herausfiltern können. Ein Fahrzeug, dass zu lange vor einem Gebäude steht, eine Person, die stets die gleiche Strecke abfährt oder sonst wie auffällt. Aber daran hatte die Bande gedacht. Das jüngste Bandenmitglied, ein begnadeter Fahrer, sollte kurz vor der Tat ein Fahrzeug stehlen und sich auf Abstand halten. Nach einem vereinbarten Anruf, den die Täter kurz vor Ablauf ihres Beutezuges absetzen wollten, wäre dieser schnurstracks vor den Laden gefahren, hätte die Bande samt Beute eingeladen – und dann, ab durch die Mitte.«
»Ja, aber der Anruf kam nie an«, kicherte Bofinger.
»Wie gesagt, es war ein kalter Wintertag, und der junge Fahrer wollte es sich leicht machen. Es ist ja auch zeitlich nicht gerade förderlich, an einem Wagen, den man stehlen will, erst die Scheiben frei zu kratzen. So entschied er sich für ein geparktes Fahrzeug, das völlig freie Sicht bot. Er konnte nicht wissen, dass der Käufer des relativ neuen Wagens, sein Fahrzeug mit einer innovativen Anti-Haft-Ausrüstung geordert hatte. Die Nacht zuvor, hatte der stolze Besitzer den entsprechenden Schalter am Armaturenbrett betätigt, und so eine hauchdünne transparente Schicht aus Indiumzinnoxid auf das Glas gesprüht. Diese leitfähige Schicht, schützte die Scheibe vor dem Auskühlen, so konnte kein Wasser auf der Außenseite kondensieren oder gefrieren. Doch war dieses Feature vom Fahrer äußerst großzügig eingesetzt worden. Der Gute wollte vermutlich ganz sicher gehen, morgens nichts freikratzen zu müssen. So hatte er die Scheiben gleich mehrmals bedampft. Nicht weiter schlimm, wenn der Wagen am nächsten Tag nicht gerade von einem jungen Mann gestohlen wird, der auf einen dringenden Anruf seiner Komplizen wartet.
Der Dieb saß im Wagen, fuhr durch die Gegend und blickte nervös auf sein Mobilteil. Da endlich, gab der Ohrhörer krächzende Geräusche von sich – Wortfetzen. Er tippte mit dem Finger immer wieder nervös an den Knopf im Ohr, rüttelte und schüttelte dann sein Mobilteil durch. Da meinte er, etwas zu hören. Mit einer Hand steuerte er das Fahrzeug, mit der anderen hielt er krampfhaft das Mobiltelefon fest, als es aus seinem Ohrhörer quäkte: » Zzz… Scheiße!…Zzz… die Bullen kommen … Hau… ab!«
»Der junge Mann, ein glänzender Fahrer, aber wenn’s zur Sache ging, eben noch unerfahren, bekam kalte Füße, gab Gas und flüchtete. Und nachdem ihn seine vor Wut kochenden Kumpels verpfiffen hatten, konnten wir ihn später ohne Probleme einsammeln. Der junge Autodieb hatte nicht wissen können, dass das großzügige Aufspritzen des Indiumzinnoxids, den Empfang des Mobiltelefons gestört hatte. In Wahrheit hatten seine Kumpels, da er nicht antwortete, ins Telefon gebrüllt: Verdammte Scheiße! Los jetzt, bevor die Bullen kommen. Hau bloß nicht ab!«
»Ja, die eisfreie Scheibe ist eine tolle Sache. Ich hatte schon von Berufs wegen damit zu tun«, erklärte ein sichtlich amüsierter Patentanwalt.
Die Gentlemen unterhielten sich noch eine Weile über die beiden Fälle, debattierten über die Nachteile von Barthaaren im Allgemeinen und bei Verbrechen im Besonderen, und legten sich auf passendere Jahreszeiten für Autodiebstähle als den Winter fest.
Carambeau war indessen wieder in Gedanken versunken. Er hatte sich mit den Anekdoten ein wenig Ablenkung verschafft. Aber er wusste, dass ihn das nicht voran brachte. Ja, sicher, es gab Mittel und Wege der Verschleierung, dennoch, mit den Mitteln der aktuellen Kriminaltechnik, MUSSTE ein Täter dingfest gemacht werden können. Gerade, wenn er selbst noch entsprechende Hinweise lieferte. Auch konnte er es nicht verantworten, einfach abzuwarten, bis sich der verrückte Bastard einen groben Schnitzer leisten würde. Der Druck auf Carambeau war enorm.
Es war Urs Hägi, der als erstes wieder das Wort an den Flic richtete:
»Mach uns doch erst einmal mit allen Fakten des Falles vertraut. Dann wollen wir sehen, ob wir gemeinsam weiter kommen«.
Carambeau nickte kraftlos und begann: »In den letzten vier Wochen sind vier Leichen gefunden worden. Bei den Toten handelt es sich um drei Männer und eine Frau. Alle diese Personen wurden mit einem ›Schocker‹ getötet, ergo – Todesursache: Herzstillstand. Allen Leichen wurde post mortem eine Hand abgetrennt.«
»Die Medien berichteten hier von einer Besonderheit, wenn ich mich nicht täusche?«, wollte Lieberman bestätigt wissen.
»Ja, der Frau wurde die rechte Hand abgetrennt, was im Übrigen auch auf zwei der drei toten Männer zutrifft. Dem dritten Mann, allerdings, wurde die linke Hand abgetrennt.«
»Hm… das hört sich so an, als hätte der Täter gewusst, dass es unter den Opfern Rechts- wie Linkshänder gab«, mutmaßte der Patentanwalt.
»Eben nicht«, entgegnete Carambeau. Unsere Nachforschungen ergaben, dass es sich bei der zuletzt gefundene Leiche, der Frau, tatsächlich um eine Linkshänderin handelte. Wie gesagt, ihr fehlte die rechte Hand. Die Männer hingegen waren ALLE Rechtshänder. Trotzdem hat sich der Täter bei einem von ihnen für die linke Hand entschieden.«
»Vielleicht ging der Schurke ja völlig planlos vor«, steuerte Bofinger bei, während er zart über das Fell von Püppi strich.
»Eben das bezweifeln unsere Experten. Bei Ritualmorden sind die Hinweise alle auf ein bestimmten Ziel hin gerichtet. Wir sind sicher, dass uns der Täter, durch die Wahl der Seite, etwas mitteilen will.«
Sheik Yerbouthi nahm einen tiefen Zug aus der Sheesha. Lieberman hielt schon einmal vorsorglich die Luft an. Dann tat der Sheik seine Meinung kund:
»Dieben schlägt man die Hand ab! Schon einmal daran gedacht, Carambeau?«
»Du kannst mir glauben, wenn diese Personen an irgend einem großen Coup beteiligt gewesen wären, hätten wir das längst herausgefunden. Außerdem – ich mache den Job jetzt schon mein halbes Leben. An diesem Fall passt einfach nichts zusammen. Ich habe mich eingehend mit den Lebensläufen der Opfer beschäftigt. Es handelt sich bei allen um typische Durchschnittsbürger. Keine Vorstrafen, keine signifikante Abweichung von der Norm.«
Im Folgenden ging Carambeau näher auf die Opfer ein. Informierte über Alter, familiäre Verhältnisse, Hobbys, Gewohnheiten und gab dies und jenes preis. Dann ging er auf die Tatorte ein, die sich dadurch glichen, dass alle Opfer in angrenzenden Wäldern ihrer jeweiligen Wohnsitze aufgefunden worden waren. In den Wäldern fanden dann auch die von Carambeau im Detail beschriebenen Verstümmelungen statt, nachdem der Täter die Leichen zuvor dorthin verfrachtet hatte. Und am Ende seiner Ausführungen angekommen, merkte der resignierende Flic nochmals an, dass es für ihn zwischen den Opfern keine erkennbare Verbindung gab.
»Demnach doch eher zufällig ausgewählt? Waren die Opfer zur falschen Zeit, am falschen Ort?«, nahm Lieberman den Gedanken von vorhin wieder auf.
»Nein, glaubt mir! Es muss einen Zusammenhang geben. Dieser verrückte Schweinehund hält uns zum Narren, und mir läuft die Zeit davon.«
Die Anmerkung von Carambeau deutete der Bibliothekar durchaus richtig.
»Vier Leichen in vier Wochen. Das lässt nichts Gutes erwarten. Wir sind bereits in der fünften Woche.«
»Ja, dieser verrückte Bastard wird weitermachen, das könnt ihr mir glauben.«
»Es scheint fast, also würde er seine Opfer erst immer einige Zeit beobachten, bevor er zuschlägt«, meldete sich Fortunato zu Wort. »Außerdem würde mich interessieren, was er mit den abgetrennten Händen macht.«
»Vielleicht isst er sie zu Mittag«, antwortete der Sheik.
Bofinger schüttelte sich und blickte angewidert zur Seite.
»Was er mit den Händen anstellt …«, antwortete Carambeau, »… wissen wir nicht. Sie sind bis heute nicht aufgetaucht. Aber …«, dann den Blick zum Sheik gerichtet, »… möglich ist alles.«


Die Gentlemen steckten ganz offensichtlich fest. Der Fall entpuppte sich viel komplizierter als zunächst angenommen. Es wollte sich kein entsprechender Ansatz finden lassen. Der Sheik beharrte auf seiner Diebstahl-Theorie. Dass die Untersuchungen in diese Richtung auch nicht das Geringste ergeben hatten, störte ihn offenbar nicht. Einer der Gentlemen bemerkte, wenn es schon keine gemeinsame Spur gab, vielleicht existierte eine gemeinsame Plattform, eine virtuelle womöglich? Vielleicht hatten sich die Opfer an solchen Orten miteinander verabredet und vergnügt? Doch auch daran hatten die Experten im Team von Carambeau gedacht. Speziell geschriebene Pfadfinder-Programme hatten keinerlei Spuren entdecken können. Die Gentlemen kamen einfach nicht weiter. Sie plapperten und gestikulierten wild durcheinander. Es hatte den Anschein, als wolle man mit allem Nachdruck zu irgendeinem Ergebnis kommen – als Carambeau die Hand hob, und die Gentlemen bat, kurz inne zu halten.
»Wartet, seid mal kurz still, ein Anruf!«
Die Gentlemen hatten davon nichts mitbekommen, da Carambeau sein Mobiltelefon auf Induktionsalarm gestellt hatte. Ein leises Kribbeln in der Magengegend, ausgelöst durch feinste Reizströme des Handy-Hochleistungsakkus, signalisierte den eingehenden Anruf. Mit gewohnter Routine hatte sich Carambeau den Knopf ins Ohr gesteckt und unterhielt sich ganz offensichtlich mit einem Kollegen. Die Gentlemen sahen zu ihm hin und spitzten die Ohren.
»Schon wieder? … Wo? … Mann oder Frau? … Was ist mit ihm? … Wie, eingeritzt? Ja, gut … ich komme dann.«
Der Inhalt des Telefonats war nicht schwer zu erraten, und ein blass gewordener Carambeau bestätigte den Anwesenden:
»Mon dieu, der Schweinehund hat schon wieder zugeschlagen. Allerdings scheint er jetzt völlig durchgeknallt zu sein.«


Carambeau machte keine Anstalten zu gehen. Er wusste, dass die Spurensicherung inzwischen gute Dienste leistete. Insgeheim hoffte er, dass ihm einer aus der Runde doch den entscheidenden Hinweis liefern würde. Doch die Gentlemen tauschten ratlose Blicke aus. Alle wussten, mit jeder gefundenen Leiche stieg der Druck auf Carambeau. Sie machten sich ernsthaft Sorgen um das von allen hoch geschätzte Clubmitglied. Doch es sollte noch schlimmer kommen.
»Was meintest du vorher am Telefon, als du von etwas Eingeritztem sprachst?«, wollte der Bibliothekar wissen.
»Bei dem Toten handelt es sich um einen Mann mittleren Alters. Seine rechte Hand wurde ihm abgetrennt. Sein Hemd war aufgerissen. Nicht ohne Grund. Der Wahnsinnige hat dem Opfer mit einem Messer den Buchstaben ›R‹ tief in die Brust geritzt.«
Ein Raunen ging durch die kleine Gesellschaft.
»Glaubst du an einen neuen Hinweis?«, fragte Bofinger.
»Mon dieu! Darauf kannst du deine Puderdose verwetten«.
»Hmm… ein ›R‹. Interessant! Ich bezweifle aber, dass der Täter so dumm ist, und uns ein Initial seines Namens liefert«, merkte Lieberman an.
»Das ›R‹ könnte für Räuber stehen«, verteidigte der Sheik seine Theorie. »Wie ich schon sagte: Dieben schlägt man die Hände ab!«.
»Es könnte auch ein Hinweis auf das Motiv sein: ›R‹ wie Rache!«, kombinierte der Bibliothekar.
»Recht gut, Urs …«, lobte der Patentanwalt. »… und damit wäre unser Täter sogar international, indem er ›R‹ für Revenge eingeritzt hätte«.
»Ist ja gut, und es funktioniert auch mit Revanche«, kam es genervt von Carambeau, der sich gleich darauf entschuldigte. »Tut mir leid, Freunde, aber es bringt uns nicht weiter. Bei einem Mord, gibt es immer auch ein Motiv. Niemand bringt jemanden einfach nur zum Spaß um. Und die Crux an dieser Sache ist, dass wir selbstverständlich schon in alle Richtungen ermittelt haben. Die Rache! Ja, oft sind es Beziehungstaten. Da gibt es die eifersüchtige Ehefrau, die eine Nebenbuhlerin aus dem Weg räumt. Da ist der Mann, der seine Frau mit einem anderen Kerl im Bett erwischt. Oder aber, der Zorn entlädt sich erst später, wenn der Seitensprung nicht ohne Folgen blieb …«
»Ein Sprichwort sagt, wenn du aus der Wüste heimkehrst, und dein Weib hat um mehr als eine Elle zugenommen, töte den Teppichhändler«, murmelte der Sheik vor sich hin.
Carambeau hatte sich indessen nicht unterbrechen lassen.
»… und, und, und, ihr seht also, es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten und Gegebenheiten. In alle Richtungen haben wir ermittelt. Aber es muss eine Gemeinsamkeit geben. Es ist zum Verzweifeln.«
»Deine Vorgesetzten?«, mutmaßte Richard.
»Wenn es nur das wäre. Nein, es sind die Opfer. Ihre anklagenden Blicke, aus toten Augen, verfolgen mich. Es ist, als sagten sie: Warum konntest du uns nicht helfen? Warum hast du das fehlende Puzzlesteinchen nicht entdeckt? Es lag doch die ganze Zeit direkt vor deiner Nase!
Denn, ihr werdet doch nicht glauben, dass der Schweinehund aufhört. Es werden weitere Opfer folgen, mit entsprechenden Hinweisen versehen. Nicht auszuschließen, dass der Täter sogar gefasst werden will. In jedem Fall, wird er so lange weiter machen, bis ich ihn hinter Gitter gebracht habe.«


Die Lage war brisanter als jemals zuvor in der geselligen Runde. Wie sie es anstellen sollten, wussten die Gentlemen noch nicht. Aber sie mussten dem Freund und Clubmitglied irgendwie helfen. Es war eine Äußerung des Patentanwalts, welche im folgenden dazu führte, dass jener Faktor ins Spiel kam, der es schließlich möglich machte, den Fall zu lösen.
»Was wäre, wenn dieses ›R‹ eine völlig andere Bedeutung hätte. Vielleicht möchte der Täter tatsächlich auf sich hinweisen. Doch nehmen wir an, dass der Buchstabe nicht im Sinne des Individuums verwendet wird. Das Monster wäre folglich keine besondere Laune der Natur, sondern es handelte sich um eine künstlich, aus der Wissenschaft heraus, entstandene Form. Ja – was wäre, wenn dieses ›R‹ für Robot stünde!«
Das hatte gesessen! Es kam selten vor, dass die Gentlemen vor Erstaunen kein Wort heraus brachten. Doch die vom Patentanwalt geäußerte Theorie musste erst einmal verdaut werden. Zu einer Zeit, in der die eigentliche Verdauung noch mit Seebarsch beschäftigt war.
Erneut reagierte der Bibliothekar zuerst:
»Meinst du nicht, Richard, dass du hier ein wenig übers Ziel hinaus schießt? Es ist in der Vergangenheit noch nie zu einem solchen Konflikt zwischen Mensch und Maschine gekommen. Ich denke da vor allem an die eingebauten Sicherungen.«
So leicht ließ sich Richard nicht die Butter vom Brot nehmen.
»Was ist gegen die ›Durchgeknallte-Maschine-Theorie‹ einzuwenden? Ihr habt selbst gehört, dass die Hände der Opfer mit Kraft und sauberem Schnitt abgetrennt wurden. Für einen Robot, entsprechend programmiert, absolut kein Problem. Zwischen den Opfern lässt sich keine Verbindung herstellen. Beliebte Tatmotive wie Habsucht oder Leidenschaft fallen weg. Die wahlweise Abtrennung der Hände ergibt keinen Sinn. Bleibt noch das eingeritzte ›R‹ zu deuten. Ihr seid es doch immer, die behaupten, wir sollten die Blechbüchsen ordentlich behandeln, da sie uns immer ähnlicher werden. Was, wenn so ein Blechkasten tatsächlich durchgedreht wäre. Vielleicht würden ihm dann auch ›kranke‹ Verhaltensweisen anhaften. Vielleicht hätte auch er das Bedürfnis sich uns ›mitzuteilen‹. Ja, verdammt! Ich behaupte, es ist durchaus möglich, dass ein Robot für diese Taten verantwortlich sein könnte.«


Jeder wusste, dass der Patentanwalt für die Robots nicht viel übrig hatte, aber einen von ihnen als Serienmörder hinzustellen. Dies hätte ein absolutes Novum bedeutet, ein Fiasko. Nicht auszudenken, wie die Bevölkerung auf so eine Nachricht reagiert hätte, da die dienstbaren Geister längst Einzug in die Wohnungen der Menschen gehalten hatten. Der Patentanwalt bekam kräftiges Kontra, doch da fanden sich auch unterstützende Worte.
»Noch nie hat ein Robot einem Menschen etwas Böses getan«, empörte sich Ladyman Bofinger.
»Von so einem Fall habe auch ich noch nie gehört«, bestätige Ariel Lieberman. Die eingebauten Sicherheitssysteme, die Urs bereits erwähnt hat und sich direkt von den Robot-Gesetzen ableiten, erfüllten bislang immer ihren Zweck.«
»Pah …«, entgegnete der Sheik. »Ich kenne da ein paar Freaks, die sich in meinem Laden rumtreiben. Einen Monatsumsatz, wette ich. Gebt denen ein wenig Zeit, die knacken jede Sicherung. Und dann flüstern sie eurem Robot lauter verrückte Sachen ins Ohr.«
»Hört sich fast so an, als verbrächtest du selbst die meiste Zeit in deinen Dreamsequenzern«, unterstellte Lieberman. »Irgendwann kannst du zwischen Traum und Realität nicht mehr unterscheiden. Deine Freaks sitzen wohl eher in deinem Oberstübchen als in deinem Laden herum.«
Die Augen des Sheiks nahmen einen merkwürdigen Glanz an. Vielleicht wäre an diesem Abend weit mehr passiert, doch da war zum Glück immer wieder der Gastgeber.
»Liebe Freunde«, schlichtete der Trattoriabesitzer, »beruhigt euch wieder. Ich finde, wenn einzelne von euch die Robots verdächtigen, sollten wir auch einem die Gelegenheit geben, für diese zu sprechen.«
Jeder in der Runde wusste, was folgen würde. Längst gab es da einen, der weit mehr war, als nur der angestellte Diener. In der Ecke, in seinem kleinen Alkoven, stand Roberto. Dorthin zog sich der dienstbare Geist stets zurück, wenn alle Arbeiten verrichtet und die Gäste ausreichend versorgt waren. Als sein Name fiel, war aus dem kleinen Flackern des Ladevorgangs ein Leuchten geworden, und Roberto öffnete die Sehschlitze.
»Wenn die Gentlemen es wünschen, würde ich mich gerne an der Lösung des Falles versuchen«, klang es mittels künstlich erzeugter Schallwellen, in sonorem Ton.


Dadurch dass Fortunato den Robot ins Spiel brachte, war auch der Schlagabtausch zwischen Maschine und Patentanwalt eröffnet. Wobei sich die Gentlemen bis heute fragten, ob einige in der Vergangenheit getätigten Äußerungen Robertos lediglich auf logisch denkenden Konstrukten basierten, verknüpft mit künstlich antrainierten, menschlichen Verklausulierungen, oder ob Roberto tatsächlich etwas schelmisch Durchtriebenes, dabei nie wirklich böse Wirkendes, in und an sich hatte, welches nicht von menschlicher Programmierung stammten konnte. Nur, woher dann?
Zuerst tat Roberto etwas für ihn recht Ungewöhnliches. Er ersuchte um Hilfe.
»Master Carambeau, um den Fall zu lösen, ist es nötig, Zugriff auf speziell gesicherte Datenbanken zu erhalten. Dürfe ich Sie bitten, mir diesen Zugriff zu gewähren?«
Der ›alte‹ Carambeau hätte voller Kraft und Tatendrang widersprochen. Er hätte etwas gesagt, in der Form, dass auch er Roberto ins Herz geschlossen hatte, ihm nichts Böses wünschte und seiner Art auch nicht unterstellte. Er hätte ihm gesagt, dass dieser Fall doch eine Nummer zu groß für ihn sei. Er hätte bemerkt, dass die Fälle, bei denen er in der Vergangenheit eine bedeutende Rolle gespielt hatte, amüsant, aber eher harmlos gewesen waren. Ja, er hätte all dies zu ihm gesagt. Doch in Wahrheit fühlte sich Carambeau kraftlos. Zeit, halt still! Keine neue Woche. Keine weiteren Anrufe des Kollegen.
So trat Carambeau an den Robot heran, gab die entsprechende Ziffernfolge ein und bestätigte mit einem Blutstropfen.
»Ich danke ihnen, Master Carambeau.«


Eine ganze Weile tat sich gar nichts. Roberto hatte seine Sehschlitze geschlossen und schien außer Betrieb gesetzt. Sheik Yerbouthi sog mit stoischem Gleichmut an seiner Wasserpfeife, Ariel Lieberman tupfte sich mit einem Taschentuch kleine Schweißperlen von der Stirn, Urs Hägi hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und dachte nach. Auch Carambeau schien in Gedanken versunken. Keine schöne Welt, die sich da vor ihm auftat. In letzter Zeit, zu viele böse Träume. Ladyman Bofinger änderte urplötzlich, als Zeichen der Anspannung, die Haarfarbe von Platingold ins Tizianrote. Der Patentanwalt stopfte abwartend die Meerschaumpfeife, ohne der Aktion besondere Beachtung zu schenken, da er den Robot genau fixierte. Es konnte nicht mehr lange dauern, dann würde Roberto seine Ergebnisse liefern und der Schlagabtausch konnte beginnen. Rechtzeitig, um zu schlichten, würde sicher auch Fortunato wieder zur Stelle sein, der kurz nach draußen gegangen war, um sich der ordinären Kundschaft zu widmen. Doch es dauerte gut zwanzig Minuten, bis sich dann, in unendlicher Langsamkeit, die Sehschlitze der Hochglanzeinheit öffneten.
Zuvor, während der langen Zeit des Wartens, hatten die Gentlemen zunächst geschwiegen. Schließlich war es der Mensch gewohnt, dass die Maschine äußerst schnell und effizient arbeitete. So erwarteten alle ein schnelles Ergebnis. Erst als die Gentleman realisierten, dass es länger dauern würde, war wieder Leben in die Runde gekommen. Es wurde heftig spekuliert: Weshalb es so lange dauerte. Wie der Robot seine Suche gestalten würde und ob das Ergebnis befriedigend wäre. Und man erkannte schnell: Das Problem an der Suche, war die Suche selbst!
Der Bibliothekar blickte zu Carambeau hin: »Er wird Unmengen an Daten sichten müssen. Es wird die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen sein.«
»Weit schlimmer, Urs! Da er keine Ahnung hat, wonach er sucht, seine Suche demnach nicht eingrenzen kann. Es wird so sein, als müsste er einen bestimmten Kieselstein unter den Gebirgsmassen des Mount Everest hervorzaubern.«
Carambeau hatte den Vergleich bewusst gewählt. Ein Heuhaufen konnte immerhin problemlos durchwühlt und in seine Einzelteile zerpflückt werden. Mit etwas Glück, einem ordentlichen Magneten und dem Arbeitstempo einer Maschine, war die Nadel bald zu finden. Das Gebirge hingegen war bis auf die äußere Schicht massiv. In den Berg vorzudringen, stellte das eigentliche Problem dar.
Der Robot musste einen Datensatz finden, der eine Verbindung zwischen den Opfern darstellte. Dies war innerhalb Deutschlands schon schwer genug. Doch wer sagte, dass der ›Kieselstein‹ nicht irgendwo in Europa, einem anderen Kontinent oder gar auf einer der Außenbasen zu finden war? Und hier stellte sich das Problem des Zugriffs. Sicher, es gab internationale Abkommen, die es ermöglichten, auf fremdländische Daten, Zugriff zu erhalten. Das funktionierte im Allgemeinen auch ganz gut. Man hatte längst erkannt, dass das organisierte Verbrechen global agierte, und der Datenschutz zurückstecken musste. Dennoch benötigte man für den Zugriff einen begründeten Verdacht. Wenigsten den Hauch einer Spur. Denn aufs Geratewohl sämtliche Daten einer Nation zu durchforsten, quasi Intimstes auszuspionieren, dies war natürlich tabu. Was also, wenn sich das Puzzlesteinchen innerhalb des Bergmassivs verbarg? Nein, Carambeau hatte wenig Hoffnung, dass die Suchaktion Robertos von Erfolg gekrönt sein würde. Sollte der Robot tatsächlich einen Zusammenhang finden, würde er den Hut vor ihm ziehen müssen. Und in seiner momentanen Lage, hätte er dies liebend gern getan.
In etwa diesem Moment seiner Überlegungen hatte Carambeau gesehen, wie sich die Sehschlitze von Roberto nach oben bewegten.
»Ladyman Bofinger, verehrte Gentlemen …«, sagte der Robot in sonorem Ton, »… ich darf ihnen mitteilen, dass ich den Fall gelöst habe.«


Dass die Gentlemen lediglich erstaunt über die gemachte Aussage waren, wäre die Untertreibung des Jahres gewesen. Carambeau war als erstes aufgesprungen. So als hätte ihn die Last des unaufgeklärten Verbrechens zu höherer Gravitation verdammt gehabt, die nun, angesichts dieser Nachricht, von ihm abfiel, war er hochgefahren und stand aufrecht da. Seine Körperspannung war zurückgekehrt. Sie zeugte von jenem starken Willen, den die Gentlemen eigentlich von ihm gewohnt waren. Sollte das wirklich möglich sein? Hatte der Robot des Rätsels Lösung gefunden?
»Mon Dieu, Roberto, sprich! Was hast du herausgefunden?«
Roberto wirkte, als könne er die ganze Aufregung nicht verstehen, da er es als das Normalste der Welt ansah, den Gentlemen zu helfen. Allerdings wusste er auch, um die Ungeduld des Humanoiden.
»Die Gentlemen mögen mir verzeihen, dass ich sie so lange warten ließ. Es lag nicht an mir, sondern dem menschlichen Faktor. Den Täter hatte ich schnell gefunden. Zeit benötigte seine Geschichte, die er mir erzählte und somit Licht ins Dunkel brachte. Ferner sollte er mir auch noch das Geständnis unterschreiben, das ich vor Ort ausdrucken ließ. Denn, nachdem er mir alles erzählt hatte, war ich mir sicher, dass er dies tun würde.«
»Du … hast ein unterschriebenes Geständnis?«, Carambeau wusste nicht, ob er wach war oder träumte.
»Ja, Master Carambeau. Hier ist es.«
Wieder kam heftige Unruhe in die Truppe, als der Robot ein Dokument aus der seitlichen Öffnung seines Körpers ›zauberte‹ und es dem verdutzten Flic reichte.
»Bei dem Täter handelt es sich um einen gewissen Eduard Furlan«, sagte der Robot. »Er wird in seiner Wohnung auf sie warten. Sie brauchen sich nicht zu beeilen. Er kann nicht fliehen. Sein momentaner … Zustand lässt dies nicht zu.«
Carambeau überflog das Geständnis mit ungläubigem Gesichtsausdruck. Ohne Zweifel hatte eine Person namens Eduard Furlan die Taten gestanden. Carambeau überlegte.
»Ich mag kein so gutes Gedächtnis haben wie du, Roberto, aber ich bin mir sicher, dass ich diesen Namen zum ersten Mal höre«.
»Dem wird auch so sein, Master Carambeau«, mutmaßte der Robot. »Hingegen bin ich mir sicher, wären ihnen alle Details des letzten Opfers bekannt gewesen, hätten sie selbst entsprechende Schlüsse gezogen. In der Tat, bei diesem Fall war es das größte Problem, die Suche einzugrenzen.«
»Demnach hast du gehört, über was wir uns vorhin unterhielten, als du …ääh weggetreten warst?«, wollte der Patentanwalt wissen.
»Selbstverständlich, Master Lester …, antwortete Roberto, »… Multitasking mag für sie, als Menschen, ein Problem darstellen, ich kann problemlos mehrere Aufgaben erledigen.«
»Und weshalb hast du dann deine blöden Sichtfenster so theatralisch geschlossen?, schnaubte der Angesprochene hinterher.
»Dies war nur als Amüsement für die Gentlemen gedacht, um zu signalisieren, dass ich mich ganz in den Fall vertiefte. Wenngleich ich bemerken darf, dass ich mit einem Minimum meiner Kapazität auskam.«
»Ist ja gut jetzt, also … weiter, weiter!«, forderte ein sichtlich genervter Patentanwalt.
»Als ich meine Sichtfenster geschlossen hatte, lernte ich zuerst alles Wissenswerte über Serien- und Triebtäter. Die einschlägige Literatur war schnell durchforstet und ich konnte mich den Polizeicomputern widmen. Im Bruchteil einer Sekunde hatte ich alle Daten und Bilder der Opfer eingesehen. Da entdeckte ich, auf dem Foto des letzten Opfers, den entscheidenden Hinweis. Diesen eingeritzten Buchstaben, der den Gentlemen so viel Kopfzerbrechen bereitete.«
Der Patentanwalt musste einfach dazwischen quasseln. Es war ihm schon unangenehm genug, dass es den Anschein hatte, als habe der Robot den Fall gelöst.
»Wer weiß, vielleicht tischt du uns hier wieder eines deiner konstruierten Szenarien auf. Vielleicht gibt es gar keinen Eduard Furlan. Wie willst du denn, allein vom Aussehen eines Buchstabens, einen Fall ableiten?«
»Entscheidend war nicht der Buchstabe, Master Lester, sondern der Platz, wo er zu finden war. Eingeritzt, direkt über dem Herzen des Toten.«
»Spielt denn das eine Rolle?«, wollte Lieberman wissen.
»In einschlägiger Literatur war nachzulesen, dass ein solcher Täter, gerade wenn es um Hinweise geht, nichts dem Zufall überlässt. Es musste demnach einen Grund geben, weshalb er das ›R‹ direkt über dem Herzen einritzte. Das Herz steht beim Menschen im Allgemeinen als Symbol – für die Liebe.«
»Dann waren es doch alles Beziehungstaten, und die Opfer kannten sich?«, fragte Carambeau ungläubig nach.
»Nein, Master Carambeau, die Opfer sind sich tatsächlich nie begegnet. Wenngleich sie sich so nahe gestanden haben, wie es, vom Platz her gesehen, nur möglich war.«
»Teufel noch mal, sprich nicht in Rätseln zu uns, hörst du!«, mahnte Richard.
»Und du, unterbrichst ihn nicht!«, kam es hinter einer Wolke aus Qualm hervor. Da gehorchte selbst ein Patentanwalt.
»Die Art der Tötung«, fuhr der Robot fort, »brachte mir weitere Erkenntnisse. Die Morde selbst erfolgten unblutig. Durch den ›Schocker‹, der den Herzstillstand auslöst, wird der Mensch regelrecht gefällt, gerade wie der Baum, der in früheren Zeiten Großprojekten zum Opfer fiel.«
»Gelobt sei das reformierte Artenschutzgesetz«, tat ein Paradiesvogel seine Meinung kund.
»Ich pflichte ihnen bei, Ladyman Bofinger. Doch zurück, zum Fall. Es schien mir ungewöhnlich, dass ein Täter, der seinen Opfern post mortem eine derartige Behandlung zu teil werden lässt, so unblutig killt! Hätte er den Opfern die Kehlen durchgeschnitten oder sie mit einer Axt bearbeitet, hätte dies eher ins Bild eines blutrünstigen Ungeheuers gepasst. Ich erkannte ein perfides doch unstimmiges Gefälle, zur Verstümmelung hin. So unblutig die Tötungen waren, desto blutiger stellte sich das Verhalten des Täters nach den Morden heraus. Das konnte kein Zufall sein.«
»Und wohin hat dich deine Reise in menschliche Abgründe geführt«, wollte Carambeau wissen, der vermocht hätte, eine Ode über den menschlichen Abyssal zu singen.
»Zu einem Drama, Master Lester. Ich verknüpfte bei meiner Suche Begriffe, wie Liebe – Schmerz – Drama – Tragödie mit dem vorgefundenen Buchstaben ›R‹. Wobei ich den Buchstaben, von der Wertigkeit her, höher setzte. Im Gegensatz zum Liebessymbol Herz, schien mir der Buchstabe ›R‹, im Hinblick auf den Täter, definierter. Ein befriedigendes Ergebnis war schnell gefunden.
Der Bibliothekar meldete sich zu Wort. Als belesener Mensch wusste er um die Dramen dieser Welt.
»Mein lieber Roberto, wenn du die Liebe ins Spiel bringst, ein Drama hinzufügst und das Ganze mit dem Buchstaben ›R‹ garnierst, wird dir vermutlich jeder zweite, dein Rätsel mit Hilfe von Shakespeare lösen: R – wie Romeo!«
»Bravo, Master Hägi, richtig erkannt. Wenngleich William Shakespeare diese Geschichte einer großen Liebe gar nicht erfunden hat. Nach meinen Recherchen müssen hier zwei Autoren der italienischen Renaissance genannt werden: Matteo Bandello und Luigi da Porto. Doch einerlei, dies war die Spur, die es zu verfolgen galt.«
Dem Patentanwalt fiel vor Erstaunen fast die Meerschaumpfeife aus dem Mund.
»Bei allen Moriartys dieser Welt, was zum Teufel hat eine Schnulze, wie die von Romeo und Julia, mit diesem Fall zu tun?«
»Raum und Zeit, Master Lester! Nachdem ich die Spur aufgenommen hatte, nahm ich zunächst Kontakt mit Commissario Fontanelli auf, der zuständig für Datenanfragen aus unserer Region ist. Master Carambeau und der Commissario kennen sich, so richtete ich zunächst Grüße aus.«
»Danke, sehr aufmerksam von dir«, bemerkte der verdutzte Flic.
»Dies hatte seinen Grund, Master Carambeau. An Ruhm liegt mir nichts. Bei einem Erfolg meinerseits, sollte die Aufklärung des Falles alleine ihnen zugeschrieben werden.«
»Ach, wie groooßzügig«, nölte der Patentanwalt dazwischen.
»Sei doch einfach still, du alter Nörgler«, kam es vis-à-vis von Bofinger.
»Ich erzählte dem Commissario, dass ich in ihrem Auftrag alles Wissenswerte zum Thema Romeo und Julia in Erfahrung bringen sollte. Wie üblich, wurde mir ein Partner-Programm zur Seite gestellt, das dafür sorgen sollte, dass ich mich nur in vorgegebenen Daten-Bahnen bewegte. Das Partner-Programm im Nacken, lernte ich in Sekundenbruchteilen alles, was es über Romeo und Julia zu wissen galt. Ich verknüpfte das Erlernte mit den Daten der Opfer – und siehe da, hatte ich alle beisammen.«
»Mon dieu, Roberto! Du hattest doch vorhin erwähnt, dass sich die Opfer nie begegnet sind.«
»Korrekt, Master Carambeau. Doch ich erwähnte ebenfalls die Begriffe: Raum und Zeit! Als ich die Datenbänke durchsah, führten sie mich hin, zu einem bestimmten Platz. In der Tat, fanden sich alle Opfer auf diesem Platz ein, sogar an derselben Stelle …«
»Doch nie zur gleichen Zeit«, vollendete der Flic den Satz.
»Sehr scharfsinnig, Master Carambeau, denn – so war es.


Meine Reise durch die ausländischen Datenbahnen hatte mich direkt ins schöne Verona geführt. Genauer gesagt, in einen Hinterhof der Via Cappello No. 23. Dort verglich ich in Windeseile neben anderen Daten auch metrische Gesichtsmerkmale der letzten Wochen und Monate, und gelangte so zu meinem Ergebnis. Durch Credit-Abbuchungen für Eintrittskarten und Souvenirshops, sowie den Bilddateien der Kameras, ließ sich feststellen, dass sich alle Opfer in jenem Hinterhof des Palazzo Capuleti eingefunden hatten.«
»Und was ist an diesem Hinterhof in dieser Via Dingsbums so besonderes?«, wollte der Patentanwalt wissen. Dann fügte er noch an, dass man schließlich nicht alles wissen könne, und man hier sei, um Kriminalfälle zu besprechen, keine Liebesschnulzen.
»Darf ich ihm antworten«, bat der Bibliothekar.
»Immer wieder gerne, Master Hägi«, antwortete der Robot.
»In der Via Cappello, im Hinterhof des Palazzo Capuleti, ist jener Balkon nachgebildet, von dem aus Julia ihrem Romeo ewige Liebe schwor. Auch dieser Ort ist heute leicht virtuell zu bereisen. Dennoch ist der Originalschauplatz ein beliebtes Ausflugsziel für Touristen. Es war somit nur logisch, dass Robertos spezielle Suchabfrage nach Verona führte. Aber was die Morde hiermit zu tun haben, wird uns Roberto hoffentlich gleich verraten. Ich bin jedenfalls gespannt.«
»Nicht nur du«, bekräftigte der einzig wirkliche Romantiker am Tisch, während Püppi, auf seinem Schoß, längst eingeschlafen war.
»Das Leben schreibt mitunter die traurigsten Drehbücher. Dies sollte auch Eduard Furlan erfahren. Furlan, durchaus als wohlhabend zu bezeichnen, hatte das Glück, im Sinn von Liebe und Zuneigung, nie erfahren. Menschliche Kontakte beschränkten sich bei ihm auf Oberflächlichkeiten. Belanglose Unterhaltungen, auf niedrigem Niveau. Das Schlimme daran, er war sich dessen auch bewusst. Das änderte sich erst, als er wieder einmal das schöne Italien bereiste.«
Fortunato huschte ein verträumtes Lächeln übers Gesicht.
»Es gibt beim Menschen die Redewendung ›wie vom Blitz getroffen‹ sein. So in etwa muss sich Furlan gefühlt haben, als er seiner ›Julia‹ begegnete. Die Schöne hieß auch noch Giulietta Barolo. Furlan, der Italien schon des öfteren bereist und zudem virtuelle Sprachkurse besucht hatte, konnte sich mit Giulietta recht gut verständigen. Die Sprache der Liebenden ist ohnehin sehr einsilbig. Es sind die Blicke und flüchtige Berührungen, die mehr sagen, als tausend Worte. Die beiden verbrachten eine unbeschwerte Zeit miteinander. Sie waren so sehr verliebt, dass es ihnen gar nicht in den Sinn kam, sich jemals wieder trennen zu müssen. Furlan hätte jederzeit sein Hab und Gut verkaufen und zu ihr ziehen können. Im Gegenzug wäre sie, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, mit ihm gegangen, wenn er es von ihr verlangt hätte.
Und Furlan änderte sich. Seine Bekannten hätten ihn in der kurzen Zeit nicht wiedererkannt. Optisch ja, vom Wesen her, nein. Giulietta machte ihn mit der Welt der Romantik und tiefen Gefühlen vertraut. Zusammen besuchten sie die Arena, lauschten den Klängen und blickten auf holographische Sphingen der ›Aida‹. Sie schlenderten verliebt, an Obst- und Gemüseständen vorbei, unter gestreiften Markisen hindurch, über die ›Piazza delle Erbe‹. Selbst die Scaligergräber konnten ihrer guten Laune keinen Abbruch tun. Doch ihr liebstes Ziel war stets dieser Hinterhof in der Via Cappello No. 23. Hier war das Symbol ihrer Liebe zu finden.«
»Ach, wie romantisch«, säuselte Bofinger. »Haben die dort ein großes Herz aufgestellt?«
»Nein, Ladyman Bofinger, wie Master Hägi bereits erwähnte ist im Hinterhof ein Balkon angebracht worden. Im Hof selbst, da steht sie dann – eine Bronzestatue der Julia. Es wurde zum täglichen Ritual der Verliebten, der Statue einen Besuch abzustatten. Auch hiervon habe ich Bildmaterial gesehen. Giulietta Barolo sah der originalen Julia tatsächlich ähnlich. Leider ist in meiner momentanen Ausstattung kein Beamer integriert, sonst könnte ich entsprechendes Bildmaterial an die Wand werfen.«
Fortunato beeilte sich etwas hinzuzufügen, denn er wusste, was man von ihm erwartete: »Ich bedaure, liebe Freunde, aber ihr könnt sicher sein, bis zum nächsten Kriminalrätsel, sollte es eines geben, verfügt Roberto über diese Zusatzausrüstung.«
»In der Art«, fuhr der Robot fort, »wie Furlan die Bronze-Statue ansah, kam es einem so vor, als würde seine Giulietta mit dieser verschmelzen. Und Furlan selbst, mutierte zu ihrem Romeo.«
»Aber was, zum Teufel, hat diese Liebesgeschichte mit den Morden zu tun«, trompetete ein ungeduldiger Patentanwalt dazwischen.
»Das Unglück, Master Lester, steuerte in Gestalt von Bobby Calhoun auf die Liebenden zu. Bobby hatte das College recht erfolgreich hinter sich gebracht, und so spendierten ihm die Eltern, einen Trip nach Europa. Für Bobby war es die erste große, nicht virtuelle, Reise, und der junge Mann ließ sich ein wenig treiben. Bereits am ersten Tag hatte er Anschluss an eine trinkfreudige Clique gefunden, die es verstand, Feste so zu feiern, wie sie fallen. Bobby trank Zuhause nie viel Alkohol, und an Wein war er schon gar nicht gewöhnt. An diesem Abend hatte ein Mädchen aus der Clique Geburtstag und Bobby wollte vor ihr nicht als Weichei dastehen. So beklagte er sich nicht, als immer wieder nachgeschenkt wurde. Irgendwann wurde ihm übel und er erkannte, dass ein Erbrechen weit peinlicher wäre, als kurzerhand einfach das Weite zu suchen. Als er die nächtliche, laue Luft in seine Lungen sog, entfaltete der tückische Alkohol seine volle Wirkung. Peinlich war dem jungen Mann längst nichts mehr. Er wollte nur noch zu seiner nahe liegenden Unterkunft kommen. Dabei wunderte er sich, weshalb die Gassen mal breiter, dann schmäler, dann wieder auf dem Kopf stehend, daherkamen. In einer Nische übergab er sich und fühlte sich für einen Moment lang besser. Reiß dich zusammen!, flüsterte er sich zu. Es ist nicht mehr weit. Ein paar Straßen noch, dann über die Brücke und du hast es geschafft. So war er dann mehr schlecht als recht losgestapft«.
»Hast du das alles mit den Überwachungskameras nachvollzogen, interpretierst du hier, oder was wird das?«, wollte der Patentanwalt wissen.
»Diese Eindrücke stammen von Bobby Calhoun selbst, Master Lester. Aus den Akten der damaligen Gerichtsverhandlung und selbstverständlich nahm ich auch wieder Einblick auf Bildmaterial im Gerichtssaal.«
»Was denn nun wieder für eine Gerichtsverhandlung?«, der Patentanwalt raufte sich die Haare.
»Als sich Bobby auf dem Heimweg befand, kam ihm ein Pärchen entgegen. Ein Pärchen, so verliebt, wie am ersten Tag. Bobby hatte sich wirklich am Riemen gerissen, war er doch schon auf der ›Ponte Scaligero‹. Das Pärchen, das ihm entgegenkam, beachtete ihn gar nicht. Recht so, dachte er sich. Bald hab ich‘s geschafft. Und in Zukunft, bestimmt nie wieder einen Tropfen Alkohol. Doch dem Alkohol gefielen Bobbys Worte nicht, und er verknotete seine Beine. Als Bobby in Höhe des Pärchens war, stolperte er, wollte sich noch abfangen, sein Gleichgewicht zurückgewinnen, doch sein Ausfallschritt verschärfte das Tempo noch. Und mit der ganzen Wucht seines Körpers, prallte er gegen die zierliche Gestalt von Giulietta Barolo.
Furlan hätte in jedem Moment sein Leben für Giulietta gegeben. Er hätte Giulietta vor einem noch so übermächtigen Gegner, bis zum Tode, verteidigt. Aber, nachts auf einer Brücke, die Liebende im Arm, völlig in Gedanken versunken, in romantische Atmosphäre getaucht, da machte ihm ein betrunkener Tourist, aus Huntsville, Alabama, einen Strich durch die Rechnung. Durch den Aufprall entglitt Giulietta seinen Händen, da er sie eh stets sanft nur in Armen gehalten hatte. Giulietta Barolo fiel so unglücklich, seitlich mit dem Hals gegen das Brückengeländer, dass zumindest sie, nicht zu leiden hatte.
Ganz anders sah es für den diesseitig gebliebenen Furlan aus. Es war ein grauenvolles Bild, dass ich der entsprechenden Aufzeichnung entnehmen konnte, da mir auch die Nachtbildkameras gute Ergebnisse lieferten: Ein Bobby Calhoun, der sich mühsam aufrappelte, und sich der Tragweite seines Ausrutschers noch gar nicht bewusst war. Ein am Boden kniender Furlan, dem ein Schmerzensschrei aus der Kehle fuhr, so laut und eindringlich, dass die Anwohner aus Furcht eilig die Fenster schlossen. Während Furlan ein zartes, lebloses Geschöpf in Händen hielt, dessen morbide Schönheit selbst im fahlen Mondlicht noch hell erstrahlte. All dies Unglück, in einer schönen, lauen Nacht in Verona.«


Die Geschichte hatte die Gentlemen sichtlich ergriffen, selbst der Patentanwalt schwieg still.
»Was folgte, war eine Gerichtsverhandlung, in der ein sichtlich am Boden zerstörter Bobby Calhoun immer wieder beteuerte, wie leid es ihm täte. Furlan wusste, dass es ein Unfall gewesen war, so konnte er dem jungen Amerikaner vergeben, nicht jedoch sich selbst. Ein starker Mann, wie er einer war, hatte die zarte Giulietta nicht festhalten können. Furlan sah keinen Sinn mehr im Leben. Der Freitod schien das Naheliegenste für ihn. Und so geschah es – Furlan starb.«
Richard hatte sich wieder gefasst und war im Rennen. Er protestierte aufs Heftigste:
»Holla, was ist denn jetzt los? Dieser Furlan soll tot sein? Wie kann denn ein Toter ein Geständnis unterschreiben? Würdest du uns das mal erklären, ja!«
»Eigentlich ging es für ihn nur darum, ein letztes Mal Abschied zu nehmen, bevor auch er der Welt adieu sagen wollte. Im Übrigen, ein seltsames, menschliches Phänomen. Obwohl es schmerzt, zieht es die Verlassenen an die Stätte gemeinsamen Glücks zurück. Wir sprachen schon von der Bronzestatue im Hinterhof des Palazzo Capuleti. Da stand er also wieder vor ihr, »seiner« Julia. Die Statue, mit den Jahren und durch die Spuren der Zeit, ganz grün geworden. Und an diesem Platz starb Furlan. In diesem Moment, war er nur noch eine leere Hülle. Sein Blick, so tot, als läge er selbst tief in den Scaligergräbern verscharrt. Doch dann geschah etwas. Ein Ereignis, welches ihn letztendlich in den Wahnsinn trieb.
Wer auf die geschmacklose Idee gekommen war, ist nicht überliefert. Vermutlich ein windiger Geschäftsmann. Gerade auch deshalb zieht es Touristen magisch hin, zu diesem Ort. Die virtuellen Reisen mögen ihren Reiz haben, doch will der Mensch seine Welt ›begreifen‹. Schon früh im Leben tastet er sich durch die Welt. Ein erstaunlicher Sinn – der Tastsinn!
»Oh, mein Gott …«, schlug sich der Bibliothekar an die Stirn, »… natürlich, die Statue! Jetzt weiß ich, was passiert ist.«
»Richtig! Die Bronzestatue der Julia, von Kopf bis Fuß in grüne Zeit gekleidet. Doch nicht überall! Ihr rechter Arm und ihre rechte Brust sind ganz blank gewienert. Es geht das Gerücht, wenn ein Mann der Schönen an die linke Brust fasst oder eine Frau den linken Arm berührt, soll dies Glück in der Liebe bringen. Und der ordinäre Tourist grapscht hier gerne zu. Dabei ist er so dumm, dass er, vor ihr stehend, die Seite verwechselt. Es kommt sogar vor, dass ihr vulgäre Personen zwischen die Beine fassen.«
Jetzt stöhnte auch Carambeau auf:
»Mon dieu, ich verstehe, die Leute grapschten SEINE Julia an.«
»Als der Mann, der Furlan gewesen war, aus einiger Entfernung seine ›Giulietta‹ betrachtete und sah, wie hemmungslos sich fremde, gierige Hände an ihr zu schaffen machten, erfand er sich neu. Es war die Wiedergeburt des Romeo, der die Ehre seiner Julia wieder herstellen musste.«
Der Flic hielt bereits die Spule in Händen, nur suchte er noch nach dem passenden Faden.
»Wir kennen nun die Verbindung zwischen den Opfern und haben das Motiv des Täters, aber sag, wie bist du eigentlich auf Furlan gekommen?«
»Durch die Aufzeichnungen der Kameras im Hinterhof. Blitzschnell hatte ich neben den Opfern nach weiteren Gemeinsamkeiten gesucht. Dabei war mir das verliebte Pärchen aufgefallen, dass sich jeden Tag auf dem Platz zeigte. Dann, von einem Tag auf den anderen, keine Spur mehr, von den beiden. Bis zu dem Tag, als ein blasses Gespenst auftauchte, alleine, gebrochen, da ohne die geliebte Partnerin. Wenn sie die hasserfüllten Blicke gesehen hätten, mit denen er die späteren Opfer musterte, wäre ihnen bestimmt ein Licht aufgegangen.«
»Weshalb mussten nur deutsche Touristen dran glauben, keine Amerikaner?«, wollte der Sheik wissen.
»Ja, genau«, schloss sich Bofinger an, »das wäre doch logischer gewesen, gerade wegen Bobby Calhoun.«
»Ich denke, wir sollten bei einem Menschen nicht mit aller Gewalt noch Logik suchen, zumal es sich hier um einen geistig verwirrten handelte. Furlan belauschte die Touristen und konnte seine Landsleute gut heraus hören. Er hat sie im vorbei gehen markiert, und konnte sie so - nach ihrer Rückkehr in Ruhe aufspüren.«
»Und die spezielle Auswahl der Hände ergibt jetzt auch einen Sinn?«, fragte Lieberman nach.
»Wenn sie die Aufzeichnungen gesehen hätten, Master Lieberman, wäre es ihnen bestimmt aufgefallen. Der Täter hatte seine späteren Opfer ja auch beobachtet. Dem Mann und Rechtshänder, war ja die linke Hand abgetrennt worden. Ganz einfach, er konnte an diesem Tag nur mit der linken Hand an die Brust von Julia fassen, da er in der rechten etwas noch Wichtigeres in Händen hielt: Seine Verlobte, für das gemeinsame Urlaubsfoto.
Die Frau, eine Linkshänderin, fasste der Statue mir der rechten Hand an die Brust. Ihr Freund, im Übrigen der vermisste Börsen-Junkie, verlangte von ihr, sie solle der Statue gefälligst auch an die ›Titten‹ fassen. Seine unterwürfige Freundin gehorchte, doch war ihr nicht ganz wohl bei der Sache. Einer anderen Frau, und sei diese auch aus Bronze, an die Brust zu fassen. So benutzte sie unterbewusst ihre ›andere‹ Hand. Übrigens, gehörte ihr Freund zu jenen vulgären Zeitgenossen, die der Schönen zwischen die Beine fassten.«
»Porca miseria!, was hat Furlan dann erst mit ihm angestellt?«
»Dies hat er mir noch nicht verraten, Master Fortunato, wenngleich … Furlan besitzt eine Kette von Feinkostläden und beliefert auch Großveranstaltungen. Ich würde den Gentlemen empfehlen einen DNA-Handscanner mitzunehmen, falls sie vorhaben, das hiesige Oktoberfest zu besuchen. Aber da sie ja eh die exquisiten Speisen von Master Fortunato bevorzugen.«
Der Patentanwalt wurde kreidebleich. Er würde das nie erwähnen, hatte er doch tatsächlich letzte Woche dem Fest einen Besuch abgestattet. Dann versuchte er sich zu beruhigen, da er neben der obligatorischen Maß Bier, nur ein halbes Hähnchen gegessen hatte.
»Aber ich bin mir sicher«, sagte der Robot, »Master Carambeau wird die ›Überreste‹ des Falles noch klären, wenn er sich gleich auf den Weg machen wird.«
Das war ein gutes Stichwort, und der Flic wusste, was er zu tun hatte.
»Mon dieu, Roberto, du bist ein feiner Kamerad. Chapeau! Ich ziehe den Hut vor dir. Sollte jemals wieder jemand in meiner Anwesenheit etwas Schlechtes über euch Robots sagen, bekommt er es mit dem guten Carambeau zu tun.«
Der Patentanwalt gab keinen Mucks von sich. Dann verabschiedete sich Carambeau von allen und machte sich auf den Weg. Er musste jemanden in Gewahrsam nehmen. Eine Person, die einst Eduard Furlan gewesen war, und nun, erneut in Agonie versunken, auf Erlösung hoffte.

Der Rest der Anwesenden war mit dem Ausgang des Abends zufrieden und in bester Laune. Na ja, vielleicht bis auf einen. Der Patentanwalt fand sich völlig demontiert, als Häufchen Elend, vor. Nicht nur, dass er mit seiner ›Durchgeknallter-Robot-Theorie‹ völlig daneben gegriffen hatte. Der Robot legte noch eins drauf, da er letztendlich einen durchgeknallten Menschen präsentierte. Krampfhaft suchte der Patentanwalt nach einer Möglichkeit, sich bestmöglich aus der Affäre zu ziehen. Etwas half immer. Wie wär‘s mit ein bisschen Menschlichkeit? Da konnte der Robot ja schlecht mithalten.
»Na, Freundchen, ich geb‘ ja zu, heute, das hatte schon was. Hast dem guten Carambeau ordentlich unter die Arme gegriffen. Ich denke, für uns schöngeistige Menschen, war der Fall einfach zu eklig. Blockiert einem ja regelrecht die Gehirnzellen. Abgeschnittene Hände, pfui Teufel. Mir ist jedenfalls kotzübel. Aber das kann ein Blechkamerad, wie du, natürlich nicht verstehen! Und, dazu fällt dir jetzt nichts ein – oder?«
Eine lange Sekunde war Stille, dann antwortete der Robot. Nur eine Lichtspiegelung? Aber einzelne Gentlemen hätten schwören können, dass sich an seinem Sprechschlitz, die schelmische Kontur eines Lächelns abgezeichnet hatte.
»Darf ich den Gentlemen jetzt den Nachtisch servieren?«

 

Nach langer Pause mal wieder ‘ne kleine Geschichte (Was nicht unbedingt bedeutet, dass sie besonders kurz ist). :)
Diesmal haben es die ›Gentlemen‹ mit einem Fall zu tun, der ihnen alles abfordert. Kann da am Ende wieder ein Robot helfen?

Viel Spaß bei Lesen wünscht Fugalee Page.

 

Hallo,

mir hat deine Geschichte sehr gefallen. Sie war durchgehen spannend und gut und flüssig erzählt. Hast du eigentlich noch mehr Geschichten mit den Charakteren des Clubs. Es liest sich nämlich so, als müsste ich als Leser die irgendwo bereits kennen, so ich auf die Idee gekommen bin, dass du mehrere Geschichten mit denen gemacht hast.

Die Idee mit dem Motiv finde ich originell. Und den Verdacht auf die Machenschaften der Roboter so ziemlich witzig, obwohl das Ende mich von der Meinung abgebracht hat "nicht schon wieder böse Roboter". Am Anfang war es für mich etwas schwierig die Fülle der Namen und Charaktere zu behalten, so dass ich im Verlauf der Geschichte mir nur zwei beschriebene Charaktere vorstellen konnte. Dadurch erscheint die ganze Unterhaltung in meiner Phantasie nur zwischen unbekannten Personen und den Roboter. Das finde ich sehr schade.

Gruße Aleksander Eser

 

Hallo Aleksander,

zunächst auch wieder sorry für die verspätete Antwort. Freut mich, dass dir die Geschichte gefallen hat. Und ja, es gibt bereits zwei Geschichten mit den galaktischen Gentlemen. Sie heißen: »Das ovale Fenster« und »Ein perfektes Verbrechen«. Allerdings geht es dort unblutig zur Sache. Wenn du also eher ein Fan von abgetrennten Grabschhändchen bist, werden sie vermutlich nicht nach deinem Geschmack sein. :D

Der Robot ist definitiv nicht böse. Die Gentlemen haben ihn auch längst ins Herz geschlossen, nur rätseln sie manchmal, da der Robot allzu menschliche Züge aufweist.

Dass die einzelnen Personen in deinem Kopfkino nicht funktioniert haben, ist natürlich sehr schade. Ich achte schon sehr darauf, dass auch erkannt wird, wer was sagt. Aber es sind halt doch mehrere Personen. Und gerade in Kurzgeschichten ist oft nicht der Platz, um näher auf einzelne Charaktere einzugehen. Ich muss mal sehen, vielleicht kann ich hier und da noch etwas einfüllen.
OK, besten Dank für die Rückmeldung.

Gruß von F. P.

 

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