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Gutmenschenhöhle
Daniel verbeugt sich, verlässt unter Applaus die Bühne. Ein gelungener Auftritt. Der Text – einfach klasse. Und wie gut er vorträgt. Auch die Performance davor: Horst, der Mann an der Gitarre – Poet, Songwriter und Sänger. Niederrheinisches Platt. Wie gewohnt in seinem Element, spritzig, witzig, doppeldeutig. Oder davor Heiner am Klavier, mit seiner klaren Stimme. Intelligente, gesungene Lyrik. Da ein Elfchen, dort ein Haiku, abschließend ein Sonett. Alles Stücke, die wunderbar zum Thema passen. Romantisierend, verharmlosend, pazifistisch.
Sabine steht von ihrem Platz auf und geht ans Mikrofon. „Vielen Dank, Daniel. Und nun eine kleine Programmänderung. Cordula ist leider erkrankt, aber dafür haben wir Ersatz. Ich bitte Magda Wohl auf die Bühne!“ Sie deutet auf die zweite Reihe und geht wieder hinunter.
Eine ältere Dame tritt zögerlich nach vorne, geht die zwei Stufen hoch, hält dabei zitternd ihr Manuskript in den Händen. Ich erkenne von meinem Platz, dass sie es handschriftlich erstellt hat. Vieles ist durchgestrichen, korrigiert.
„Guten Abend. Ich … bin kurzfristig dazugekommen. Ich hatte im Extraspiegel reingeschaut, und dann fiel mir der Artikel über die Friedensnacht ins Auge. Das habe ich dann genau gelesen und weil da jeder mitmachen kann, ja, da hab ich mich angemeldet.“
Ich wechsle einen kurzen Blick mit Heiner, der neben mir sitzt. Er scheint ebenso wie ich gespannt und überrascht zu sein.
„Ich habe einen Text über Tiere dabei“, fährt Magda Wohl fort. „Meine Gedanken, die ich mir zu Tieren gemacht habe, heißt er.“
Sie kommt zum Rand der Bühne, lässt den Blick über die Anwesenden schweifen. „Wir sind ja hier in einer kleinen Runde und ich hätte gerne, dass mir jeder kurz seine Gedanken zum Thema Tiere mitteilt.“ Sie schaut auf Sabine. „Möchten Sie anfangen?“
„Tiere haben ein Recht darauf, glücklich zu sein“, sagt Sabine.
„Ich mag Tiere, ich habe eine Katze“, sagt Daniel.
Hartmut meint: „Ich mag auch Tiere, habe selber einen Papagei. Einen echten. Es kann immer nur einer von uns in Urlaub gehen. Meine Frau oder ich.“
„Ich dachte er oder sie“, ruft Horst dazwischen.
Allgemeines Gelächter.
Ich sehe, dass Magda Wohl nervös die Finger gegeneinander reibt.
Zwei, drei andere Leute im Publikum machen Bemerkungen über ihre Haustiere, dann äußert sich Horst wieder, diesmal mit ernstem Unterton. „Ich hab schon als Kind keinen Zirkus gemocht, die Tiere im Zirkus. Das gefällt mir ganz und gar nicht.“
Zustimmendes Gemurmel.
Heiner ist es, der den Faden aufnimmt. „Zirkustiere find ich auch schlimm. Wir haben keine Haustiere, bewusst nicht. Ich möchte nicht Herr über ein Tier sein.“
Da mir diese Aussagen gefallen und mir nichts anderes eingefallen wäre, sage ich: „Tiere im Zirkus mag ich auch nicht, wie Horst. Und ebenso wie Heiner möchte ich auch kein Herr über Tiere sein.“
Magda Wohl nickt, umfasst das Mikrofon, wiederholt stichwortartig die Aussagen aus dem Publikum. Ihre Stimme wird leiser und leiser, sie spricht immer langsamer, bis Sabine dazwischenruft: „Und wie geht jetzt Ihr Text?“
„Ja, mein Text …“ Magda Wohl liest vom Blatt ab. „Meine Gedanken, die ich mir zu Tieren gemacht habe. Doppelpunkt.“
Horst dreht sich zu mir um, lächelt. Ich runzle die Stirn.
„Kälber werden schon nach der Geburt von ihren Müttern getrennt. Ferkel von ihren Müttern.“ Sie überfliegt das Blatt. „Lämmer von ihren Müttern … Nein.“ Sie schaut nach vorne. „Ich glaube die nicht. Das … das waren nur Beispiele, es gibt bestimmt noch mehr.“
Magda Wohls Augenlid zuckt. „Die Tiere werden zum Schlachthof …“ Sie macht eine Pause, Tränen laufen ihr über die Wange. „Dort werden sie geschlachtet.“ Es folgen einige unverständliche, stockende, unter Tränen vorgelesene Sätze über Leid und Qual der Tiere. Immer wieder pausiert sie, verliert sich in den Zeilen, wendet das Blatt hin und her.
Magda Wohl ist fertig, bedankt sich. Verhaltener Applaus, als sie von der Bühne tritt. Horst, Heiner und ich schauen uns gegenseitig verdutzt an, blicken ihr hinterher, bis sie in die Stuhlreihe zurückgekehrt ist. Sie verbeugt sich kurz, streicht ihre Kleidung zurecht, und mir scheint es, dass der Applaus etwas zugenommen hat. Ich selber erwische mich dabei, dass ich stärker klatsche. Den Auftritt werden die meisten sicher nicht so schnell vergessen. Doch an ihren Text wird sich wahrscheinlich schon morgen niemand mehr erinnern.
Jetzt kündigt Sabine mich an. Ich stehe auf, halte meine drei kurzen Anti-Kriegstexte in Händen. Menschen hungern, Menschen fliehen, Menschen werden ermordet. Kinder verlieren ihre Eltern und Eltern ihre Kinder. Sehr wohl ein wichtiges Anliegen. Alles gut recherchiert.
Auf dem Weg zur Bühne weiche ich wie zufällig Sabines Blicken aus. Mir steigt Hitze ins Gesicht. Ich war nie im Krieg, habe nie Leid ertragen. Wie lange dauert es, bis meine Texte wieder vergessen sind?