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Gutenachtgeschichte
Gutenachtgeschichte
Vizegeneraldirektor Stephan Opphard saß in seinem ledernen Sessel und studierte die Berichte, die vor ihm auf dem breiten Schreibtisch lagen. Die antike Leselampe spendete ein weiches, gelbes Licht, das die polierte Schreibtischplatte aus massivem Wurzelholz wie eine Insel aus der Dunkelheit des Raumes hob. Hinter dem Schreibtisch erhob sich, noch schwach erhellt, eine der drei hohen Regalwände voller ledergebundener Bücher und großer Schnellhefter mit geschäftlicher Korrespondenz. Die anderen Wände verloren sich bald in den Schatten des weitläufigen Zimmers. In die vierte Wand waren hohe Panoramafenster eingelassen, die einen Blick auf die wolkenverhangene, nächtliche Stadt ermöglichten. Die schweren Regentropfen, die gegen das Glas schlugen, übertönten schon seit mehreren Stunden das Ticken der Standuhr in einer der entfernten Ecken des Raumes, doch Stephan Opphard hatte sich bereits an das unablässige Trommeln gewöhnt und nahm es längst nicht mehr wahr. Vor wenigen Tagen hatte er seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert und sah bei weitem nicht so alt aus, wie er war. Ein teurer, silbergrauer Anzug, der genau zu seinem perfekt geschnittenen Haar passte, verhüllte den wohlgenährten, schweren Körper, an dem die unzähligen Zigarren und Weine so gut wie keine äußerlichen Spuren hinterlassen hatten. Von den inneren Schäden, die ihm die Ärzte jeden Monat auflisteten, wollte er nichts hören.
Das schrille Klingeln des Telephons riss ihn aus der friedlichen Welt der Zahlen und Abrechnungen zurück in die Wirklichkeit. Verärgert legte er die Berichte zur Seite, griff nach dem Hörer und schnauzte ein barsches „Ja“ hinein.
„Guten Abend, Herr Generaldirektor. Ich bin’s, Henry. Ihr neuer Nachtwächter. Ich hoffe, ich störe Sie nicht gerade.“
Mit einem Blick auf den Stapel auf seinem Schreibtisch brummte Opphard: „Doch. Aber nun ist es ja wohl ohnehin egal.“
„Das tut mir wirklich sehr leid“, kam die bedauernde Antwort, „ich wollte Ihnen bloß Bescheid sagen, daß alle anderen schon gegangen sind. Ist ja auch gleich Mitternacht.“ Wie zur Bestätigung erwachte die Standuhr in Opphards Büro zum Leben und gab zwölf dumpfe, hallende Schläge von sich.
Opphard war überrascht. „Schon? Ich habe über der Arbeit wohl die Zeit vergessen.“
„Naja, auf jeden Fall sind Sie jetzt der letzte Mensch im Gebäude.“
„Gut. Dann mache ich auch gleich Schluß. Danke für den Anruf.“
„Gute Nacht, Herr Opphard!“ Wieso Gute Nacht? Achselzuckend legte er den Hörer wieder auf und wandte sich seiner Arbeit zu.
Eine Stunde später legte Stephan Opphard endlich die Papiere zur Seite und rieb sich müde die wunden Augen, bevor er etwas schwerfällig aufstand und seinen Mantel anlegte. Dann klappte er seinen Aktenkoffer zu, setzte den Hut auf und ging gähnend zur Tür. Der Regen trommelte immer noch beharrlich gegen die Scheiben, und irgendwo rollte ein Donner durch die Wolkendecke. Opphard hatte bereits die Klinke in der Hand, als ihm einfiel, daß er noch seine Frau anrufen musste, und er wieder zu seinem Schreibtisch marschierte. Sie würde gar nicht begeistert sein, wenn sie erfuhr, daß er schon wieder die Nacht im Büro verbringen musste. Aber die Arbeit ging nun mal vor. Er grinste. Vor allem, wenn diese Arbeit Inge hieß. Er hielt sich den Hörer ans Ohr und begann die Nummer einzutippen, bis er merkte, daß das Telephon keinen Ton von sich gab. Irritiert untersuchte er die Anschlüsse, drückte mehrmals auf die Gabel und alle vorhandenen Knöpfe. Kein Zweifel, das Telephon war tot. Merkwürdig. Henry hatte doch vor kurzem noch angerufen. Nachdenklich sah er aus dem Fenster, wo ein einsamer Blitz kurz aufzuckte, um sofort wieder zu verlöschen. Dann gab er sich einen Ruck, griff nach seinem Koffer, schaltete das Licht aus und verließ das Zimmer.
Auf dem Gang flammte sofort die Beleuchtung auf, als der Bewegungsmelder ihn entdeckte, und Opphard ging über den mit Teppich ausgelegten Flur zum Aufzug, betrat die offene Kabine und drückte auf den Knopf für das Parkdeck. Nichts geschah. Er drückte die anderen Knöpfe, fuhr mit der Hand durch die Lichtschranke und schlug gegen die Verkleidung. Schließlich trat er wieder auf den Flur und sah sich ratlos um. Es gab keinen Hinweis auf Reparaturarbeiten, kein Schild oder Zettel. Die offene Kabine schien stumm auf ihn zu warten. Zögernd wandte er sich dem Treppenhaus zu und ging los. Er war kaum zehn Schritte weit gekommen, als in seinem Rücken plötzlich ein gedämpftes Fauchen erklang. Opphard drehte sich um und sah noch, wie sich die Türen des Fahrstuhls mit einem harten Schlag schlossen. Es klang seltsam endgültig. Der Korridor lag wieder bewegungslos und in völliger Stille vor ihm. Er hatte plötzlich etwas im Hals und schluckte hart, bevor er weiter zum Treppenhaus ging. Die Tür öffnete sich widerwillig und enthüllte eine schmale Treppe aus grauem, unverputztem Beton und einem leicht angerosteten Stahlgeländer. Ein staubige Glühbirne hing an einem viel zu langen Kabel von der Decke und schien jeden Moment herunterfallen zu wollen. Behutsam schloß er die Tür, wunderte sich kurz über den Gegensatz zu dem hellen, mit Teppichboden belegten Flur und begann vorsichtig mit dem steilen Abstieg.
Drei Stockwerke tiefer stellte er den Koffer auf den Boden und lehnte sich gegen die Wand, um wieder zu Atem zu kommen, schließlich hatte er es normalerweise nicht nötig, Treppen zu steigen. Vizegeneraldirektor Opphard grinste mutig, als er sich mit einem Taschentuch über die Stirn fuhr und an den widerspenstigen Aufzug dachte. Direkt über ihm schlug eine Tür zu und jagte einen metallenen Donner durch das enge Treppenhaus. Die aufgehängten Glühbirnen schwangen im Luftzug und warfen zitternde, hektische Schatten an die Wände und über Opphard. Der Beton schien zu zerfließen und ihn unter sich zu begraben. Mit kalkweißem Gesicht versuchte Opphard seinen flatternden Pulsschlag zu beruhigen und sich einzureden, daß alles nur Einbildung sei. Langsam beruhigten sich die Schatten wieder und mit ihnen seine Nerven.
Immer noch leicht zitternd hob er den Aktenkoffer auf und stieg die letzten Stufen hinab, bis er endlich eine offene Tür fand, das Treppenhaus verlassen und wieder auf einen Flur treten konnte. Er stand am Anfang eines langen, grell erleuchteten Korridors, in den etliche weitere mündeten. Zu beiden Seiten gingen unzählige Türen ab, die alle ein rundes, mit Drahtgitter verstärktes Sichtfenster und Codeschlösser mit matt glimmenden Lichtern besaßen. Opphard wußte sehr gut, wo er war: auf der Forschungsebene. Abteilung experimentelle Gentechnik. Man musste quer durch dieses Stockwerk laufen, um den nächsten Fahrstuhl zu erreichen. Stephan Opphard fasste den Griff seines Koffers fester und machte sich auf den Weg.
Es war totenstill, sogar der Regen hatte aufgehört, und nur seine zögernden Schritte waren zu hören. Er bog in den ersten nach rechts abzweigenden Gang ein und hatte gerade ein dunkles Labor passiert, als die gesamte Beleuchtung kurz und schmerzhaft aufflammte und dann vollständig erlosch. Völlige Schwärze schlug über ihm zusammen und ließ ihn erstarren.
Das Blut rauschte hektisch in seinen Ohren, während er versuchte, durch die bunten Lichtwirbel vor seinen Augen zu sehen. Erst Minuten später war er endlich in der Lage, sich an der Wand entlang vorwärts zu tasten. Seine Beine wollten ihm nicht recht gehorchen, das Hemd klebte ihm unangenehm kühl am Rücken und er stieß sich die Hand immer wieder an Tafeln und Schaltern, die seine Hoffnung auf Licht jedoch genauso oft enttäuschten. Er schien sich kaum zu bewegen, verlor aber trotzdem schon nach kurzem die Orientierung und irrte bald kopflos durch die Dunkelheit.
Plötzlich öffneten sich zwei blutrote Augen vor seinem Gesicht. Er schrak zurück, versuchte in die andere Richtung zu fliehen, doch auch dort glommen die Augen. Er versuchte nicht zu atmen und sich nicht zu bewegen. Sie starrten ihn unverwandt an, leblos, wartend. Dann ging die Notbeleuchtung an, und er konnte die Codeschlösser mit den roten Lämpchen erkennen. Opphard sank erleichtert gegen die nächste Wand und fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn, um den kalten Schweiß abzuwischen, der ihm in die Augen und in den Kragen lief. Die Hauptbeleuchtung war immer noch ausgefallen und die vereinzelten Notleuchten erzeugten bloß ein schwaches, fahles Licht, das einen Großteil des Ganges im Dunkel ließ. Aber er würde immerhin nicht wie ein Blinder umhertasten müssen.
Mit neuem Mut machte er sich wieder auf den Weg. In zehn Minuten würde er draußen sein, in seinem warmen Auto. Inge würde sich köstlich amüsieren, wenn er ihr das alles erzählte. Sie würden etwas trinken, und er konnte sich endlich entspannen.
Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Etwas war hinter ihm über die Fliesen gelaufen. Aber da war nichts mehr. Nur sein eigener pfeifender Atem schwebte durch die Gänge. Opphard sah sich nervös um und schritt etwas schneller aus. Der Aufzug war noch etwa dreihundert Meter entfernt. Er ging um die nächste Ecke, und da war es wieder, ein verstohlenes Tappen, wie von einem Jagdhund, der über Eis läuft. Er sah über die Schulter. Doch der dämmrige Korridor war verlassen und totenstill. Vorsichtig ging er weiter, die Beine waren weich, und er schwitzte wieder. Nur noch zweihundertfünfzig Meter. Noch zweihundert. Plötzlich war es neben ihm, in einem der Gänge, die zu den Labors führten. Er stand wie erstarrt, doch die Schritte kamen näher, lauernd und gefährlich. Er konnte eine schwache Bewegung in den Schatten sehen, wo die Notbeleuchtung ausgefallen war. Dann war es wieder still. Es beobachtete ihn.
Opphard konnte sich nicht bewegen. Ihm war kalt, der teure Anzug klebte ihm am Körper, und der Koffer zitterte heftig.
Langsam, ohne ein Geräusch, begann er, wieder in Richtung Fahrstuhl zu gehen. Er kam ihm unbeschadet fast zwanzig Meter näher, bis die Schritte wieder anfingen. Diesmal überquerten sie den Gang unmittelbar hinter ihm und verklangen in der Dunkelheit. Er stand mitten auf der Kreuzung zweier Korridore, im Lichtkegel einer Lampe, und merkte, daß seine Hände unkontrolliert bebten. Sein Herz pochte krampfhaft, und ihm war schlecht. Eine Ewigkeit lang stand er nur da und hatte Angst. Dann kam aus einem der Flure ein Geräusch. Es klang, als liefe jemand durch Morast, schmatzend und dreckig. Dazwischen immer wieder ein feuchtes Reißen und Tropfen, die auf die Fliesen fielen. Das Ding fraß. Opphard würgte. Die Fressgeräusche verstummten, und es trat eine schier endlose Pause ein. Dann erklang ein tiefes, kaum hörbares Grollen, das durch den Gang rollte, anschwoll und sich langsam zu einem haßerfüllten, tödlichen Knurren entwickelte. Die Schritte begannen wieder und kamen unerbittlich näher. Opphard ließ den Koffer fallen und rannte.
Aus dem Knurren wurde ein drohendes Hecheln, als das Ding die Verfolgung aufnahm. Die Krallen schlugen wie Stahl auf den Boden. Der Fahrstuhl kam in Sicht, Opphard versuchte, noch schneller zu laufen, doch seine Beine fühlten sich an wie verdorrte Äste, und seine Brust wollte platzen. Die Schritte und das Hecheln kamen immer näher. Noch zwanzig Meter bis zum Fahrstuhl. Noch zehn. Das Ding war direkt hinter ihm. Fünf Meter. Er spürte den stinkenden, heißen Atem im Genick und wusste, daß es ihn kriegen würde.
Er schrie, als es ihn ansprang und zu Boden riss. Ein harter Stich traf seine Brust, er bekam keine Luft mehr, die Lunge schien ihm zu explodieren, und es wurde schwarz. Das letzte, was er sah, war die sanft erleuchtete Kabine des Aufzugs.
Als er sich nicht mehr rührte, stieg Henry von ihm herunter und fühlte den Puls. Er war tot. Henry setzte sich erschöpft auf den Boden, atmete tief durch und schnallte sich langsam die Spikes von den Schuhen. Dann holte er den Kassettenrecorder aus dem Seitengang, warf einen letzten Blick auf Vizegeneraldirektor Stephan Opphard und ging zurück zu seinem Nachtwächterhäuschen. Er mußte noch den Sicherungskasten schließen und seine Auftraggeberin anrufen. Tod durch Herzanfall. Er grinste. Wie sie bloß auf diese Idee gekommen war?