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Gute Zeiten, schlechte Zeiten
April 2017
„Kann hier endlich mal ein scheiß' Arzt kommen!“
Obwohl sie schreit, höre ich ihre Stimme wie durch einen Luftschutzbunker.
Ihre Hand liegt auf meiner. „Lilli“, flüstere ich. Alles wird schwarz. Ich werde wach, sehe Umrisse, wie durch einen Schleier; doch sie ist da und redet sanft auf mich ein.
„Alles wird gut. Alles wird gut.“
Ja, vielleicht.
Die Dunkelheit trägt mich wieder davon.
„Sie müssen sich aufsetzen!“
Eine unangenehme Stimme dringt in mein Unterbewusstsein.
Ich will nicht. Ich will hier liegenbleiben und alles vergessen. Und ich bin müde. So müde.
Krakenarme mit kalten Händen ziehen mich unsanft hoch und positionieren mich in eine unbequeme Sitzhaltung. Ein Kissen wird hinter meinen Rücken gelegt. Ich sacke zusammen, wie ein Kutscher, der eingenickt ist, und zwinge mich, meine Augen vollständig zu öffnen. Lillis Gesicht erscheint verschwommen vor meinen Augen.
„Gott sei Dank, dein Kreislauf war total im Keller. Wie geht’s dir?“
Ich kann nicht antworten, nur weinen. Sie streichelt mein Haar, murmelt beruhigende Worte und lächelt mir aufmunternd zu. Niemand anderen hätte ich hier gewollt. Nur sie.
„Frau Wendel, Sie müssen langsam aufstehen und hier raus. Wir sind eine reine Tagesklinik.“
„Und wie sollen wir sie Ihrer Meinung nach hier rausbekommen? Sie ist gerade mal wieder zu sich gekommen. Sie spinnen doch!“
Lillis wütende Stimme wird immer leiser, der Raum verschwimmt, wieder Dunkelheit.
Als ich aufwache, sitzt Richard an meinem Bett. Er nestelt nervös an seinen Fingern. Seine Augen wirken größer als sonst und sein Blick gleitet unruhig durchs Zimmer. Ich will ihn nicht sehen.
„Was macht er hier?“ Ich will auch nicht mit ihm reden.
Er schreckt hoch und starrt mich an. Seine Finger erinnern mich an das Laufrad einer Rennmaus. Ich wende meinen Blick von ihm ab und schaue rüber zu Lilli.
Sie sieht mich entschuldigend an.
„Ich musste jemanden holen. Da ja sonst keiner Bescheid weiß, war er die einzige Option.“
Die einzige Option. Das beschreibt ihn gut.
Richard steht auf und blickt Lilli fest in die Augen.
„Was machen wir jetzt?“
Das hatte er mich vor sechs Wochen auch gefragt. Idiot.
„Du stützt sie. Ich nehme die Sachen und dann schaffen wir sie in dein Auto. Das ist größer. Ich will sie jetzt aus diesem Drecksladen raus haben. Wenn es ihr wieder schlechter geht, rufe ich den Notarzt.“
Dreißig Minuten später liege ich in Lillis Wohnung auf der Couch. Sie bringt mir einen Tee. Unsere Hunde kuscheln sich neben mich auf die Couch. Meine Welt bekommt langsam wieder Farbe.
„Die Suppe ist gleich fertig. Tut mir leid, dass ich Richard geholt habe. Aber ich wollte dich nicht noch eine Nacht in dieser Klinik lassen. Außerdem war das ja wohl das Mindeste, was er für dich hätte tun können. Es war ja auch seins.“
Ja es war seins. Aber jetzt ist es tot.
„Danke für alles. Ich werde dir das niemals vergessen.“
Mai 2017
„Die Sangria ist leer. Wir brauchen Nachschub!“ Ich lief barfuß zu der kleinen Theke unseres Lieblingsbeachclubs auf Mallorca und gab unsere Bestellung auf. Lilli lief mir nach und wir kühlten uns noch einmal im Meer ab, bevor wir zu den anderen zurückkehrten.
Tag drei unseres Wochenendausflugs war einfach nur traumhaft. Obwohl es erst Mai war, hatten wir schon achtundzwanzig Grad und die Insel war nicht so überfüllt wie im Hochsommer. Wir liefen Arm in Arm zu den anderen zurück und nahmen dem Kellner auf dem Rückweg die Sangria ab.
„Wir haben was ihr wollt.“ Unsere Jungs empfingen uns standesgemäß mit lautem Gegröle und wir waren mal wieder richtig peinlich. Aber so waren wir. Eine geschlossene, laute, peinliche aber glückliche Gruppe.
„Warum ist Alex eigentlich nicht dabei?“
„Ruf du ihn mal an, wenn du fragst, dann kommt er schon“, sagte Tim zu mir.
Sein weisses Leinenhemd war halb aufgeknöpft und die Buberry Badehose, über die wir uns immer lustig machten, voll mit roter Sangria.
"Willst du nicht mal ins Meer springen? Oder kurz Duschen? Du riechst wie frisch vom Ballermann." Lilli hielt sie theatralisch die Nase zu und täuschte einen Erstickungsanfall vor.
"Nö, ich ruf jetzt Alex an. Keine Ahnung warum der nicht hier ist."
„Nein, ich ruf ihn an.“
Lilli nahm ihr Handy und ging ein paar Meter Richtung Parkplatz. In unserer Lieblingsbucht, war der Empfang richtig schlecht und wir beobachteten belustigt, wie sie versuchte, ein Signal zu bekommen. Nach ein paar Minuten kam sie zurück.
„Er bekommt keinen Flug, alles ausgebucht an diesem Wochenende.“
„Ach, so ein Blödsinn! Alex kann sich irgendeinen Flug buchen. Oder ein Flugzeug. Am Geld kann es ja nicht liegen.“
Tim war sichtlich enttäuscht.
„Seit wann telefoniert ihr beiden eiegntlich?"
Lilli ignorierte meine Frage und wühlte nach irgendwas in ihrer Strandtasche.
„Er ist bestimmt mit irgendeiner Ische weggefahren und hat keinen Bock auf uns. Typisch Alex.“
Lilli leerte ihr Glas in einem Zug.
„Will noch jemand was? Sonst trinke ich das alleine leer!“
Am nächsten Tag packte Lilli ihre Koffer und reiste zwei Tage früher ab. Ihr Vater hatte eine Aktionärsversammlung einberufen und brauchte ihre Stimme. An Pfingstsonntag.
August 2017
Der heißeste Tag im Jahr. Zweiundvierzig Grad. Wir hatten die glorreiche Idee gehabt, beim Weinfest vorbeizuschauen und saßen nun, träge und verschwitzt, auf schmalen Bierbänken mitten in der Stadt.
„Ist doch scheiße hier. Lasst uns mal lieber zu Alex' Vater in den Garten fahren. Da gibt es wenigstens einen Pool und Schatten.“
Tims weißes Hemd war fast durchsichtig vor Schweiß. Mit der Weinkarte fächelte er sich hektisch Luft zu.
„Und den Weinkeller!“, lallte Julius und alle lachten.
Alex sah mich mit nur noch halbgeöffneten Augen an. Ich kannte diesen Blick. Auch nach acht Jahren brauchte es nur eine halbe Flasche Wein, bis man ihm sein ganzes Unglück ansah. Die Maske des glücklichen, erfolgreichen Jungunternehmers, der achtzehn Stunden pro Tag arbeitete, bröckelte mit jedem Glas Wein ein Stückchen mehr. Obwohl es Hochsommer war, hatte er immer noch keine Bräune. Eine Sonnenallergie sorgte dafür, dass bis auf zahlreiche rote Flecken alles weiß blieb. Den gleichen Effekt wie die Sonne, hatte auch Alkohol bei ihm. Sein Gesicht sah richtig lustig aus mit den Flecken, den blassblauen Augen und dem markanten Kinn, das einen männlichen Akzent in seine sonst eher weichen Gesichtszügen setzte.
„Na gut, alle zu mir.“
Im Haus angekommen, zogen Tim und ich eine Mini-Antarktis aus dem riesigen Tiefkühler und drapierten zahlreiche Weißwein-Flaschen in alle Weinkühler, die wir auftreiben konnten. Kaum hatten wir die Küche verlassen, pirschte Alex sich von hinten an, warf mich mit Leichtigkeit über seine breiten Schultern und rannte trotz meines Schlagens und Schreiens in Richtung Pool. Fluchend stieg ich unter dem Gegröle der anderen aus dem Pool. Mein weißes Sommerkleid war durchsichtiger als Tims Hemd und meine Unterwäsche nicht nur zu erahnen, sondern deutlich sichtbar. Tim und Julius setzten sich auf einen überdeminsionalen Rasenmäher und fuhren mit zwanzig Kilometern pro Stunde durch den Garten. Als ich gerade dabei war, mich in ein rotweiß gestreiftes FC Köln Handtuch einzuwickeln, stand auf einmal Alex' Vater vor mir.
„DU?!“
Oh nein.
Er hatte mir nie verziehen. Diesen Abend vor acht Jahren. Mein fünfundzwanzigster Geburtstag und Alex, der zu meinen Füßen kniete. Rot wie ein Feuerwehrauto. Als er die Fragen aller Fragen stellte, sah ich mein Leben an mir vorbeiziehen. Ich, in einem großen durchdesignten Haus im Kölner Süden. Unsere Kinder, auf der englischen Privatschule. Am Wochenende im VIP Bereich beim FC, um Geschäftskontakte zu pflegen. Hände schütteln, hübsch aussehen, nett sein. Im Sommer dann die traumhafte Wohnung auf Mallorca. Ausflüge mit dem Boot. Und ich abends alleine, in meinem riesigen Haus, mit einer Flasche Rotwein und dem Gärtner als Affäre. Der Blick seines Vaters, als ich ihm das „ja“ verwehrte, hatte sich seit diesem Tag bei mir eingebrannt. Mein Käsekuchen, den er vergötterte, vergessen. Da war nur noch Hass. Sein Lieblingssohn, sein ganzer Stolz. Gedemütigt von mir.
„Hallo, Klaus.“
Er starrte mich immer noch böse an.
„Komm Papa, trink was mit uns.“
Alex hatte die Situation sofort bemerkt und versuchte nun, seinen Vater abzulenken.
Klaus ist genau die Art von Mann, die einfach nur einen Raum betreten muss, um präsent zu sein. Er ist da. Im Zentrum aller Aufmerksamkeit. Die Jungs saßen kerzengerade, mit erhobenem Blick, wie eine Reihe Welpen aus der Hundeschule, und blickten ehrfürchtig zu ihm auf.
"Was tut sie hier?"
Keiner sagt was.
Trockene Klamotten wären jetzt wirklich was tolles.
„Papa, wir sind Freunde. das weisst du doch."
„Tz, Freunde."
Erschüttelte den Kopf und stapfte davon.
„Ich geh mal duschen, wenn ich darf,“ murmelte ich leise in Richtung Gartentisch und hastete schnell ins Haus.
„Alex, hau jetzt ab und lass mich in Ruhe duschen!“
Ich drückte meine Handflächen gegen seinen feuchten Oberkörper und versuchte ihn aus der Dusche zu drängen.
„Hör mir doch kurz zu. Bitte. Es ist auch meine Schuld, dass es nicht mehr mit uns geklappt hat.“ „Ich höre dir jetzt nicht zu! Geh raus!“
Ich hämmerte mit den Fäusten gegen seine Brust, doch er nahm einfach meine Handgelenke, drückte sie nach unten und mich gleichzeitig gegen die Wand.
„Geh weg von mir Alex!“
„Nein, ich will nicht von dir weg. Küss mich. Bitte. Nur einmal noch. Dann lass ich dich.“
Er löste seine Hand von meinem rechten Handgelenk, packte mir ins Haar und presste sich mit seinem Gewicht gegen meinen Körper. Ich stand nun eingequetscht zwischen der Wand und Alex riesigem Körper und konnte mich keinen Millimeter mehr bewegen.
Er konnte mir keine Angst machen. Alex wäre niemals in der Lage, mir was anzutun.
„Lass mich sofort hier raus, oder ich schrei das ganze Haus zusammen.“
Er beugte sich leicht zu mir runter, legte seine Hand auf meinen Hals, und flüsterte mir ins Ohr:
„Komm schon, lass mich!“
Ich spürte seine Fingerspitzen an meinem Kehlkopf und erwartete jede Sekunde, dass er fester zudrücken würde. Doch er ließ seine Finger wo sie waren, und hob mit der anderen Hand mein Kinn, um mich zu einem Kuss zu zwingen und wie von selbst, streckte sich mein Hals seiner Hand entgegen.
Drück zu. Drück fester zu.
Er ließ mich zappeln, drückte mich noch härter gegen die Wand und nahm sich mit seinen Lippen, was er die ganze Zeit gewollt hatte.
Seine Hand um meinen Hals, wurde zu einem Schraubstock, der langsam, aber kontinuierlich den Druck erhöhte.
Der neue Alex, nahm sich was er wollte und gab mir damit genau das, was ich wollte. Es konnte so einfach sein. Ich vergrub meine Fingernägel in seinem Oberarm und drückte mich noch enger an ihn. Obwohl es so lange her war, war es vertraut und doch aufregend, wie beim ersten Mal. Er zog mich an den Oberschenkeln zu sich hoch, trampelte mit mir unbeholfen durch das Badezimmer und warf mich schließlich grob auf das Gästebett.
Irgendwann wachte ich auf. In meinem Traum hatte ich unter einem Wasserfall gestanden, den Mund aufgehalten und das kalte, klare Wasser gierig heruntergeschluckt. Ich hatte definitiv einen Kater. Alex lag mit dem Gesicht zu mir gewandt und streichelte mein Haar. Er sah traurig aus.
„Was ist los?“
Die letzte Nacht lief wie ein innerer Film vor meinen Augen ab. Wir hatten kaum geschlafen. Konnten nicht genug voneinander bekommen. Wie zwei Verhungerte, die sich auf die erste Mahlzeit nach jahrelanger Abstinenz stürzten. Alles war daran richtig gewesen. Vielleicht hatten wir einfach diese Zeit gebraucht. Diese Pause voneinander. Um zu wachsen, groß zu werden, interessant zu werden. Ich hatte sie auf jeden Fall gebraucht. Warum sah er denn nur so unglücklich aus?
„Ich habe dich etwas gefragt. Erde an Alex!“
„Kann das hier bitte unter uns bleiben?“
Ich sah ihn verständnislos an.
„Was, warum? Wegen Klaus? Der beruhigt sich schon wieder.“
Er antwortete nicht direkt, sondern sah nachdenklich zur Decke, seufzte kurz und nahm dann meine Hand.
„Ich date Lilli. Und, sie ist mir wirklich wichtig. Ich will, dass das mit uns klappt. Wenn sie hiervon erfährt, ist alles kaputt.“
Nein. Nicht sie.
Seine Hand fühlte sich wie ein kalter Ziegelstein an. Hastig löste ich meine Finger, schlüpfte in meine noch feuchten Klamotten und rannte verfolgt von seinen Rufen aus dem Haus.