Gute Steffi
Steffi legte die Hände vor ihr Gesicht und fragte sich, wie er so sein konnte. Sie war bei ihrem guten Freund Idna. Ein junger Mann, von gutem Charakter und äußerst spendabel. Er hatte sie mehrfach finanziell unterstütz, als es bei ihr knapp gewesen war. Sie liebte ihn natürlich, nicht nur für seine Großzügigkeit. Vor allem mochte sie seine Art, alles verstehen zu können, worüber sie sich beschwerte. Egal, ob es sich um Probleme mit ihrem Freund handelte oder den Drang, einkaufen gehen zu wollen.
»Ach man, was soll ich nur mit dir machen?«, sprach sie zu ihm. Ihre Stimme offenbarte ihre Verzweiflung und Ratlosigkeit.
Idna saß neben ihr auf der Couch. Sein gesamter Gesichtsausdruck vollbrachte ebenfalls eine Offenbarung. Es schien, als sei dieses Gesicht ein Fenster zu reiner Lebensermüdung und –erschöpfung.
»Sag mir was«, bat Steffi. Sie drehte ihren Kopf zu ihm und nahm die Hände runter.
»Hm«, brummte Idna, »was soll ich groß sagen?«
Die gute Steffi erhob sich. Sie schritt in seinem Zimmer umher und versuchte, sich in ihrem Kopf Fragen zurechtzulegen.
»Denkst du nicht«, so Steffi, »dass das Leben dir mehr zu bieten hat?«
Keine Reaktion von Idna.
»Antworte bitte!«
Idna schickte sich endlich zu einer Antwort an. »Kein Plan, wenn ich ehrlich bin. Vielleicht, vielleicht nicht. Wenn ich tot bin, kann mir das aber auch egal sein, meinst du nicht?«
Steffi seufzte und lehnte sich gegen ein Bücherregal Idnas. Was er sagte, traf sie mitten ins Herz. Sie hatten sich so gut verstanden und liebten sich, das stand außer Frage, aber sterben wollte er dennoch. Hatte sie Fehler gemacht? Hätte sie mehr tun können?
»Ist nicht deine Schuld«, sprach Idna. »Du trägst keine Verantwortung für mich.«
»Doch!«, warf Steffi ein. Sie kniete sich vor ihren Kumpel und legte ihre Hände auf seine Oberschenkel. »Auch, wenn du glaubst, sonst nichts zu haben, hast du doch wenigstens mich, oder nicht?«
Das schien eine Art von Hirnarbeit in ihm auszulösen. »Schon richtig, schon richtig.«
»Ist das nicht, hm? Sei mal ehrlich.«
»Doch, doch.«
Steffi missfiel es, wie gleichgültig er das von sich gab, als bedeute das fast gar nichts.
»Guck doch nicht so.« Idna wollte nicht, dass Steffi ihm so in die Augen schaute, mit unterschwelligen Vorwürfen.
»Wie soll ich den gucken? In solch einer Situation. Denk mal drüber nach, wie das für mich wirkt, wenn du mir hier mit deinem Tode drohst.«
Er schüttelte seinen Kopf, der sich für ihn so schwer anfühlte. »Ich drohe dir nicht damit.«
»Tust du wohl.«
»Nein.«
»Doch!«
»Nein!«
Sie lächelte zur Entspannung. »Schon gut, schon gut. Dann tust du es eben nicht, aber gefällt mir trotzdem nicht. Kannst du das nachvollziehen?«
Nicken seinerseits.
»Gut. Und kannst du auch nachvollziehen, dass, wenn ich dich denn verliere, es ein herber Verlust für mich wäre? Der mich absolut aus der Bahn werfen wird?«
Idna überlegte. »Ja, auch das kann ich nachvollziehen … schätze ich mal.«
»Gut. Und du meinst, du könntest mir deinen Tod wirklich antun? Das glaubst du wirklich? Wenn dann der Moment gekommen ist?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Mensch«, rief sie laut aus und schlug mit beiden Handflächen auf die Oberschenkel ihres Freundes. »Das kann doch nicht wahr sein. Dir kann das gar nicht egal sein, also tu nicht so, ich kenn‘ dich doch. Mir machst du so schnell nichts vor.«
Idna lehnte sich vor, berührte ihre Hände. Sie fühlten sich weich an für ihn. »Süße, liebe, zutrauliche Steffi, ich liebe dich, das ist durchaus richtig, aber du weißt nicht, wie das sein kann, wenn man allein ist. Gelegentlich physisch, aber leider auch – was viel schlimmer ist – psychisch.«
»Ich bin da«, sagte sie, eher verzweifelt als hilfreich.
»Weiß ich, aber selbst das … ist nicht alles, verstehst du?«
Nun ein Kopfschütteln von ihr.
»Ich erkläre es dir«, so Idna. »es ist sehr selten, dass es eine absolute Übereinstimmung zwischen zwei Menschen gibt. Und damit meine ich absolut.«
Steffi konnte noch immer nicht nachvollziehen, was er damit aussagen wollte.
»Es lässt sich schwer beschreiben. Man fühlt es einfach, dass da alles passt. Wie ein feines Uhrwerk. Und das ist selten.«
Ein schweres Schlucken von ihr. Er konnte es hören. Es war diese Art von Schlucken, was man macht, wenn einem etwas Unliebsames klar wird.
»Alles klar?«, vergewisserte sich der junge Mann.
»Na ja«, meinte Steffi, »ich dachte schon, ich bedeute dir etwas mehr.«
»Heißt doch nicht, dass du mir wenig bedeutest.«
»Indirekt schon.«
Idna nahm seine Hand und legte sie sanft an die Wange Steffis. »Nein, ich mag dich, sehr sogar.«
»Aber du hast indirekt gesagt, dass bei uns nicht alles passt.«
»Muss es das?«
»Ich danke, es wäre so.« Sie nahm ihr Gesicht von seiner Hand weg, aber langsam und kaum merklich.
Er ließ sich wieder an die Rückenlehne der Couch zurücksinken. »Siehst du, das meine ich. Du verstehst nicht, was ich sagen will. Ich meine, du liebst mich doch auch nicht wie deinen Freund, oder? Das ist doch auch etwas anderes und – wenn du so willst – etwas Intensiveres.«
So hatte sie das noch nicht gesehen. Damit hatte er nicht ganz unrecht.
»Aber du verstehst das nicht komplett, oder?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Genau das meinte ich. Niemand tut das. Wenn ich so rede, werde ich von den meisten angeglotzt, als sei ich verrückt oder geisteskrank oder sonst was. Dem ist aber nicht so.«
Steffi besann sich wieder. »Und das ist der Grund, warum du dich töten willst?«
Idna gab ihr nur ein Nicken zur Antwort.
»Traurig. Jetzt verstehe ich aber langsam. Das Gleichnis mit meinem Freund hat es mir klar gemacht. Du hast damit recht. Es ist tatsächlich etwas anderes. Und es ist anmaßend zu glauben, man könnte alle gleich lieben und verlangen, sie lieben einen auch gleich intensiv.«
»Ja, siehst du«, sprach Idna.
»Ich denke, dass ich es verstehen kann.«
In ihren Augen konnte Idna sehen, dass sie die Wahrheit sprach. Voller Leben, voller Mitgefühl, voller Zuversicht. Und doch war da etwas, was ihm nicht gefiel.
»Du machst dir tatsächlich Sorgen, oder?«
Steffi schaute ihn entgeistert an.
»Ja, in Ordnung, ich bin ein unsensibler Idiot. «
»Manchmal bist du wirklich einer«, sagte sie mit einem Schmunzeln im Gesicht. Sie liebte ihren Idna, wollte ihn unter keinen Umständen verlieren.
Die junge Frau setzte sich wieder neben ihn. Kuschelte sich diesmal aber näher an ihn heran. Sie wollte ihm ein Gefühl der Wärme verschaffen. Und es dauert nicht lange, bis er seinen Arm um ihre Schultern legte und sie an sich drückte. Sie ließ ihn gewähren, legte gar ihre Hand auf seinen Bauch. Steffi überkam ein Gefühl des Triumphs.
»Ist das nicht viel besser, als tot zu sein?«, flüsterte sie liebevoll.
»Ja, irgendwie schon. Hätte ich das doch nur eher gehabt.«
Zärtlich streichelte sie ihm über den Bauch. »Aber jetzt hast du es, reicht dir das nicht?«
Er atmete tief ein. »Ach, weißt du, irgendwann ist auch das größte Glück nicht mehr das, was es sein soll, wenn es denn nur zu spät kommt.«
»Und damit meinst du was?« Instinktiv drückte sie ihn fest an sich. »Heißt das, dass dir das hier nicht hilft?«
Idna konnte sich nicht genau auf eine Meinung festlegen. Immerhin wollte er ihr auch nicht wehtun. »So habe ich das nicht gesagt. Aber … irgendwie … Ich weiß auch nicht.«
Es machte Steffi traurig, das zu hören. Sie wollte es nicht hören. Zwar ahnte sie schon, dass es nicht viel brächte, aber dennoch tat es weh. Das Einzige, was sie wollte, war, ihrem Idna zu helfen.
»Tut mir leid, meine Süße.« Er meinte das vollkommen ehrlich, und ohne jegliche Hintergedanken.
»Du musst dich nicht entschuldigen, ist nicht deine Schuld. Ich dachte nur, dass ich mehr ausrichten könnte.«
Idna streichelte ihr über den Arm. »Glaub mir, ich bin der Letzte, der das gewollt hat. Ich habe keine Ahnung, wo ich falsch abgebogen bin, um zu dem zu werden, was ich jetzt bin. Irgendwie sind mir die Lebensgeister entwichen. Falls man das so nennen kann. Eigentlich glaube ich ja nicht an solch übernatürliches Zeug.«
Steffi wollte es auf einen weiteren Versuch ankommen lassen. »Offenbar muss ich zu härteren Mitteln greifen.«
»Was meinst du damit?«, fragte Idna.
Das junge Mädchen musste erneut seufzen. »Etwas, was ich sonst niemals täte.«
Ohne, dass sich Idna bewusst war, was geschah, ergriff Steffi sein Handgelenk und legte seine Hand auf ihre Brust. Es war weich.
Idna schien äußerst bestrebt, mehr über diesen Bereich der Frau herauszufinden. Behutsam massierte er Steffis Brüste. Sie ging jedoch noch einen Schritt weiter, um ihn endgültig von der Fülle des Lebens zu überzeugen. Erneut erfasste sie seine Hand und schob sie diesmal unter T-Shirt und BH. Nun hatte der junge Bursche ihre ganze Weiblichkeit in der Hand. Die weiche Haut und das seidige Gefühl der Brust als solches, brachten Idna fast um den Verstand.
»Willst du das tatsächlich alles aufgeben?« Steffi war es ernst. Niemals zuvor hatte sie einem Kumpel diesen Schritt gestattet. Es war eine exklusive und einmalige Sache, darüber waren sich beide im Klaren.
Ihr Freund antwortete nicht, war viel zu sehr damit beschäftigt, jene Region zu erforschen, die ihn schon so lange interessiert hatte.
»Dir gefällt das doch. So was hättest du nicht mehr, wenn du erstmal tot bist. Nie wieder, du hättest nichts mehr.«
Wieder keine Antwort von ihm.
Steffi hatte es scheinbar geschafft, sie war sich sicher, dass dieses Argument sitzen würde. Es konnte gar nicht anders funktionieren, wenngleich sie sich etwas schäbig vorkam, seine männlichen Triebe auszunutzen.
»Ich weiß nicht«, so Idna plötzlich, »fühlt sich schon echt geil an.«
»Aber?«
»Weiß nicht.«
Sie war mit ihrem Latein am Ende. »Heißt das, du fühlst dich jetzt kein Stück besser? Sag mir, dass du dich wenigstens etwas besser fühlst.«
Er wollte sie nicht belügen, also sparte er sich den Atem.
»Na gut«, kam es von ihr, »Schweigen ist deutlich genug. Tut mir echt leid, ich weiß nicht, was ich noch tun soll. Weißt du eigentlich, wie ich mich dabei fühle? Vor allem jetzt?«
Idna ließ ihre Worte in seinem Kopf widerhallen und sagte: »Ich denke schon, aber wer weiß schon, was in einem fremden Menschen vorgeht.«
»Bitte keine Klugscheißerei! Bitte nicht, das ertrag ich jetzt nicht!« Steffi hasste es, wenn ihr Kumpel Dinge sagte, die zu der Situation überhaupt nichts beitrugen und vor allem: negativ waren.
Er antwortete nichts mehr.
»Ich fühle mich wirklich kaputt. So sehr, wie ich dich mag, so sehr zieht mich dein Zustand ebenfalls runter. Es verletzt und gibt mir das Gefühl, nicht sonderlich erfolgreich in dem zu sein, was ich bin, deine Freundin zu sein. Also, du weißt schon.«
»Schon klar«, antwortete er rüde.
»Gut.« Sie stand auf. »Mir reicht es.« Sie ging aus Idnas Zimmer. Er selbst war sehr überrascht. Als er schon dachte, sie sei gegangen, kam sie zurück.
»Was zum …«, setzte er an, als er sah, was sie in der Hand hatte. Einen Strauch Petersilie.
Steffi legte diesen Petersilienstrauch auf Idnas Couchtisch und daneben noch eine Rasierklinge.
»Was soll das?«, wollte Idna wissen. Er beugte sich interessiert vor.
»Ich will, dass du etwas wählst. Eins von beiden. Ich will nicht mehr gegen eine Wand reden. Entweder du entscheidest dich für die Petersilie oder aber für die Klinge. Was beides symbolisieren soll, kannst du dir wohl denken. Also, bitte, denk nach. Was nimmst du?«
Idna war über ihren Vorschlag überrascht, aber er fand es interessant. Er wusste, wofür beides stand – wie sie erwartet hatte – aber es fiel ihm nicht leicht, sich zu entscheiden. Was sollte er nehmen? Immer wieder blickte er auf das eine und dann auf das andere …
Ende