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Gute Nacht
Gute Nacht
„So mein Schatz, ab ins Bett und schnell geschlafen.“
„Aber erst noch `ne Geschichte. Bitte, bitte nur eine, ja Mami?“ Es war ein Ritual, das sich jeden Abend wiederholte.
„Na gut, aber nur eine ganz kleine und du legst dich schon mal hin. Mach die Augen zu, dann kannst du die Geschichte auch sehen. Also...
Da war diese kleine Werkstatt. Ein Raum von dem man nicht mehr sagen konnte, ob er groß oder klein war. Er war so voll gestopft mit tausenderlei Dingen in Regalen, in Kisten und Kästen. Selbst von der Decke baumelten noch Gerätschaften, Werkzeuge und Bauten. Da war das große Puppenhaus und gleich daneben das Schaukelpferdchen, aus dessen Halsnaht das Stroh herauslugte und dessen Schweif fehlte. Der Puppenwagen hatte auch schon bessere Tage gesehen. Die Spitze am Himmel hing herunter und die Räder sahen X-beinig aus.
Im Regal dahinter verstaubten Schrauben, Muttern, Nägel, Lötzinn, mehrere Schraubendreher, Zangen, eine Schneiderpuppe, ein alter Strohhut mit Trockenblumen drauf, drei Meerschaumpfeifen, eine Kiste mit Knöpfen und so weiter und so fort. Ein undefinierbarer Geruch hing in der Luft. Zusammengesetzt wie ein Flickenteppich. Es roch wie zu Hause, wie Geborgenheit, wie sicher sein, dass man geliebt wird und alles gut wird.
Auf dem Fußboden neben der Werkbank stand eine Kinderbadewanne aus Zink. In ihr befand sich ein glitzriger, funkelnder, leuchtender Puder. Auf dem Schemel, der an der Werkbank stand, saß eine ältere Frau. Ihre langen, weißen, dichten Haare fielen ihr als ein dicker Zopf über den Rücken bis zur Taille. Ein paar Strähnchen hatten sich selbständig gemacht und ringelten sich in Schlangenlöckchen um ihr Gesicht. Sie hatte glänzende Augen, die neugierig und ein wenig spitzbübisch auf ihre Arbeit blickten. Sie summte leise eine lustige Melodie. Ihre Hände formten, kneteten, glätteten, ritzten und drückten den Lehmklumpen zu einer Kugel mit einem filigranen Muster.
Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und besah sich ihr Werk. Sie nickte zufrieden lächelnd. Von draußen drang ein Liedchen herein, gesungen von einer hellen Kinderstimme. Es war dieselbe Melodie, die zuvor von der Frau gesummt worden war. Die Frau stand auf, ging zur Tür, öffnete sie und fing das Mädchen auf, welches ihr lachend entgegen sprang.
„Hallo mein Sternchen“, sagte sie und drückte das Kind fest an sich.
„Hallo mein Ömchen Lilith!“, trällerte die Kleine und schmatzte ihr einen feuchten Kuss auf ihre Wange. „Ist sie fertig? Kann ich sie sehn? Darf ich pusten?“
„Na mal langsam mit den jungen Pferden. Komm erst mal rein.“ Die beiden verschwanden in der Werkstatt. Mit großen Augen bestaunte das Mädchen die Kugel. Vorsichtig glitten ihre kleinen Finger über die kunstvollen Formen und Muster.
„Darf ich pusten?“, fragte sie wieder. „Biiitte.“
„Na dann komm.“ Behutsam nahm das Kind die Kugel und ging zur Tür. Die Frau nahm aus der Wanne eine Handvoll Glitzerpuder und folgte ihr. Im Garten standen viele Bäume und in jedem dieser Bäume hingen zahllose Kugeln, jede einzigartig in ihrem Aussehen.
„Sie hat noch keinen Namen, wie soll sie heißen?“, fragte die Frau.
„Erde find ich schön.“, antwortete die Kleine.
„Gut, also Erde. Na dann woll`n wir mal.“ Die Frau streckte die linke Hand aus und das Mädchen legte die Kugel drauf. Dann öffnete sie die rechte Hand mit dem Glitzerpuder. Zusammen bliesen sie den Puder auf die Kugel. Sie schwebte jetzt über der Handfläche und begann sich langsam um sich selbst zu drehen. Der Puder pulste um die Kugel, fiel auf die Oberfläche und stieg wieder auf, fiel zurück und stieg wieder auf, immer und immer wieder. Sanft stupste das Kind die Kugel an. Sie schwebte hoch in den Baum, wo sie, sich immer weiter um sich selbst drehend, einen Platz zwischen den anderen Kugeln fand. Schillernd und einzigartig schön.
Eine Weile betrachteten die beiden ihr Werk. Dann fragte die Kleine:
„Machst du noch eine?“
„Mal sehn.“, sagte die Frau und lächelte.
So und jetzt wird geschlafen. Gute Nacht.“
„Gute Nacht.", sagte das Kind. Es drehte sich auf die Seite. Sein Blick fiel aus dem Fenster. Draußen fiel sacht Schnee.
„Du Mami, ich glaube die Zwei haben wieder gepustet.“ Die Frau folgte dem Blick des Kindes, nickte und flüsterte:
„Ich glaube auch.“