Gute Menschen werden niemals vergessen
Ich dachte nicht, dass ich es fertig bringen würde, das Folgende niederzuschreiben.
Eigentlich spielte ich nicht einmal mit dem Gedanken daran.
Doch manchmal muss man eine Sache zu Ende bringen, bevor man weiterleben kann. Und manchmal bringst du die Sache zu Ende, obwohl es dich einen Dreck kümmert, ob du danach besser leben kannst als zuvor. Weil irgendetwas dort draussen will, dass du es tust. Weil es richtig ist.
Eines Morgens erwachte ich aus einem meiner üblichen Albträume. Ich schrie nicht - zumindest schon einige Zeit nicht mehr - aber ich wusste, dass es noch etwas zu tun gab. Die Träume würden weitergehen und ebenso meine Schuldgefühle und die Gedanken, dass der Tod vielleicht letzten Endes doch eine Erlösung ist. Es niederzuschreiben würde mir nicht helfen. Aber ich würde es dennoch tun, Freunde und Nachbarn.
Ich quälte mich einige Tage lang mit dem Gedanken. Schob es hinaus wie einen Termin beim Zahnarzt. Aber gestern nicht. Gestern war Schluss mit dem ganzen verfluchten Mist.
Ich nahm mir einen Block aus der Küche und einen Bleistift. Ich nahm mir einen Sechserpack Bier. Ich setzte mich auf die hintere Veranda. Und ich schrieb. Ich schrieb als würde mir der Teufel persönlich über die Schulter schauen.
Und wer weiss? Vielleicht ist auch genau das geschehen.
Ich hätte wissen sollen, dass es ein Fehler war von der Interstate abzubiegen. Aber scheisse Mann, es war dieselbe Kurzschlussreaktion, die mich vor zwanzig Jahren dazu bewegt hat, meine Jimmy Hendrix-Mähne abschneiden zu lassen.
Wir befanden uns vierzig Meilen vor Portland und ungefähr siebzig Meilen vor Warwick, wo wir die nächsten zwei Tage damit verbringen würden, über meine verstorbene Tante Florence zu trauern und uns unzählige Kondolenzbriefe von Leuten durchzulesen, die wir nicht einmal vom Namen her kannten. Ich verabscheue Beerdingungen und ich verabscheue das ganze scheinheilige Mitleid. Ausgestreckte Hände und mitfühlende Gesichter, vorgeschoben vor den Gedanken, dass die alte Vettel endlich das Zeitliche gesegnet hat. Verdammt, ich kannte sie nicht mal richtig. Ich hatte sie nur ein einziges Mal gesehen und das war auf meiner Hochzeit gewesen und ich kann nicht behaupten, dass ich die rundliche, kettenrauchende Alte in irgendeiner Weise liebgewonnen hatte. Aber seit dem Tod meiner Mutter war ich der einzige Verwandte.
So dachte ich, als wir von der Interstate abbogen und vielleicht bin ich selbst Schuld an dem, was danach geschah. Weil ich diese Gedanken hatte. Ich meine scheisse, eine Million Menschen haben wahrscheinlich täglich solche Gedanken, ohne dass ihnen jemals so etwas passiert, aber versuchen sie mal dieses verfluchte Schuldgefühl loszuwerden.
Ich setzte also den Blinker, schaute in den Rückspiegel und nahm die Ausfahrt Harlow. Einfach so. Es gab wirklich keinen Grund – zumindest keinen
(Glühwürmchen)
zumindest keinen, der mir in diesem Augenblick bewusst gewesen wäre.
Kate warf mir vom Beifahrersitz einen verwunderten Blick zu, aber sie sagte nichts. Wahrscheinlich kannte sie diese Art von kurzentschlossener Anwandlung, die ich von Zeit zu Zeit habe. Schließlich waren wir seit acht Jahren verheiratet.
Shawn war hingegen weniger taktvoll. Er steckte seinen Kopf zwischen den Sitzen vor und fragte in seiner hohen, schrillen Stimme, die verriet, dass bis zur Pubertät noch das eine oder andere Jahr vergehen sollte: „Warum fahren wir raus, Daddy?“
„Weil ich die ganzen Autos und die Leitplanken und die Böschung leid bin.“, sagte ich ein
wenig zu laut und Shawn schwieg. Wahrscheinlich tat es ihm leid, dass er gefragt hatte.
Also sagte ich ein wenig freundlicher: „Ausserdem bist du das erste Mal in Maine und dann sollst du auch wenig von der Landschaft sehen.“
Kate warf mir einen erneuten Blick zu, der sagte, dass ich den Eisberg gerade noch einmal umschifft hatte und ich lächelte ihr zu.
Harlow war dasselbe kleine unscheinbare Kaff, dass ich erwartet hatte. Aber die Landstrasse war gut, viel besser als ich dachte und die Landschaft in diesem Teil von Neu-England hat wirklich ihre schönen Seiten. Nach ein paar Meilen war ich beinahe stolz auf meinen Entschluss, die Interstate zu verlassen, auch wenn wir dadurch zwei oder drei Stunden später ankommen würden. Auf jeden Fall nach dem Mittagessen, so viel stand fest.
Wir kamen durch Stedwick, Durham und durch ein beschauliches Örtchen mit Namen Castle Rock. Danach kam für eine Weile nichts mehr.
(das kleine Glühwürmchen)
Die Strasse zog sich ziemlich, aber auf den Seiten wechselten sich Wälder, Wiesen und eine Mischung aus beidem soweit ab, dass es nicht halb so eintönig wurde, wie auf der Interstate, wo eine einzelne Kiefer schon einem Naturschauspiel gleicht. Einmal überquerten wir sogar eine jener hölzernen, überdachten Brücken, die man sonst nur aus Filmen kennt, zumindest wenn man sein ganzes Leben in Chicago verbracht hat. Es war eine ruhige Fahrt, wenig Gegenverkehr und selten eine Menschenseele zu sehen.
Die Radiosender spielten zumeist diesen neumodischen Müll, von dem nur Teenager oder Zugekiffte denken können, dass es Musik sei (nicht dass ich ein Engel gewesen wäre, was Marihuana oder halluzinogenen Kram betraf, aber scheisse noch eins, damals verbanden wir wenigstens ein Lebensgefühl und einen Traum mit dem Zeug).
Ich hatte endlich einen Sender gefunden, der neben den Red Hot Chilli Peppers auch Sachen von Joe Cocker, Pat Boone und Bob Dylan spielte, als Shawn plötzlich vom Rücksitz fragte:
„Was bedeutet denn das Kreuz da vorne, Daddy?“ Er beugte sich vor und deutete auf den linken Strassenrand.
Es war kein Wagen hinter uns und es kam uns auch keiner entgegen, also fuhr ich langsamer, während Kate ihm erklärte:
„An dieser Stelle ist wahrscheinlich einmal jemand verunglückt. Seine Angehörigen haben dann dort ein Kreuz aufgestellt, um daran zu erinnern.“
„Liegt er dort auch begraben?“, fragte Shawn.
Kate verkniff sich ein Grinsen. „Natürlich nicht, Liebling. Er liegt bestimmt auf dem Friedhof.
„Schade.“
Dann befand sich das Kreuz genau neben meinem Seitenfenster. Es war ein schlichtes Holzkreuz ohne Verzierungen und die Blumen, die eine trauernde Mutter oder eine verzweifelte Freundin aufgestellt hatte, waren alt und verwelkt. Ein einzelnes Windlicht war anscheinend schon vor Wochen abgebrannt.
(aber das Glühwürmchen leuchtet und tanzt um das Kreuz)
Das Leben geht weiter, dachte ich. Es geht immer weiter.
Auf dem Kreuz stand:
In stillem Gedenken
Frank Ellway
Gute Menschen sterben nie
Dann waren wir vorbei und ich fragte mich unwillkürlich, ob der gute Frank ein Problem damit hatte, denselben Nachnamen zu tragen wie John von den Broncos. Vielleicht wurde er deswegen gehänselt und wünschte sich, dass er Smith, Brown oder Doe hieß. Vielleicht war
er aber auch Kapitän seines Football-Teams und genoss die Namensgleichheit.
Wieder eine jener Fragen, die mir nie beantwortet werden würden.
Zwei oder drei Meilen später erklärte Shawn, dass er „hungrig wie die Sau“ sei und holte sich einen wütenden Blick von seiner Mutter ab. Ich musste mir auf die Lippe beissen, damit ich nicht laut losprustete.
„Was haltet ihr davon, wenn wir uns im nächsten Ort mit Chips und Schokoriegeln eindecken und später in Portland einen Burger essen?“
„Wegen mir.“, sagte Kate. Sie war wütend auf Shawns Ausdrucksweise.
Arme Kate, dachte ich. In zwei Jahren wird er aus der Schule kommen und Wörter mitbringen, von deren Existenz du noch nicht einmal wusstest.
„Klar.“, sagte Shawn und damit war es beschlossene Sache.
Der nächste Ort lies auf sich warten. Mein Magen begann zu knurren und ich musste aufs Klo. Keine große Sache, ich hätte anhalten und hinter die Büsche gehen können, aber warum sich die Mühe machen, wenn wir sowieso bald halten und aussteigen würden.
Ich nahm mir vor auch Shawn mitzunehmen (Kinder und lange Autofahrten, jeder Elternteil wird wissen, was ich meine) , als ein Schild hinter einer Biegung auftauchte.
Willkommen in Rocatano!
Sie werden uns gar nicht mehr verlassen wollen!
„Das...“, sagte Kate, „...möchte ich ganz entschieden bezweifeln.“
Ich lachte laut auf und Shawn kicherte, obwohl er die Komik in diesem Satz wahrscheinlich nicht völlig begriffen hatte.
„Komischer Name.“, sagte ich kopfschüttelnd. „Aber was soll man von einem Staat erwarten, der einen See Oriquintaquec nennt.“
„Wie?“, fragte Kate lachend und Shawn kreischte auf dem Rücksitz vor Vergnügen.
„Es stimmt.“, sagte ich. „So haben die Waldschrate hier einen See genannt.“
Der Ort vollbrachte die überaus bewundernswerte Leistung, sogar Harlow in Sachen Kleinbürgerlichkeit und Langeweile auf die Plätze zu verweisen.
Eine Hauptstrasse führte der Länge nach hindurch und im Stadtzentrum befanden sich einige kleine Läden, die wegen der Mittagszeit aber zumeist geschlossen waren. Abgesehen davon gab es einige hübsche Häuser im Kolonialstil und nicht einen Menschen zu sehen.
„Wenn die hier fließendes Wasser haben, heiße ich Tanner.“, sagte Kate in Anspielung auf den Spitznamen, den wir ihr wegen ihrer gelegentlichen Anfälle von Spießigkeit während der College-Zeit gegeben hatten. Natürlich benutzte ich den nur bevor wir zusammen waren. Erstens reagierte sie nicht sehr positiv darauf und zweitens hatte ich mich schon zu der Zeit so hoffnungslos in sie verliebt, dass mir sogar dieser Charakterzug gefiel.
„Da vorne ist ein Supermarkt.“, sagte Shawn.
Na ja, dachte ich. Supermarkt konnte man es zwar wirklich nicht nennen, aber Ed´s Grocery lies auf etwas zu essen hoffen und hatte immerhin dem Anschein nach geöffnet. Der Laden war ein heisser Kandidat für eine Generalüberholung – und der in großen Teilen abbröckelnde Putz war noch das kleinste Problem -, aber auf eine eigentümliche Art und Weise
(Glühwümchen!)
schien er realer zu sein, als die übrigen Geschäfte. Mehr da. Ich schüttelte den Gedanken ab.
Ich parkte davor – im Halteverbot, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass in diesem von allen Göttern verlassenen Kaff ein Sheriff seine Runden drehen würde.
„Komisch.“, sagte Kate als wir ausstiegen. „Kein Auto weit und breit.“ Ich schaute mich um. Sie hatte recht. Kein Auto. Nicht einmal ein Parkendes.
„Tja. Rocatano, Maine ist eine Geisterstadt.“
Wir gingen hinein.
Ed´s Grocery entsprach ziemlich exakt dem Idealbild eines hinterwäldlerischen Lebensmittelladens. Es war düster und die grünen Regale standen vollgeräumt mit den verschiedensten Sachen, ohne das Ed oder seine Angestellten (wobei ich bezweifelte, dass letztere die Zahl eins überstiegen hätten) sich in irgendeiner Art und Weise um eine sinnvolle Anordnung bemüht hätten. Nudeln standen neben Coca Cola Kisten, Gemüse neben Sechserpackungen Budweiser, die Kühltruhe mit eingefrorenem Fleisch unter einem Regal mit uralten Duftkerzen. Na, dachte ich, die werden wirklich duften.
Auf der Ladentheke stand eine Registrierkasse, bei deren Anblick jede Requisiteurin, die einen Film über die Jahrhundertwende ausstatten soll, in verzückte Begeisterung ausgebrochen wäre und hinter der besagten Kasse stand ein junger Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren. Er nickte uns zu. Hinter seinem Kopf sah ich ein kleines Clipboard mit einem Stapel von Gideon-Bibeln.
„Wir schauen mal was wir finden.“, sagte Kate und schob Shawn in den winzigen Gang, der aussah, als könne man dort auf vertrocknete Chips oder harte Schokoriegel stoßen.
Ich trat an die Theke. „Hallo.“, sagte ich. „Wir sind auf der Durchreise. Dürfte ich wohl bitte mal ihre Toilette benutzen?“
Der junge Mann grinste breit und entblößte eine Reihe von unglaublich gelben Zähnen. Er trug ein kariertes Hemd, dass augenscheinlich schon bessere Tage gesehen hatte und das aufgenähte Namensschild darauf war verwaschen und unleserlich. Seine dunklen Haare waren verfilzt und schief geschnitten.
„Wo soll´s denn hingehen, Kumpel?“, fragte er.
„Bangor.“, sagte ich, auch wenn das nicht ganz der Wahrheit entsprach, aber ich mag es einfach nicht, wenn mich ein Fremder Kumpel nennt.
„Hmm.“, machte er. „Schöne Stadt. N´Haufen tolle Bars. Und unter uns gesagt....“ Er bedeutete mir mit einem Handzeichen näher zu kommen und widerstrebend tat ich ihm den Gefallen. Er roch nach schalem Bier und nach etwas anderem, undefinierbaren. „...mit dem besten Puff in ganz Maine.“
„Kein Bedarf.“, sagte ich und versuchte so freundlich wie möglich zu klingen. Der Gestank, der von ihm ausging wurde stärker, aber der Biergeruch ging zurück. Dafür trat der andere hervor, der, den man am ehesten mit verfaultem Fleisch vergleichen konnte.
„Ayuh. Ne geile Braut haben sie da aufgerissen, das muss man ihnen lassen.“ Er grinste wieder und etwas an diesem Grinsen lies mich unbehaglich werden. Aber meine Blase drückte mittlerweile ziemlich stark und mein Magen hatte beschlossen, dass Knurren ein phantastisch guter Weg war, um an Nahrung zu gelangen und so entschloss ich mich auf die Toilette zu gehen, zu bezahlen was Kate und Shawn sich ausgesucht hatten und zuzusehen, dass wir aus Rocatano, Maine so schnell verschwanden wie nur irgendwie möglich.
„Ähm...wie sieht das denn mit der Toilette aus?“
Der Mann verzog das Gesicht. „Oh Mann, tut mir leid. Ich quatsche einfach zu viel. Wenn ein Mann muss, dann muss er. Hat mein Vater immer gesagt, der alte Suffkopf. Die Toilette ist dort hinten, neben der Kühltruhe. Tut mir echt leid, Kumpel“
„Kein Problem.“, sagte ich und blickte so offensichtlich auf das ausgewaschene Namensschild, dass sogar ein Trottel wie er bemerken musste, worauf ich hinauswollte. Gute alte Erziehungstradition. Man kann sie einfach nicht ablegen.
„Oh Mann, ich bin echt ein Idiot. Freu mich sie kennen zu lernen. Ich heisse Frank Ellway.“
Für einen Moment kam ich mir vor, als hätte mich ein Güterzug gerammt.
Ein Zufall, sagte ich mir. Ein dummer Zufall, kein Grund zur Panik. Geistesabwesend schüttelte ich die Hand, die er mir entgegenstreckte. Der Druck auf meiner Blase war verschwunden, ebenso wie das Knurren meines Magens. Ich wollte nur noch raus aus diesem Laden, raus aus dieser verfluchten Stadt. Aber gute alte Erziehungstradition. So etwas tat man nicht. Man kann sie nicht ablegen, wie gesagt. Und nebenbei: Ich bezweifle, dass es etwas
genutzt hätte.
„Na, was ist jetzt mit der Toilette, Kumpel?“, fragte Ellway.
In diesem Moment kamen Kate und Shawn an die Kasse. Shawn trug ein halbes Dutzend Schokoriegel, die er seiner Mom wahrscheinlich in einem hartnäckigen Wortgefecht abgeschwatzt hatte und Kate hatte neben drei Dosen Cola auch zwei Tüten Chips in der Hand.
„N´hübscher Bengel und ne geile Braut, wie gesagt, ayhu.“, sagte Ellway und bleckte die gelben Zähne.
Kate warf mir einen verwirrten und besorgten Blick zu. Ich konnte sie nur anstarren.
„Willst du uns nicht bekannt machen, Stevie?“
Ich fragte ihn nicht, woher er meinen Namen kannte. Ich wollte es gar nicht wissen.
Ich wusste nur eins: die Namensgleichheit war kein Zufall. Wir sprachen mit einem Toten. Daher auch der Geruch. Er roch nach verfaultem Fleisch, weil er aus genau diesem bestand. Er faulte. Meine Eingeweide zogen sich schmerzhaft zusammen.
„Wir warten Stevie, wir warten.“ Einer seiner Zähne fiel aus seinem Mund und landete mit einem leisen Plopp auf der Ladentheke. Er bemerkte es gar nicht oder es war ihm egal.
„Was ist hier los?“, fragte Kate, noch immer beherrscht, aber mit dem leisen Unterton von aufkommender Panik in der Stimme.
„Meine Frau Kate und mein Sohn Shawn.“, sagte ich mit bebenden Lippen. „Und Mr. Frank Ellway.“
Kate lies die Cola und die Chipstüten fallen. Shawns Augen wurden groß.
Rennen, dachte ich. Einfach wegrennen. In das Auto steigen und losfahren. Und nie wieder an diesen Ort denken. Aber es würde nichts nutzen. Ich wusste es. Ich konnte mir nicht sicher sein, konnte es verdammt noch mal nicht, aber in genau diesem Augenblick wusste ich es einfach. Rennen würde alles nur noch schlimmer machen.
Und vielleicht war es ja ein Traum. Nur ein Traum.
„Doch nicht der....“, sagte Kate.
Ellway kicherte. „Verdammt.“, murmelte er, als etwas in seinem Mund knirschte und gleich darauf spuckte er einen weiteren Zahn aus. „Die Dinger machen mich noch wahnsinnig. Um auf die Frage der Lady zurückzukommen – doch, genau der Frank Ellway. Gute Menschen sterben nie, stimmt´s Steve-O? Der Frank Ellway auf dem Kreuz. Der Frank Ellway, der vollgesoffen und völlig bekifft den verdammten Baum gerammt hat. Der Frank Ellway, der tollen weissen Schnee aus Boston in die Heimat bringen wollte und selbst nicht wiederstehen konnte. Ayhu, Stevie, aber da weisst du ja auch ganz genau Bescheid.“
Irgendjemand wird gleich hereinkommen. Und dann wird sich dieser Spuk auflösen. Jemand wird kommen und Ellway wird verschwinden, weil Geister nur ganz bestimmten Leuten erscheinen können. Nicht allen.
„Ach und bevor ich es vergesse: Es ist beschissen diesen Namen zu tragen, Stevie. Total beschissen.“
Shawn hatte sich in die Hose gemacht. Aus seinen Augen kullerten Tränen. Er bewegte sich überhaupt nicht mehr. Kate zitterte am ganzen Körper.
„Was wollen sie?“, brachte ich schließlich hervor.
„Endlich kommen wir auf den Punkt. Allzeit bereit, Stevie, hab ich recht? Wir werden ein Spiel spielen. Jemand wird heute sterben. Aber - und das ist der Heidenspaß an diesem Spiel - wir wissen noch nicht wieviele. Ayhu, das können wir auch gar noch nicht wissen. Wir müssen es nämlich erst noch auswürfeln.
Ellway steckte die rechte Hand in seine Hosentasche und als er sie wieder hervorzog fehlte der Ringfinger. An seiner Stelle war nur noch ein abfaulender kleiner Stumpf. „Jetzt ist er in der Tasche, falls ich ihn noch mal brauche.“ Er lachte schallend und ich sah, dass sich winzige
gelbe Würmer in seine Zunge fraßen. In Ellways Handfläche lag ein roter Würfel.
Ich kannte diese Sorte Würfel. Ich hatte früher Rollenspiele gespielt, Dungeons and Dragons und so einen Kram. Was Ellway dort hatte war ein ganz normaler Würfel, bis auf die Tatsache, dass die Zahlen eins, zwei und drei jeweils doppelt darauf waren. Wir nannten so ein Ding seinerzeit W3.
Ich hatte begriffen.
Rennen. Scheiss drauf ob es zu etwas nutze ist oder nicht. Rennen oder wir sterben. Ich spannte die Muskeln an. Ich würde Shawn und Kate mit mir reissen und zum Auto rennen. Meine Finger schlossen sich in der Tasche meiner Jeansjacke um den Wagenschlüssel.
Bang!
Ein Gitter fiel vor den Türrahmen. Es war eines jener Gitter, mit dem man die Türen von Banken oder Juwelieren in Beverly Hills sichert, aber ganz bestimmt keins, dass man in einem Lebensmittelladen in einer Kleinstadt in Maine benutzen würde.
„Ach komm schon, Steve-O. Jetzt schau nicht so betrübt. Hast du etwa geglaubt, ich würde es euch so einfach machen.“ Ellway warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. „Ich kann gut verstehen, dass du wegrennen willst, aber schau mal, ich würde ne Menge Ärger bekommen, wenn ich das zuließe. Einen ganzen Arsch voll Ärger.“ Er schüttelte den Kopf.
„Daddy.“, sagte Shawn leise. „Mach das er weggeht. Er soll weggehen. Ich will nach Hause.“ Er weinte jetzt stärker, hemmungslos. Kate starrte ihn nur an.
Es sind diese Worte, die ich heute noch höre.
Daddy, mach das er weggeht.
Die Angst in seiner Stimme. Die großen blauen Augen, die sagten, dass Daddy alles wieder gut machen würde, dass Daddy den bösen Mann vertreiben würde so wie er die Monster aus dem Wandschrank vertrieben hatte. Die Verzweiflung, das Unverständnis. Warum tat Daddy nichts?
Weil Daddy verflucht noch mal nichts tun konnte. Scheisse, das waren keine Hirngespinste eines fantasievollen Siebenjährigen. Das war, Freunde und Nachbarn, die verfluchte Realität.
Friss Vogel oder stirb. So einfach ist das.
Ich schaute zu Ellway und plötzlich war da ein seltsames Leuchten über seinem Kopf
(das Glühwürmchen!)
Nur ein schwaches Glimmen, dass tänzelnd sein Gesicht umspielte. Aberwitzige Gedanken schossen mir durch den Kopf: Er kann es nicht sehen! Es hat uns hierher geführt und er weiss nicht, dass es da ist.
„Wer möchte Würfeln.“, fragte Ellway und beugte sich über den Tresen. „Eins, zwei oder drei, es ist auch kein Trick dabei.“ Er kicherte leise. Der Gestank nach faulem Fleisch war mittlerweile fast unerträglich geworden.
„So halten wir es in Croatoan. Keine Tricks. Wir spielen mit offenen Karten.“
Rocatano. Croatoan. Was machte es für einen Unterschied? Ein bisschen Betrug bei der Ausschilderung. Keine große Sache. Eine Werbeagentur arbeitet mit subtileren Kniffen.
„Kein Betrug.“, kreischte Ellway. „Big Dan hat das Schild gemacht. Kann nix für, is eben besoffen verreckt.“ Er zwinkerte mir zu. „Okay, vielleicht ein kleiner Trick, aber sonst wärt ihr bestimmt nicht gekommen, oder?“ Er machte eine Mine, als würde er sich schämen. „Croatoan. Eine Geisterstadt sind wir. Heute hier, Morgen da. Das ist unser Motto, ayhu.“
Meine Knie begannen zu zittern. Kate schluchzte. Das Leuchten über Ellways Kopf wurde stärker.
(sammelt es Energie?)
„Zurück zum Geschäftlichen. Ihr würfelt und so viele werden mitkommen wie ihr Augen gewürfelt habt. Würfelt ihr eins, wird einer mit mir kommen. Würfelt ihr zwei, dann nehme ich zwei mit. Und bei einer drei....ayhu, bei drei habt ihr den Jackpot gezogen. Dann dürft ihr alle mitkommen. Wer will würfeln?“ Er streckte die Hand aus. Der Würfel ruhte darauf, unser eigenes Damoklesschwert.
„Warum machen sie das?“, fragte Kate. Sie hatte damit begonnen sich die Haare vom Kopf zu reissen. Auf dem Linoleum um ihre Füße lagen blutige Büschel.
„Weil wir müssen. Das ist unser Job. Wir kommen und wir gehen, aber wir nehmen jemanden mit. Wenn wir ohne zurückkommen...ayhu, dann reißt Er uns aber ganz gewaltig den Arsch
auf.“
„Wer?“, fragte ich. Zeit gewinnen. Einen Ausweg suchen.
Ellway begann ein wenig zu zittern. „Er, der hinter dem Schleier wandelt. Er ist der Anfang und das Ende. Ein richtiger alter Hurenbock!“
„Gott?“ Kate. Die Gläubige von uns beiden.
„Nennt ihn wie ihr möchtet. Ich nenne ihn einen alten Hurenbock und soweit ich weiss, ist ihm das scheissegal. Wer würfelt?“ Ellway schaute hinunter zu Shawn. Der Junge hatte sich auf dem Boden zusammengerollt wie ein Embryo. Er lutschte an seinem Daumen.
„Damit fällt ein Kandidat weg.“, sagte Ellway. „Also, Steve-O? Du oder die Nutte?“
Ich schaute zu Kate. Sie hatte das Gesicht zu einer Grimasse aus Schmerz, Wut und völliger Verzweiflung verzogen. Ich nickte ihr zu. Ich wollte nicht würfeln. Konnte nicht. Ich begann zu weinen.
Kate griff nach dem Würfel. Ellways Hand schloss sich um ihre. Sie stiess einen schrillen Schrei aus, der nichts Menschliches mehr an sich hatte. Er klang wie das Heulen eines gequälten Tieres.
„Viel Glück, Nutte.“, sagte Ellway.
Kate riss ihre Hand zurück. Es gab ein schmatzendes Geräusch und Ellways Handgelenk löste sich von seinem Unterarm. Er prustete vor Lachen. Von seiner Zunge war nichts mehr übrig. Die Würmer fraßen sich nun direkt in seinen Kiefer hinein.
Zeit gewinnen! Er verfault direkt vor unseren Augen. Wenn wir ihn hinhalten können, verfault er vielleicht völlig.
Kate versuchte kreischend Ellways Finger von ihrer Hand zu lösen. Schließlich gelang es ihr und sie warf die abgetrennte Hand von sich. Das zuckende Ding landete krachend zwischen den Reissorten.
Sie blickte auf den Würfel.
„Ich liebe dich.“, sagte ich leise. Ellway gab seine Rührung kund, aber ich achtete nicht auf ihn. Meine Augen ruhten auf dem Würfel. Eine eins, dachte ich. Eins und ich würde gehen. Gott im Himmel, lass es eine eins werden.
Kate schloss ihre Hand um den Würfel, presste die Fingernägel in das Fleisch.
Sie würfelte.
Sekunden vergingen, die wie Jahre waren.
Zahlen erschienen und verschwanden.
Schließlich ruhte der Würfel.
Ein Schleier aus Tränen vernebelte meine Augen.
Ellway kreischte vergnügt. „Eins!“
Ich wischte die Tränen aus den Augen. Es war tatsächlich eine Eins.
„Eine Eins!“ rief Ellway. „Die Nutte hat eine Eins gewürfelt.“
Warum freute er sich so? Warum freute sich der verfluchte Bastard?
Kate brach zusammen. Sie hockte schluchzend auf dem Boden, die Hände vor die Augen geschlagen.
„Ich werde mit ihnen gehen.“, sagte ich. Ich versuchte entschlossen zu klingen, aber es gelang mir nicht. Ich hatte Angst. Ein Teil von mir wollte, das ich mit dem Finger auf Kate zeigte und rief: Nimm Sie! Nimm diesen heulenden Haufen Dreck! Nimm sie aber nicht mich!
„Ohhh.“, machte Ellway. „Nicht so schnell. Wer hat gesagt, dass ihr wählen dürft?“
Das war also. Der Hurensohn wollte selbst aussuchen.
„Ich werde wählen. Euch die Entscheidung abnehmen, ahyu. Es euch leichter machen.“
Er kam hinter dem Ladentresen hervor. Mein Blick fiel auf seine Beine, die bislang durch die Ladentheke verborgen waren. Seine Jeans war völlig zerrissen und das Fleisch seiner Waden und Oberschenkel bereits schwarz. An manchen Stellen schimmerte der bleiche Knochen hervor.
„Ich nehme den Jungen.“, verkündete er.
„Nein!“, kreischte Kate und sprang auf. Ellway stiess sie mit der verbliebenen Hand beiseite. Sie flog zurück, als wäre sie von einem LKW gerammt worden; gute zwei Meter oder mehr und krachte gegen einen Stapel Seven-Up Kisten. Sie blieb regungslos liegen.
Ellway beugte sich zu Shawn, streckte seine Hand aus und zog den Kragen von seinem Sweatshirt herunter, entblößte den Hals. Öffnete den Mund.
Das Leuchten um Ellways Kopf wurde stärker und plötzlich konnte ich etwas sehen
(Glühwürmchen)
etwas, dass sich aus der hellen Aura löste und anmutig auf den Stapel Gideon-Bibeln schwebte. Es verharrte den Bruchteil einer Sekunde und dann bewegte es sich wieder, sprang auf und nieder. Schien mir zu winken. Ich begriff. Meine Hand streckte sich beinahe von alleine aus. Ich hörte etwas
(Lachen?)
, dass ich nicht identifizieren konnte und hielt die oberste Bibel wie ein Schwert über meinem Kopf. Das Leuchten um Ellways Kopf pulsierte nun gleissend hell und plötzlich drehte er den Kopf und sah zu mir hoch. Seine Augen veränderten sich. Weiteten sich in Verblüffung. Sein Mund verzog sich zu einer Fratze. Er starrte mich an – den Kragen von Shawns Sweatshirt noch immer in der Hand – und bis zum heutigen Tag frage ich mich, wie er mich damals gesehen hatte. War ich überhaupt noch Steven Roberts?
Ich schlug zu. Es gab keinen Widerstand; das Buch glitt durch die weiche, faulende Masse seines Hinterkopfes wie ein heisses Messer durch Butter.
Und dann geschah etwas. Ich hörte ein leises Summen aus Tausenden von Kehlen und etwas packte mich, riss mich auf, drang in mich ein, wühlte sich durch meine Gedanken, nahm von mir Besitz. Der Schmerz war unglaublich, öffnete neue Horizonte und für einen Augenblick hatte ich das Gefühl völlig entblößt zu sein, so nackt wie noch nie ein Mensch war, ausser vielleicht Adam als er von Gott geschaffen wurde.
Die Bibel in meinen Händen hüllte den Raum in ein blendendes Licht.
Ellway kreischte, als habe man ihn mit kochendem Wasser überschüttet.
Und ich sagte mit einer Stimme, die nicht meine eigene war:
„Hinfort, Dämon! Verflucht seiest du und deinesgleichen, verstoßen seit ihr von diesem Ort für heute und für immerdar.“
Ellway jaulte, heulte, riss sich mit der verbliebenen Hand das Fleisch aus dem Gesicht.
Würmer fielen von oben herab auf ihn. Sie ähnelten nicht den kleinen gelben, die ich in seinem Mund gesehen hatte sondern waren groß und fett und von dunkelbrauner Farbe.
Hunderte, Tausende von ihnen. Und sie fraßen sich in ihn hinein, schmatzend, zischend.
Ellway konnte nicht mehr kreischen. Einer der Würmer fraß sich in seine Kehle, zerfetzte seine Stimmbänder. Ein anderer bohrte sich in seinen Unterleib, in seine Genitalien.
Die Kraft die mich gepackt hatte lies mich los und ich hörte eine Stimme in meinem Kopf:
„Das hast du gut gemacht, mein Sohn. Und nun verschwinde von hier. Dies ist nicht länger für deine Augen bestimmt.“
Ich nahm Shawn auf den Arm, während Ellway weiter zerfressen wurde und ich nahm Kate. Sie blutete aus unzähligen kleinen Wunden, an denen sie das Glas zerschnitten hatte und ihr linker Arm stand in einem völlig abnormalen Winkel zum Rest ihres Körpers, aber sie atmete.
Ich schleppte die beiden hinaus.
Die Strasse war voll mit Menschen. Toten Menschen. Kreaturen wie Ellway. Sie wankten auf den Laden zu, die Augen geschlossen. Als würden sie von einer Macht gerufen, die größer war, als ihre und größer als die, von der sie beseelt waren. Manche von ihnen sahen völlig normal aus, andere waren beinahe bis zur Unkenntlichkeit verwest.
Ich packte Shawn und Kate in den Buick. Ich setzte mich hinter das Steuer.
Die Toten gingen in den Laden. Hunderte von ihnen. Sie hätten nicht mehr hineinpassen dürfen, so viele waren es. Ich dachte an die Würmer.
Ich lies den Wagen an. Der Motor stotterte kurz, aber dann ging es. Ich drückte aufs Gas als wäre der Leibhaftige hinter mir her.
Wir erreichten die Stadtgrenze. Ich hörte eine gewaltige Explosion.
Ich drehte mich nicht um. Ich wusste auch so, was geschehen war.
Rocatano, Maine hatte aufgehört zu existieren.
Das alles ist nun drei Jahre her.
Shawn hat seitdem nie mehr ein Wort gesprochen. Er befindet sich in therapeutischer Behandlung. Glenn, der Psychologe des Central Medical meint, er könne ihn wieder zum Sprechen bewegen, aber das würde seine Zeit dauern. Ich glaube nicht daran, aber wer weiss?
Glenn dürfte ziemlich große Augen machen, wenn er es schafft.
Kate hat vier Selbstmordversuche hinter sich. Den Letzten vor zwei Wochen. Damals habe ich sie in der Badewanne gefunden. Sie hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Ich habe lange in der Tür gestanden und überlegt, was ich machen sollte. Ich habe schließlich den Notarzt gerufen. Ich weiss nicht, wie ich beim nächsten mal reagieren werde. Vielleicht lasse ich sie einfach liegen, ihren Tod finden.
Wurden wir benutzt?
Wurden wir gerettet?
Ich frage nicht mehr.
Ich lebe.
Und das ist letztlich das einzige, was mir Sorgen bereitet.
Nachwort: Leider funktioniert die Kursiv-Funktion bei mir aus unerfindlichen Gründen nicht. Einige Teile dieser Geschichte sollten eigentlich kursiv erscheinen - ich hoffe, sie ist auch in dieser Form verständlich. Die Anspielungen auf Stephen King-Elemente (z.B. Castle Rock) sind durchaus beabsichtigt und gewollt. Eine letzte Anmerkung zu "Croatoan" (damit kann unter Umständen nicht jeder Leser etwas anfangen): Das Wort bezieht sich auf das rätselhafte Verschwinden der Siedler von Roanoke Island - der einzige Hinweis auf ihren Verbleib war dieses Wort, eingeritzt in die Rinde eines Baumes. Bis heute ist nicht geklärt, wie mehrere hundert Menschen einfach verschwinden konnten - zumal sie sämtliche Besitztümer zurückliessen.
[Beitrag editiert von: Wendigo am 04.01.2002 um 15:09]