- Anmerkungen zum Text
Das ist die Erzählung einer Romanze, die genau so schnell endete, wie sie angefangen hatte.
Die Romanze eines Mädchens, das voller Selbstzweifel geprägt ist.
Das Mädchen, das sich ausversehen fallen lassen hat.
Gut genug?
Mein Alltag war eigentlich von Selbstzweifel geformt. Ich war nie wirklich da, immer in Gedanken an die Vergangenheit oder an die Zukunft. Ständig fiel mir etwas ein, was ich anders und vor allem besser hätte machen können. Die meist gestellte Frage in meinem Kopf war: „Bin ich gut genug?"
Jeder benötigt manchmal, oder immer mal wieder und öfter, ein bisschen Selbstbestätigung. Er war meine. Mit 35 Jahren war er 12 Jahre älter als ich, aber sein Charme ließ ihn um einiges jünger wirken. Wir arbeiteten ab und an zusammen und sahen uns immer nur sporadisch alle paar Wochen, manchmal auch nur alle paar Monate. Anfangs beachtete ich ihn nicht einmal. Es war nicht so, dass er unattraktiv wäre. Er war groß, hatte dunkelblondes kurzes Haar, eine Stubsnase, einen immer perfekt gepflegten Bart und ein wirklich herzliches Lächeln. Er fiel mir einfach nicht auf, da ich nicht aktiv auf ihn gewartet hatte. Aber eines Abends, wie es das Schicksal wollte, waren wir nach der Arbeit allein. Er fragte mich, ob wir nicht noch eine Kleinigkeit trinken wollen. Ich sagte zu, da ich ansonsten sowieso nichts zu tun hatte. Der ganze Abend war ein Chaos aus Worten, Gelächter, Rauch und dem Gestank nach billigem Rum. Der unschuldige Abend wurde zu einer eindrucksvollen Nacht. Die Blicke wurden intensiver, das Schweigen dauerte länger und das Grinsen hörte fast nicht mehr auf. Es waren die kleinen, fast zufällig unbewussten Berührungen. Ein kurzes Streifen unserer Hände, als wir gleichzeitig unsere Zigaretten abaschen wollten, ein zaghafter kurzer Zusammenstoß unserer Knie bei jeglichen ausschweifenden Bewegungen. Wir tauschten Blicke aus, in deren Momente ich mich wie dreizehn fühlte. Die Welt um uns verschwand und es zählte nur das Hier und Jetzt. Die Gespräche waren wie die zwischen Freunden, die sich schon ewig kannten. Die Geborgenheit lag im Zimmer wie eine weiche Wolke, in die ich mich reinlegen wollte, damit sie mich komplett umschließt. Solch eine Vertrautheit hatte mir so lange gefehlt. Ich hatte mich ewig nach genau diesem unbeschwerten Moment gesehnt. Meine Gedanken machten mir meist schlechte Laune und ich konnte mich oft selbst kaum ertragen. Aber jetzt fühle ich mich endlos. Unbeschwert. Zufrieden. Vollständig. Durch ihn. Oder dachte es zumindest. So schnell wie der Abend begonnen hatte, beendete ich ihn, indem ich wie gesteuert aufstand und mich ins Bett verabschiedete. Mein Innerstes wollte die Nacht am liebsten niemals enden lassen, doch mein Verstand siegte. Heute. Er schaute mich sehnsüchtig, fast flehend an und ich spürte seine Blicke, selbst als ich ihm den Rücken zukehrte, wie warmen Wachs auf meiner Haut.
Er schrieb mir. Jeden Tag. Irgendwann fingen wir an zu telefonieren. Stundenlang. Meistens abends, wenn ich schon im Bett lag und ich wünschte mir die meiste Zeit, er wäre bei mir. Die schönste Phase war für mich schon immer das Kennenlernen gewesen. Die anfänglichen Gefühle, die Sehnsucht, das Prickeln. Unbeschreiblich. Wir wollten uns so bald wie möglich wieder sehen, wohnten aber rund 100 Kilometer voneinander entfernt. Er buchte uns ein Zimmer in einem Hotel. Unser nächstes Treffen sollte also außerhalb der Arbeit stattfinden. Ich war überwältigt. So etwas hatte noch nie jemand für mich arrangiert.
Als wir uns das nächste Mal sahen, machten wir genau dort weiter, wo wir aufgehört hatten. Es brauchte kein „Warmwerden", keinen schüchternen Moment der Ungewissheit, wie man sich verhalten sollte. Wieder hatten wir einen unvergesslichen Abend voller Vertrautheit, Wärme, einem Gefühl von Zuhause. Seine Worte waren so weise, durchdacht und wahr. Ich konnte mich ihm komplett öffnen, erzählte ihm Dinge, die nicht einmal meine beste Freundin wusste. Es schien, als hätten wir eine Ur-Verbundenheit. Die Harmonie zwischen uns war fast zu schön um wahr zu sein. Es herrschte dauerhaft eine Wolke der Intimität über uns. Die Berührungen wurden noch intensiver und die Blicke noch durchdringender. Wir hatten nur Augen füreinander und es passierte. Ich war in seinem Bann gefangen und ließ es zu. In meinem Gesicht spürte ich seinen warmen weichen Atem. Er war mir so nah, dass ich nur noch seine Augen scharf sehen konnte. Seine grünen Augen. Dieses Grün war das schönste Grün, was ich jemals gesehen hatte. Um seine Pupillen war ein bernsteinfarbener Ring, der nach und nach mit dem Grün verschwamm. Er machte die Augen zu, ich tat es ihm gleich und ließ mich fallen. In diesem Moment war ich nur ein Mädchen. Ein kleines Mädchen, was seinem Gegenüber hingebungslos ergeben war. Ich war wie in Trance. Es fühlte sich an wie ein Traum. Unsere Lippen berührten sich, erst schüchtern und nach und nach wurden wir beide etwas selbstbewusster. Herzklopfen, Schweiß, nackte Haut. Der Abend wurde zum Morgen und wir schauten uns zusammen den Sonnenaufgang an. Als wir wieder aufs Zimmer gingen, kicherten und alberten wir rum wie zwei angetrunkene Jugendliche. Wir legten uns hin und ich fühlte mich wie in einem kitschigen Film. Wir brabbelten weiter, bis wir zu müde wurden um zu sprechen. Wir schauten uns an, bis uns die Augen zufielen. Doch ich konnte noch nicht schlafen. Mein Herz pochte zu stark und ich hörte das Blut in meinem Körper fließen. Meine Aufregung war wie die eines Kindes am Abend vor seinem Geburtstag. Irgendwann stand ich auf und ging nochmal ins Bad. Er war schon eingeschlafen. Ich schaute mich im Spiegel an. Ich war immer noch nackt. Meine Haare waren zersaußt und mein Ansatz war fettig, weil ich geschwitzt hatte. Meine Schminke war verschmiert und ich betrachtete meinen Körper genauer. Meine Narbe über meiner rechten Augenbraue, meine zu dünne Oberlippe, meine ungleichen Brüste, mein kleines Bäuchlein, das ich bis zum Tod nicht ausstehen konnte, meine zu kurzen X-Beine. Ich lächelte mein Spiegelbild an und es lächelte zurück. Das Mädchen im Spiegel war wunderschön, es strahlte. Ich ging zurück und legte mich wieder zu ihm ins Bett. Im Halbschlaf nahm er mich in seinen Arm und drückte mich an sich. Wir klebten zusammen. Ich empfand das früher immer als ein sehr unangenehmes Gefühl. Klebende, schwitzende, nackte Körper. Dieses Gefühl, wenn man sich bewegt und es dieses seltsame Geräusch machte, wenn die Körperstellen sich voneinander trennten. Aber genau in diesem Moment wusste ich, dass es richtig war. Es musste einfach richtig sein. Ich spürte wieder dieses wundervolle Gefühl in meiner Bauchgegend. Ich schloss die Augen und nahm das Gefühl meines Körpers genauer wahr. Ich fühlte den Dopaminschub und war wie auf Drogen. Alles war intensiver, ich fühlte jede Kleinigkeit auf meiner Haut. Alles war anders. Alles war besser. Ich war einfach nur glücklich. Mit dieser vollkommenen Wärme, die mein Herz umschloss, schlief ich ein. Das war der letzte Moment, an dem ich diese Wärme spürte und im Nachhinein wünschte ich mir, ich wäre länger wach geblieben, um dieses Gefühl länger genießen zu können.
Am nächsten Tag wartete ich auf eine Nachricht von ihm. Der Tag schien endlos viele Stunden zu haben. Ich tippte eine kurze Begrüßung in den Chat. Löschte sie wieder. Das ganze hab ich an diesem Tag jedes Mal gemacht, als ich aufs Handy schaute. Abends hielt ich es nicht mehr aus. Ich schickte sie ab. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis etwas zurückkam. Um genau zu sein waren es drei Stunden und 27 Minuten. Mit dem Inhalt, der kam, war ich mehr als unzufrieden. Mein Bauch zog sich zusammen. Mein Herz fühlte sich an, als würde jemand dagegen trommeln. Meine Kehle wurde staubtrocken. Es war nicht so, dass er keinen Kontakt mehr haben wollte. Nein. Er schrieb mir auch nicht, dass er kein Interesse hätte. Es war schlimmer. Er machte mir Hoffnung, obwohl mir wohl unterbewusst klar war, dass diese Hoffnung keine Chance hatte zu überleben. Aber ich wollte sie auch nicht ersticken lassen und versuchte mit aller Kraft sie zu retten. Ich konnte an nichts anderes mehr denken, als an unseren Kurzurlaub im Hotel. Ich wünschte es wäre bei ihm genau so gewesen. Wieso war es bei ihm nicht genau so? Auch die nächsten Tage kam nicht viel von seiner Seite aus. Früher schrieb er mir jeden Tag. Jetzt konnte ich mich glücklich schätzen, wenn er innerhalb eines Tages auf eine Nachricht antwortete. Ab und zu kam eine entschuldigende Nachricht, in der er mir versprach, es mit einem Wochenendausflug wieder gut zu machen oder in der er mir versicherte, wie sehr er sich auf ein nächstes Wiedersehen freuen würde. Es machte mich verrückt. Ich schaute fast alle 10 Minuten auf mein Handy, war dauerhaft in seinem Chat. Er war online. Ich freute mich, weil ich auf eine Nachricht hoffte. Er war offline. Keine Nachricht und mein Herz schmerzte mit jedem Mal mehr. Es war, als würde ich mich selbst quälen. Online, offline, keine Nachricht, Herzschmerz. Wie ein automatisierender Ablauf. Immer und immer wieder. Irgendwann wurde mir bewusst, dass nichts mehr von ihm kommen würde, aber aufhören zu schauen konnte ich auch nicht. Es war wie eine Sucht. Eine Sucht nach Selbstverletzung, seelischer Selbstverletzung.
Heute habe ich aufgegeben, obwohl ich mich manchmal, oder immer mal wieder und öfter, dabei erwische, wie meine Finger mich in seinen Chat bringen. Wenn ein Mann dir nicht schreibt, kann es, meiner Ansicht nach, drei Gründe haben. Erstens: Er hat keine Zeit. Zweitens: Er hat kein Interesse. Drittens: Er hat eine Freundin. Aber prinzipiell läuft es doch auf dasselbe hinaus, ich mache mir nichts vor. Nicht mehr. Es läuft immer darauf hinaus, dass er kein Interesse hat. Jeder braucht mal ein bisschen Selbstbestätigung. Er war vielleicht doch nicht meine. Das versuche ich mir zumindest einzureden. Typischerweise suche ich den Fehler bei mir, denn mein Alltag wird von Selbstzweifel geformt. Ich bin nie wirklich da, immer in Gedanken an die Vergangenheit oder an die Zukunft. Ständig fällt mir etwas ein, was ich anders und vor allem besser machen hätte können. Und die meistgestellte Frage in meinem Kopf ist momentan: „Bin ich vielleicht einfach nicht gut genug?"