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Gundulas Haus

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07.04.2012
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Gundulas Haus

Von gegenüber kam ein fremder Junge die Straße hoch. Er war vielleicht elf Jahre alt, damals 1969. Als er mich sah, zögerte er und blickte immer wieder unschlüssig zu mir herüber. Ich sprang von meinem Mauerpfeiler hinunter und ging nach links, so dass sich unsere Wege kreuzten.
„Na du?“
„Na?“, antwortete er.
„Wo kommst du denn her? Ich hab’ dich hier noch nie gesehen.“
Er deutete auf das zweite Haus in der Reihe, hinunter zur Ilmenau, einem kleinen Fluss. „Ich wohn’ jetzt da unten bei Cohrs.“
Mit seinen Sommersprossen und den ausgeprägten Wangenknochen sah er mich verschmitzt an. Mit einer geschickten Kopfbewegung warf er eine helle Strähne zurück.
„Bei Cohrs? Ist das nicht der Bauer links daneben?“, fragte ich.
„Ja“, sagte er, „dem gehört das alles.“
„Und wie heißt du?“
„Andreas, und du?“
„Holger“, antwortete ich, „und wo willst du hin?“
„In die Pachthofklause.“
Ich staunte: „Darfst du da etwa schon hin?“
„Klar“, meinte er, „ich geh’ da Pommes frites essen. Meine Mutter ist arbeiten und mein Vater wohnt ziemlich weit weg.“
„Geschieden?“
„Ja.“
„Und wie kommst du zuhause rein?“, fragte ich. Da zog er an einem Band, das er um den Hals trug und ließ einen Bartschlüssel hin und her tanzen. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Weder durfte ich alleine in den Pachthof, wo nur Bauern bei Köm und Bier saßen, noch mit eigenem Haustürschlüssel herumlaufen. Wozu auch, bei uns war ja immer jemand da. Und dann alleine essen gehen. Dafür hatte ich weder Geld noch Traute. Der Kleine imponierte mir.
„Kommst du mit?“, fragte er.
„Ich weiß nicht...was kosten denn die Pommes frites?“
„Sechzig Pfennig, mit Tomatenketchup siebzig“
Ich grub Fünfundvierzig Pfennig und ein paar Fusseln aus meiner Hosentasche: „Das reicht nicht“, entgegnete ich enttäuscht.
„Ach“, sagte er, „den Rest kannst du von mir haben.“
Wir bummelten los. Unterwegs kamen wir an einigen Höfen vorbei.
„Hier bin ich schon oft zum Spielen gewesen“, erzählte ich ihm und zeigte auf ein altes Bauernhaus mit drei riesigen Eichen davor.
„Und mit wem?“, wollte er wissen.
„Mit Gundula Bergauf, der Tochter, die ist ein bisschen älter als wir. Ich hab’ da sonst nie jemanden gesehen, die war immer alleine zuhause.“
Er runzelte die Stirn: „Und was habt ihr so gemacht?“
„Ach, eigentlich gar nichts, nur so rumgehangen. Ich durfte auch mit rein und wir haben dann mit dem Telefon gespielt.“
„Wie gespielt?“
„Na ja, sie hatte ihre Freundin angerufen und mir dann den Hörer gegeben. Dann haben wir dummes Zeug gequatscht. Bei uns zuhause, da hatten wir noch kein Telefon. Einmal haben wir den Hörer vor' s Radio gehalten und ihrer Freundin Musik vorgespielt. Dann hat sie wiederum den Hörer ans Radio gehalten, aber da kamen nur Nachrichten.“
„Lass uns doch mal hin!“
„Nee, lieber nicht.“
„Wieso denn nicht?“
„Ach“, erwiderte ich, „die war zum Schluss so komisch, bin nicht mehr hin gegangen und ich hab’ ja auch genug Freunde.“
Wir trödelten weiter und saßen kurz darauf im Pachthof, aßen Pommes frites, niemand störte sich an uns. Auf dem Rückweg kamen wir wieder an Gundulas Haus vorbei.
„Lass uns doch einfach mal rein geh’n“, bohrte Andreas noch mal nach, „so komisch wird sie ja nun auch nicht gewesen sein.“
„Das sagst du“, entgegnete ich, „Ich war ja noch kleiner, ungefähr neun und ich mochte sie irgendwie, daher hing ich an ihr wie eine Klette und ging ihr immer hinterher. Sogar auf’ s Klo!“
Er prustete und lachte, bog sich wie ein Diener und rief laut: “Auf´s Kloooo?!“, da hielt er sich schnell die Hand vor den Mund und sah sich erschrocken um, aber wir waren allein.
„Ja ... ich meine natürlich nicht mit rein, sondern davor. Zuerst hat sie mich noch weggestoßen und gesagt ich soll ihr nicht immer hinterherlaufen. Aber sie hat das nicht ernst gemeint und dabei gelacht.“
„Ja, und dann?“
„Ja, dann stand ich vorm Plumpsklo und sie war drin.“
Vom vielen Lachen bekam er Schluckauf: „Was wolltest du denn da?“, man konnte ihn kaum verstehen, auch ich musste jetzt lachen.
„Gar nichts, ich wollte, dass sie wieder raus kommt. Ich hab’ mir wirklich nichts dabei gedacht, als ich durch den großen Spalt guckte, sie hatte die Tür ja gar nicht richtig zugemacht!“
Er sah mich mit großen Augen erwartungsvoll an: „Ja, was hat sie denn da nun gemacht, hat sie auf dem Klo gesessen?“
„Nein, gestanden und sie hatte sich vorher ganz ausgezogen.“
„Sie war nackt!?!“, schrie er. Eine Bäuerin, die gerade mit dem Fahrrad vorbeifuhr, schüttelte den Kopf.
„Ja, und sie hat die Tür auch noch ganz aufgemacht. Ich bin dann schnell nach Hause gelaufen.“
„Hast du alles gesehen?“
„Alles.“
„Warum hat sie das wohl gemacht?“, fragte er mich.
„Vielleicht wollte sie ausprobieren, ob sie aus dieser Höhe noch trifft?“
„Ziehst du dich auf dem Klo ganz aus?“
„Nee“, antwortete ich, „oben rum behalte ich alles an“, und nach einigem Nachdenken, „die Schuhe behalte ich auch an.“
„Hatte sie Schuhe an?“
„Nö.“
Die Bäuerin unterhielt sich mit einer Frau auf dem Gehweg und zeigte mit ihrem Daumen über die Schulter in unsere Richtung. Als wir an ihnen vorbei kamen, grüßten wir frech. Nach ein paar Metern hat Andreas so laut gerülpst, dass es ihm weh tat. Im Weglaufen hörten wir empörtes Schnattern, verstanden aber nur das Wort Zugereiste.

Am nächsten Tag besuchte ich ihn. Er wohnte mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester Tina, in einem alten, reetgedeckten Fachwerkhaus, mit niedrigen Räumen. Sein Zimmer war eine einzige Vogelvoliere, dort züchtete er Kanarienvögel. Ging man ums Haus, kam man an einen ehemaligen Hühnerstall, in dem sich jetzt seine Meerschweinchen tummelten.
„Wow!“, staunte ich nicht schlecht, „du hast ja richtig viele, Rosetten und alles...“
„Sechzehn“, sagte er, „alles durcheinander.“
„Ich darf nur zwei haben, zwei Weibchen.“
Es war ein Piepsen und Quietschen. Dabei raschelten die Tiere im Stroh.
„Wollen wir mal zu Gundula?“, quengelte er. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, schließlich war ich schon lange nicht mehr da gewesen.
„Lass uns doch mal hingucken, vielleicht dürfen wir rein. Ob sie da immer noch alleine wohnt?“, fragte er.
„Man sieht dort eigentlich nie jemanden“, erwiderte ich, „irgendwie komisch ist das schon.“
„Ja, los, denn komm“, er stand auf und ging zur Stalltür, die Mucki’s flitzten zur Seite. Zögerlich ging ich mit.
Wenig später standen wir vor Gundulas Haus auf der Straße, es war ja nur einen Kilometer entfernt.
„Woll’ n wir nicht lieber in den Pachthof?“, ich zeigte auf die kleine Klause, rechts neben Gundulas Hof.
„Nöö, jetzt wo wir schon hier sind ... “, er war aufgeregt.
Wir lungerten auf der Hofeinfahrt herum und mogelten uns langsam Richtung Haustür. Auf dem freien Platz vor dem Gebäude standen keine Autos. Es war auch sonst nicht viel zu sehen. Der Vorplatz sah aufgeräumt aus, keine Schubkarre, die herumstand, kein leerer Eimer, der im Wind umherkullerte und keine Mistforke, die an einer Mauer lehnte. Der Rasen war gemäht und die Sandflächen waren auf Muster geharkt.
Die große, hölzerne Tür wirkte durch ihre Höhe wie ein Kircheneingang.
„Klingel mal“, sagte er, „du kennst dich doch hier aus.“
„Da muss man hier ziehen“, erklärte ich ihm und zeigte auf einen Eisenbügel, der an einem Band hing, das aus einem Loch in der Wand kam. Er zog sofort mehrmals.
„Was woll’n wir denn sagen wenn einer kommt?“, gab ich zu bedenken.
„Na, dass wir Gundula besuchen wollen“, erklärte er und zog noch mal. Drinnen schellte es gedämpft.
„Keiner da“, sagte ich etwas erleichtert. Da stieß er mit dem Fuß sachte gegen die Haustür und sie wich knarzend zurück.
„Die ist ja offen!“, staunte er, „Komm, wir gucken mal ´rein.“ Jetzt packte mich auch die Neugier und wir lugten beide, die Köpfe übereinander, durch den Spalt. Aber drinnen war es zu dunkel.
„Wieso haben die denn am hellen Tage die Vorhänge zu“, wunderte er sich. Darauf hatte ich keine Antwort. Wir schickten uns an, die Tür weiter zu öffnen, da keifte es von der Straße her: „Watt hebbt’s denn dor tau gaffen? Sei man tau dat se to huus kümmt, Rotzbengels. Moog man leevens Schaularbeeden, faules Pack!“

- Was habt ihr denn da zu gaffen? Seht mal zu, dass ihr nach Hause kommt, Rotzbengels. Macht mal lieber Schularbeiten, faules Pack! -

„Wir haben Ferien“, konterte Andreas in perfektem Hochdeutsch. Die Bäuerin hielt sich an ihrem Fahrrad fest.
„Ist das die von gestern?“, raunte Andreas.
„Keine Ahnung“, flüsterte ich zurück, „die sehen irgendwie alle gleich aus, mit ihrem Kopftuch, der blauen Kittelschürze und ´nem dicken Arsch.“
Er lachte hell auf: „und denn auch noch das gleiche Fahrrad!“
„Und immer fein in Gummistiefeln“
Die Bäuerin legte den Kopf schief: „Sei kümmt doch wohl ut dem Schwatten Weech, Dor wullt wi doch mol kieken, wat dien Öllern dortau snacken tun!“

- Du kommst doch wohl aus dem Schwarzen Weg, da wollen wir doch mal sehen, was deine Eltern dazu sagen werden. -

Das war auf mich gemünzt. Sie stieg auf ihr Fahrrad und schimpfte im Wegfahren: „Jürmehr sünd woll mit m Kopp inne Haupresse kamen, Dööspaddels!“

- Ihr seid wohl mit dem Kopf in die Heupresse gekommen, Doofköppe. -

„Mensch, Alte, geh’ Bohnenpflücken“, raunte mir Andreas zu.
„Klei di an´n Mors“, - Leck mich sonstwo - rief ich hinterher, als sie es nicht mehr hören konnte.
„Komm, wir hau’ n ab“, stieß ich aus und wollte gehen, aber er hielt mich am Ärmel fest.
„Die tönt doch nur, komm, wir gucken mal, wo sie rauffährt.“
Wir liefen zur Straße und sahen gerade noch wie sie bei Steins auf den Hof einbog.
„Sieh’ ste“, war Andreas erleichtert, „die macht das nie und nimmer.“
So wendeten wir uns wieder der Tür zu. Ohne weitere Faxen schlüpften wir hinein. Unsere Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, es roch süßlich und so merkwürdig fad. Nach einer Weile sahen wir, dass die Diele hergerichtet war. In der Mitte stand ein großer Tisch. Auf ihm viele Blumen um eine große lange Kiste. An einer Seite des Raumes waren Stühle aufgestellt, wie in der Schule, daneben bereit gestellte Tischchen. Es war kühl. Die Kiste war oben offen und man sah von der Seite her eine blasse, spitze Nase. Wir erstarrten.
„Ach du Scheiße, das ist ein Sarg!“, ich erschauerte, „und da liegt ein Toter drin.“
„Wer ist das denn?“, fragte Andreas im Flüsterton.
„Woher soll ich das wissen?“, meine Stimme war unangenehm laut, „Ich war seit Jahren nicht mehr hier!“
„Lass uns mal reingucken“, forderte Andreas.
„Spinnst du?“, empörte ich mich, „Wir machen jetzt lieber, dass wir weg kommen, bevor man uns noch erwischt. Komm, wir hau’ n ab!“
Ich wendete mich zur Haustür und zog Andreas am Ärmel mit, es war mir ernst.
Plötzlich kamen von der Straße her Geräusche. Wir liefen an ein Fenster und schoben den Vorhang zur Seite um sehen zu können, was da los war. Das Blut schoss in meinen Kopf und mir wurde schlecht. Andreas war kreidebleich. Draußen fuhren mehrere Autos majestätisch langsam auf den freien Platz vor' m Haus, sie waren alle frisch gewaschen und glänzten in der Sonne. Einige standen schon sorgfältig in Reih’ und Glied an der Hausmauer neben der Tür. Unter ihnen auch ein schwarzer, langer Kombi mit goldenem Ährenkranz im Fenster. Es waren auch schon die ersten Gäste ausgestiegen und kamen gemächlich an die Tür. Alle schnieke in schwarzen Anzügen, die Frauen mit verheulten Augen und immer das Taschentuch in der Hand. Einer der Herren schaute in unsere Richtung und schien uns bemerkt zu haben. Das war unser Zeichen zur Flucht!
Andreas lief nach links und polterte in die Stühle, aber ich nach rechts.
„Hier lang!“, zischte ich, „In Gundulas Zimmer!“
Er stieß fahrig einen weiteren Stuhl um und rannte quer durch die Diele, rempelte den Sarg an. In dem Moment, als die Haustür aufschwang, schloss sich Gundulas Zimmertür hinter uns.

Keuchend und starr vor Schreck erwarteten wir das jüngste Gericht. Durch die Tür hörten wir Klappern und Stühle rücken, gedämpftes Gemurmel. Ruckartig fuhren wir herum, als über Eck von einer zweiten Tür her lautes Tellergeklapper und Stimmen zu hören waren.
„Dahinter ist die Küche“, klärte ich Andreas auf.
„Man, das ist ja das reinste Volksfest“, regte er sich auf, „wie kommen wir denn jetzt hier weg?“
„Keine Ahnung“, ich zuckte mit den Schultern.
Gundulas großes Zimmer war sauber aufgeräumt, Mädchenzimmer eben. Gegenüber der Dielentür waren zwei Fenster zum Pachthof hin, von dort kam Schimpfen und Jammern. Wir lugten durch die Vorhänge und sahen eine kräftige Frau, die einen torkelnden Mann an seinem Ohrläppchen aus dem Pachthof zog.
„Wenn man dir EINMAL etwas aufträgt ... du solltest Totenwache halten!“, sie zog stärker.
„AuAuOOOhhhh!!“
„Statt dessen besäufst du dich in der Klause. Die Tür stand auch noch offen! Wenn man EINMAL eine Kleinigkeit von dir verlangt ... na warte, du kannst was erleben. Wehe du lässt dich bei der Trauergemeinde blicken, ich sperr dich ins Kinderzimmer, da schläfst du deinen Rausch aus!“ Der Mann folgte jammernd und torkelnd.
„Mensch, das ist hier!“, rief Andreas, „Wir müssen uns verstecken!“
In einem Mauerwinkel, neben einer Kommode, fanden wir Deckung, da polterte die Küchentür auf. Der Betrunkene fiel auf das Bett und blieb schnaufend liegen.
„Die Dielentür schließ ich ab“, murmelte die Frau, der Schlüssel steckte und sie ließ ihn dort, das war gut.
„Die Küchentür auch, na warte Bürschchen...“, sie ging hinaus und schloss von der Küche her ab, das war schlecht. Der Mann fing an, laut zu schnarchen. Es roch nach frisch gebackenem Butter- und Streuselkuchen und nach Kaffee.

„Lass’ uns aus dem Fenster abhauen“, flüsterte Andreas, ich nickte. Als wir eines fast auf hatten, fing die Gemeinde an zu singen ‚Lobet den Herrn’. Das Schnarchen stockte. Wir beeilten uns ohne weitere Rücksichtnahme und sahen hinaus ... in einen tiefen Kelleraufgang, keine Chance hier raus zu kommen. Wir stürmten jetzt in Panik zum zweiten Fenster und rissen die Flügel auf. Das ganze Zimmer stank jetzt nach Schnaps und der Säufer drehte sich hinter uns unruhig hin und her. Als wir gerade hinaus springen wollten, ertönte eine tiefe, gutmütige Stimme:
„Na, Holger? Watt mokt jümehrs denn dor?“ - Was macht ihr denn da? -
Ich glitt von der Fensterbank zurück in den Raum und sah in das runde, rote Gesicht vom Malermeister Oberdieck. Er hatte sein Moped unter dem Fenster abgestellt und wollte gerade zum Friedhof.
„Wir spielen Verstecken“, log Andreas.
„Na denn, grüß mol dien Öllern“ - grüß mal deine Eltern -
„Mook wi“, sagte ich. - machen wir -
„Het is denn am seuken?“, - Wer ist denn am suchen? - fragte er noch im Wegfahren.
„Gundula!“, riefen wir im Chor.
Da wäre der Malermeister beinahe vom Moped gefallen. Mit der einen Hand hielt er seinen Hut fest, mit der anderen zog er abrupt die Vorderbremse. Die Beine flogen nach vorn und das Hinterrad hob leicht ab. Dadurch kam er ins Schlingern und konnte einen Sturz gerade noch verhindern. Er wendete uns sein versteinertes Gesicht zu und meinte ernst:
„Kinners, Kinners, nu maaked keen Mumpitz mit de Ollsch. Ihr wollt doch einen alten Mann nicht veräppeln?“, er wartete auf Antwort, aber es kam keine, „Gundula kann niemanden mehr suchen, sie liegt im Sarg", er machte eine Pause.
„Sie hatte ein Loch im Herzen. Es ist nicht, wie es normal wäre, nach der Geburt zugewachsen. Beim Fahrrad fahren ist sie umgekippt, mit siebzehn.“
Er senkte den Kopf und nickte andächtig vor sich hin.
Wir waren einfach nur still.

 

Hallo Elfenweg!

Eine angenehm zu lesende Geschichte hast du geschrieben. Da erleben zwei zusammen ein kleines Abenteuer, das mit einer traurigen Nachricht endet.

„Nein, gestanden und sie hatte sich vorher ganz ausgezogen.“
„Sie war nackt!?!“, schrie er.
Das begründet sehr gut, warum der Besuch bei Gundula für Andreas so zur fixen Idee wird.

An einem schönen Tag in den Sommerferien 1969, ich war zwölf Jahre alt, saß ich auf einem Mauerpfeiler vor unserem Haus und langweilte mich.
Den ersten Satz finde ich irgendwie lahm, wegen ihm hätte ich fast nicht weitergelesen. Da würde ich vielleicht mit einer Handlung einsteigen, die die Langeweile des Jungen zeigt. Auch die Phrase "an einem schönen Tag" kling zu abgenutzt.

Mit einer geschickten Kopfbewegung warf er eine helle Strähne zurück, die vor den wasserblauen Augen war.
Auch hier finde ich die "wasserblauen Augen" ein wenig zu Klischeebeladen. Reicht da nicht einfach nur blau? Wasserblau ist außerdem beinahe wertend, als fände der Junge Interesse an dem andren, wie es ein Mädchen täte. Mir war auch bis zur namentlichen Vorstellung der beiden nicht klar, ob der Erzähler ein Junge oder Mädchen war.

Andreas war kreidebleich erstarrt
Erstarren bezieht sich auf den Körper, und das kreidebleich auf die Hautfabre, beides zusammen, also kreidebleich erstarren geht irgendwie nicht. "Andreas erstarrte und wurde kreidebleich" ginge eher.

Wir beeilten uns ohne weitere Rücksichtnahme und sahen hinaus...in einen tiefen Kelleraufgang
Warum drei Punkte? Formal gehören vor und nach drei Punkten Leerzeichen.

Ich hab’ die ganze Nacht geheult.

Bis heute rätsele ich darüber nach, was sich der liebe Gott dabei gedacht hat, mir beim letzten

Hum ... an den letzten Sätzen störe ich mich genauso wie an den ersten. Ich denke, die könnten auch weg, und die Geschichte bliebe trotzdem rund. Oder du zeichnest noch eine Szene über die Trauer und den Schock des Jungen, seine frühere Freundin verloren zu haben.

Ganz gerne gelesen.

Timo

 

Hallo Elfenweg,

im Vorfeld erst einmal das Textliche:

An einem schönen Tag in den Sommerferien 1969, ich war zwölf Jahre alt, saß ich auf einem Mauerpfeiler vor unserem Haus und langweilte mich.
Der Anfangssatz ist, wie meine Vorposterin schon schrieb, eher unglücklich gewählt. Hier wäre es wirklich sinnvoller, wenn du ein wenig die Stimmung, nämlich die Langeweile, aufbauen würdest.

Von gegenüber kam ein fremder Junge die Straße hoch. Er war etwas kleiner und ein wenig jünger. Als er mich sah, zögerte er und blickte immer wieder unschlüssig zu mir herüber. Ich sprang hinunter und ging nach links, so dass sich unsere Wege kreuzten.
Für meinen Geschmack ein wenig zu viele Adjektive, wodurch dass Ganze dann auch etwas unbeholfen klingt.
Mit seinen Sommersprossen und den ausgeprägten Wangenknochen sah er mich verschmitzt an. Mit einer geschickten Kopfbewegung warf er eine helle Strähne zurück, die vor den wasserblauen Augen war.
Hier ebenfalls. Ich finde, der Text käme auch gut mit weniger aus.

„Andreas, und du?“
Hmmm, ich kenne mich jetzt nicht so mit Namen aus, aber die Geschichte vermittelt den Eindruck, als spiele sie in einer etwas zurückliegenden Zeit. Da wirkt der Name Andreas für mich doch etwas zu modern.


„Und wie kommst du zuhause rein?“, fragte ich, da zog er an einem Band, das er um den Hals hatte und ließ einen Bartschlüssel hin und her tanzen.
Ich Punkt Neuer Satz. Außerdem finde ich hier den zweiten Satz sehr ungelenkig. Besser wäre wohl "das er um den Hals trug."
„Wie gespielt.“
Fragezeichen
Einmal haben wir den Hörer vors Radio gehalten und ihrer Freundin Musik vorgespielt.
vor's
Wir trödelten weiter und saßen kurz darauf im Pachthof, aßen Pommes Frites, niemand störte sich an uns. Das war’s.
Das war's würde ich weg lassen.
Auf dem Rückweg kamen wir wieder bei Gundulas Haus vorbei.
„Lass uns doch einfach mal rein geh’n“, bohrte Andreas noch mal nach, „so komisch wird sie ja nun auch nicht gewesen sein.“
Hier kann ich Andreas Eifer noch nicht ganz verstehen. Schließlich weiß er ja noch nicht, dass Holger sie nackt gesehen hat. Wieso will er also unbedingt hin?

Er prustete und lachte, bog sich wie ein Diener und rief laut:

“Auf’´ s

„Ja,...ich
Komma weg, nach Dreipunkt Leerzeichen
und gesagt ich soll ihr nicht immer hinterherlaufen. Aber sie hat das nicht ernst gemeint und dabei gelacht.“
nach gesagt Komma
Vom vielen Lachen bekam er Schluckauf: „Was wolltest du denn da?“, man
Komma weg, man groß

„Gar nichts, ich wollte dass sie wieder raus kommt.
wollte Komma

Irgend etwas war anders als sonst, aufgeräumter, keine Schubkarre, die herumstand, kein leerer Eimer, der vom Wind umherkullerte und keine Mistforke, die an einer Mauer lehnte. Der Rasen war gemäht und die Sandflächen waren auf Muster geharkt.
Wenn er doch genau weiß, was anders ist, nämlich dass es auferäumter ist etc. ist doch nicht irgendetwas anders.


„Was woll’n wir denn sagen wenn einer kommt?“,
sagen Komma
„Ach du Scheiße, das ist ein Sarg!“, ich erschauerte, „und da liegt ein Toter drin.“
Bereits hier hatte ich den Verdacht, dass Gundula nicht mehr unter den Lebenden weilt

Andreas war kreidebleich erstarrt.
Es ist zwar klar, was du hier meinst, ich empfinde es trotzdem als sehr ungünstig formuliert. Evtl. fällt dir hier noch etwas besseres ein.
vorm Haus
vor'm

„Hier lang!“, rief ich ihm zu, „In Gundulas Zimmer!“
rufen erscheint mir hier doch etwas zu laut, schließlich würden das die Leute drausen hören. Zischen wäre wohl etwas besser.
„Das ist die Küche“, klärte ich Andreas auf.
Warum muss Andreas darüber aufgeklärt werden? Normalerweiße erkennt man doch eine Küche als solches.
„Statt dessen besäufst du dich in der Klause.
Stattdessen
verlangt...Na warte
Vor na ein Leerzeichen
aus!“, der Mann
Komma weg, der groß
hinaus...in
Vor in Leerzeichen

„Na, Holger?, watt mokt jümehrs denn dor?“
Komma weg, groß weiter, oder Fragezeichen weg

So, dass wars am textlichem Kram. Allgemein hast du gute Einschübe, die die Mentalität gut rüber bringen, an deren Stellen wirken deine Formulierungen hingegen unsicher und holprig. Dadurch vermiest du stellenweiße die Stimmung.

Inhaltlich habe ich nur anzumerken, dass mir eben recht früh klar war, wer da im Sarg liegt und damit die Spannung verloren geht. Das Ende ist zu vorhersehbar. Ansonsten habe ich jedoch nichts anzumerken.

Trotzdem habe ich deine Geschichte gerne gelesen :)

LG
Djenalýz

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi TimoKatze, Hi, und herzlich willkommen bei Kg.de Djenalýz,

erstmal vielen Dank an euch beide, dass ihr die Mühe nicht gescheut habt, meine Geschichte genauer unter die Lupe zu nehmen. In fast allen Punkten stimme ich euch im Nachhinein zu.

aber, an Timokaze: - und sahen hinaus...in einen tiefen Kelleraufgang
der Dreipunkt soll die Schrecksekunde darstellen
und an Djenalýz: -„Das ist die Küche“, klärte ich Andreas auf.
- Dahinter ist die Küche, hätte es heißen müssen, denn ich meinte ja die Tür. Ist von mir unglücklich formuliert
- TimoKatze ist laut Profil männlich

Ihr Lieben, das Gröbste mach ich gleich.
Liebe Grüße

Elfenweg

 

Hi Elfenweg,
bin beim Stöbern auf deine Geschichte gestoßen, und gebe jetzt mal meinen Senf dazu. ;)
Gut, ich gebe dir einfach mal meine subjektiven Eindrücke, vielleicht helfen sie dir weiter, oder bestärken dich, keine Ahnung.

Kleiner Fehler:

Wir trödelten weiter und saßen kurz darauf im Pachthof, aßen Pommes frites
ist mir nur so aufgefallen.
Da zog er an einem Band, das er um den Hals trug und ließ einen Bartschlüssel hin und her tanzen.
Also an viele Ausdrücken merkt man, dass es deine Zeit war, aber was ist denn ein Bartschlüssel? Ich weiß das echt nicht ;)
Auch das mit dem Plumpsklo, dem Telefon, die ganze beschriebene bäuerliche Gesellschaft mit den meckernden Frauen und der Leichenschau die man heute (zumindest bei uns?) gar nicht mehr kennt, das macht die Geschichte authentisch für das Jahr 1969, und irgendwie hat es das für mich so interessant gemacht, eine kleine Zeitreise, das hat mich bei der Geschichte gehalten. Der lockere Schreibstil hat das unterstützt.
„Gar nichts, ich wollte, dass sie wieder raus kommt. Ich hab’ mir wirklich nichts dabei gedacht, als ich durch den großen Spalt guckte, sie hatte die Tür ja gar nicht richtig zugemacht!“
Er sah mich mit großen Augen erwartungsvoll an: „Ja, was hat sie denn da nun gemacht, hat sie auf dem Klo gesessen?“
„Nein, gestanden und sie hatte sich vorher ganz ausgezogen.“
„Sie war nackt!?!“, schrie er.
Die Faszination kleiner Jungs für nackte Mädchen ist woh lauch kein temporär beschränkter Trend.
Der Rasen war gemäht und die Sandflächen waren auf Muster geharkt.
Auf Muster gehackt? Da hatte ich irgendwie kein Bild vor Augen.
„Watt hebbt’s denn dor tau gaffen? Sei man tau dat se to huus kümmt, Rotzbengels. Moog man leevens Schaularbeeden, faules Pack!“
Also ich muss gestehen, das war ein großes Manko der Geschichte, ich komme hier aus Franken, und ich habe echt beim besten Willen kein Wort von dem Dialekt identifizieren können (Illmenau, keine Ahnung was das für ein Dialekt ist?)
es roch süßlich und so merkwürdig fad.
Wie riecht denn fad?
Ich wendete mich zur Haustür und zog Andreas am Ärmel mit, es war mir ernst.
Plötzlich kamen von der Straße her Geräusche. Wir liefen an ein Fenster und schoben den Vorhang zur Seite um sehen zu können, was da los war. Das Blut schoss in meinen Kopf und mir wurde schlecht. Andreas war kreidebleich. Draußen fuhren mehrere Autos majestätisch langsam auf den freien Platz vor' m Haus, sie waren alle frisch gewaschen und glänzten in der Sonne. Einige standen schon sorgfältig in Reih’ und Glied an der Hausmauer neben der Tür. Unter ihnen auch ein schwarzer, langer Kombi mit goldenem Ährenkranz im Fenster. Es waren auch schon die ersten Gäste ausgestiegen und kamen gemächlich an die Tür. Alle schnieke in schwarzen Anzügen, die Frauen mit verheulten Augen und immer das Taschentuch in der Hand. Einer der Herren schaute in unsere Richtung und schien uns bemerkt zu haben. Das war unser Zeichen zur Flucht!
Andreas lief nach links und polterte in die Stühle, aber ich nach rechts.
„Hier lang!“, zischte ich, „In Gundulas Zimmer!“
Er stieß fahrig einen weiteren Stuhl um und rannte quer durch die Diele, rempelte den Sarg an. In dem Moment, als die Haustür aufschwang, schloss sich Gundulas Zimmertür hinter uns.

Keuchend und starr vor Schreck erwarteten wir das jüngste Gericht. Durch die Tür hörten wir Klappern und Stühle rücken, gedämpftes Gemurmel. Ruckartig fuhren wir herum, als über Eck von einer zweiten Tür her lautes Tellergeklapper und Stimmen zu hören waren.
„Dahinter ist die Küche“, klärte ich Andreas auf.
„Man, das ist ja das reinste Volksfest“, regte er sich auf, „wie kommen wir denn jetzt hier weg?“
„Keine Ahnung“, ich zuckte mit den Schultern.
Gundulas großes Zimmer war sauber aufgeräumt, Mädchenzimmer eben. Gegenüber der Dielentür waren zwei Fenster zum Pachthof hin, von dort kam Schimpfen und Jammern. Wir lugten durch die Vorhänge und sahen eine kräftige Frau, die einen torkelnden Mann an seinem Ohrläppchen aus dem Pachthof zog.

Das war mir irgendwie zu zäh. Da ist der Spannungshöhepunkt der Geschichte, es ist irgendwie auch klar, dass das Mädchen in dem Sarg liegt, da hatte ich mir das ganze etwas flotter voran gehen gewünscht. Ist zwar schon spannend, wie die Jungs dann auch eingeschlossen sind und so, aber ein flottereres Erzählen hätte hier der ganzen Situation mehr dieses hektische, panische Gefühl gegeben, das die Jungs hier wohl haben :)
„Sie hatte ein Loch im Herzen. Es ist nicht, wie es normal wäre, nach der Geburt zugewachsen. Beim Fahrrad fahren ist sie umgekippt, mit siebzehn.“
Er senkte den Kopf und nickte andächtig vor sich hin.
Wir waren einfach nur still.
Das Ende ist echt traurig.

Mein Fazit: Gerne gelesen, die Geschichte brachte mir einen interessanten Einblick in das ländliche Kinderleben der späten 60er (auch gerne mehr davon!). Mit den zwei Protagonisten kann sich, glaube ich, so ziemlich jeder ehemalige Junge identifizieren (zwei Freunde, der eine keck und neugierig, der andere ängstlich, diese Jungendfreundschaften durchläuft wohl fast jeder). Gut, der Dialekt macht die Geschichte authentisch, leider habe ich ihn nicht verstanden. War die ganze Zeit gut erzählt und beschrieben, allerdings am Spannungshöhepunkt etwas zu zäh.

Grüße zigga :)

 

Hi Zigga,
schön, dass du die Geschichte gelesen hast und sie dir auch etwas gefallen hat.
Und für die Mühe, deine Gedanken dazu, zu formulieren.
Also ein Bartschlüssel ist so ein altmodischer Schlüssel, den man heute nur noch als Zimmerschlüssel kennt http://de.wikipedia.org/wiki/Schlüssel
So sahen früher eben auch die Haustürschlüssel aus, total unsicher eben.
Auf Muster geharkt wurde immer nur bei besonderen Anlässen oder Feiertagen. Also z.Bsp. Fischgrät-Muster.
„Watt hebbt’s denn dor tau gaffen? Sei man tau dat se to huus kümmt, Rotzbengels. Moog man leevens Schaularbeeden, faules Pack!“
"Was habt ihr denn da zu gucken? Seht man zu, dass ihr nach hause kommt, Lausbuben. Macht mal lieber Schularbeiten, arbeitsscheues Gesindel!"
Die Ilmenau ist ein Fluss, entspringt in der Lüneburger Heide im LK Uelzen und fließt am Erzähldorf vorbei. Mündet bei HH in die Elbe. Sorry, dass die Ilmenau ein Fluss ist, hätte ich erläutern müssen. (hol ich nach)
Süsslich und fad riecht es tatsächlich in Räumen, in denen Tote liegen, war zeitweise im Klinikum tätig und weiß es aus erster Quelle. Kann den Geruch nicht besser beschreiben.
Ja, die Spannung nimmt etwas langsam Fahrt auf. Auch gibt es keinen eindeutigen Höhepunkt. Man kann es so sehen wie du, ein weiterer Höhepunkt wäre in der Szene mit dem unruhig sich drehenden Säufer im Nacken.
Mal sehen, wenn mir noch was einfällt, geh' ich nochmal ran.
bis dahin ...

Liebe Grüße

Elfenweg

 

Hi Maria,
danke für deine ehrliche Meinung.
Ich habe es tatsächlich authentisch rüberbringen wollen, hab's wohl doch übertrieben und weil schon andere Leser darüber gestolpert sind füge ich jetzt gleich mal in Klammern eine Übersetzung ein. Wäre sonst ja schade um den ungestörten Lesefluss.

aber man lernt nie aus.

danke, danke, danke für die Nackenschläge. Hab' sie gebraucht!

LG Elfenweg

 

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