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Gulaschkanonen und imaginäre Bademäntel
Es gibt Bilder, die einem nie aus dem Kopf gehen, auch wenn man es noch so sehr versucht sie zu verdrängen. Und in meinem hohen Alter von achtundachtzig Jahren sind es nur ausgewählte, die bleiben. Die Behindertenheime. Die Wohngruppen. Darüber will ich sprechen, aus gegebenem Anlass, weil mein Enkel und ich auf dem Weg zu meinem Urenkel Olli ins Behindertenwohnheim sind. Ich bin ein bisschen aufgeregt, natürlich weil wir Olli in seinem neuen Zuhause besuchen, aber auch weil ich seit über zwanzig Jahren in keinem Behindertenwohnheim mehr war.
Mein Enkel Ulrich, der seit Jahrzehnten seinen Führerschein hat, fährt nun als wolle er mich umbringen, brettert mit Siebzig durch den Ort. Ich frage ihn, ob er will, dass ich einen Herzinfarkt bekomme, da bremst er ab und fährt dreißig. Die Schnecken überholen uns und winken, aber in meinem Alter sollte man sich nicht mehr so viel aufregen, also lasse ich es gut sein.
Jahrzehntelang war ich als ungelernte Kraft selbst in diesen Heimen tätig. Mein Enkel ist Heilerziehungspfleger und im selben Bereich tätig, im Grunde wie auch Olli, der sich nur dort als Bewohner herumtreibt. Irgendwie scheint meine Familie es mit den Behinderten zu haben. Bereits als kleiner Bub hatte ich mit diesen Menschen zu tun, in der Nachbarschaft hatten wir einen Rollstuhlfahrer, einen mutistisch veranlagten Jungen, der nur mit ausgewählten Personen sprach und sonst stets schwieg. Er und ich hatten einen Draht zueinander, mit mir sprach er natürlich. Also wenn da nicht jemand von oben seinen eigenen Plan mit mir und meiner Familie geschmiedet hat, dann weiß ich auch nicht.
Ulrichs Sohn Olli wird erst seit kurzem in jenem Wohnheim beherbergt, zu dem wir jetzt auf dem Weg sind. Bis dahin hat er zuhause bei seinen Eltern gelebt. Mein Enkel Ulrich und seine Frau konnten den Aufwand mit dem Kleinen einfach nicht mehr bewerkstelligen. Ja, Olli kann schon ganz schön anstrengend sein, und vor allem arbeitsaufwendig. Das ist ein Sechzehnstundenjob (acht Stunden des Tages im Schnitt schläft er), mit Waschen, Anziehen helfen, Essen zubereiten, Spazieren gehen und so weiter. Und diesen musste Ulrichs abgespannte, übermüdete Frau hauptsächlich ganz alleine ausfüllen, da er selbst werktags behinderte Menschen in einem Wohnheim betreut. Jetzt ist die arme Frau ausgebrannt, Stichwort Burnout, dieses neumodische Wort für eine Depression. Olli ist übrigens zehn und Olli ist Autist, nicht Artist, Autist. Mit Vorliebe sammelt er Stöcker, dicke, dünne, gerade, unförmige, alle, um sie dann, nach der Länge geordnet, in seinem Zimmer auf dem Schreibtisch auszubreiten.
Ich erzähle jetzt meinem Enkel Ulrich von den Bildern von früher, als ich selbst in den Heimen tätig war, mein ganzes Leben.
Zu den Bildern. Auf einem: Mittagszeit. Die Schwester, mit der Gulaschkanone, wie sie auf dem Wagen umherblickt, sie hat reichlich überzählige Kilos und ein grimmiges Gesicht. Sie dreht auf dem riesigen Gelände ihre Runden und die Bewohner stehen drum herum, jeder einen Teller in der Hand. Sie schießt riesige Mengen Gulasch in die Atmosphäre, welche anschließend ihren Weg in die Mägen der Bewohner finden. Keiner fragt, ob das Gulasch gut schmeckt, weder die Bewohner und erst recht nicht die Köche der Einrichtung und die Helfer in den Wohngruppen. Hauptsache es gibt etwas zu essen. Noch nicht allzulange her.
Dann, noch ein ausgewähltes Bild. Männer stehen in einer Reihe im Badezimmer vor dem Mitarbeiter, alle nackt, bereit zum Duschen. Eine Dusche für alle Bewohner. Keiner von ihnen schert sich um einen Bademantel, keiner hat je etwas davon gehört. Die Bademäntel sind, wenn überhaupt, nur imaginär. Niemanden interessiert es, dass alle zusammenstehen, einander nackt sehen und unmittelbar nacheinander duschen. Sie sind es nicht anders gewohnt. Der Mitarbeiter verrichtet seine Arbeit, duscht einen nach dem anderen, rasch, ohne Emotionen.
»Konntet ihr denn da gar nichts machen?«, bricht mein Enkel jetzt sein Schweigen.
»Wir haben gemacht, was von uns verlangt wurde«, antworte ich.
»Irgendwo habe ich diesen Satz schon gehört. Ihr müsst euch doch Gedanken gemacht haben.«
»Manchmal«, sage ich und zucke jene Achsel, in der ich noch Gefühl habe.
Ein drittes Bild. Nur vorhanden in Erinnerungen, nirgends als wahrhaftiges Foto. Sehr lange her. Die dunkle Nazizeit. Die Nazis kommen in unsere Großeinrichtung, bewohnt von rund tausend geistig, seelisch und körperlich Behinderten. Sie wollen alle mitnehmen. Wollen vor keinem Erbarmen zeigen. Wollen alles für sie unwerte Leben auslöschen, um die arische Rasse weiter zu etablieren. Vor diesen Bildern schaudert es mir. Sogar mir, der ich nach all den Lebensjahren so abgestumpft bin. Wir waren nicht untätig, wussten wann sie kamen. Einige nahmen wir mit nach Hause. Anderen gaben wir Kleidung von uns, gute Kleidung, in der Hoffnung, dass sie als Mitarbeiter durchgingen. Das konnten wir nicht mit allen machen, das wäre auffällig gewesen. Ein paar konnten wir so retten, viele gingen aber einfach nicht als Mitarbeiter durch, als sie schließlich da waren. Sie machten allzu auffällige Schaukelbewegungen in alle Richtungen oder lautierten ständig oder bissen sich in die Hand oder, oder, oder. Einigen sah man es am Gesicht an, den Mongoloiden zum Beispiel.
»Das ist abwertend, Opa«, unterbricht mich Ulrich.
»Hm?«
»Das heißt jetzt Down-Syndrom. Nein, warte. Das ist auch schon veraltet. Es heißt jetzt, glaube ich, Trisomie 21. Und außerdem, man sagt nicht mehr Behinderte oder gar Schwachsinnige, man sagt Menschen mit Behinderung.«
»Und welchen Unterschied macht das?«, frage ich meinen altklugen Enkel.
»Die neuen Begriffe klingen wertschätzender.«
»Achso«, antworte ich, bereit auch in meinem hohen Alter noch das ein oder andere zu lernen.
Abschließend, mein Kommentar: Sie nahmen viele mit, die mit den harten Antlitzen und den Uniformen, viel zu viele. Keinen hätten sie mitnehmen dürfen, keinen. Und dabei rutscht mir eine Träne vom Auge die Nase hinunter. Und mein Ulrich, eigentlich der beste Enkel den man sich nur vorstellen kann, wenn ich´s genau bedenke, schnappt nach der Träne und wischt sie mir von der Nase. »Ach Opa.«
»Konzentrier dich auf den Verkehr«, winsele ich, wie alte Männer das manchmal so tun. Ich will ihm noch von den überfüllten Schlafsälen, den häufig unnötigen Fixierungsmaßnahmen erzählen, beschließe dann aber, dass es fürs Erste reicht.
Ich versuche das Thema zu wechseln. »Oh, eine hübsche Frau, die da den Zebrastreifen überqueren will. Für die musst du anhalten.«
»Nach deiner Zeit.«
Ich schaue ihn an, er erwidert meinen Blick, während er für die junge Dame abbremst, und ich beginne aus vollem Herzen zu lachen. Dann muss ich husten, lange, und das Grinsen meines Enkels wechselt zu einem besorgten Gesichtsausdruck. Ich fange mich wieder, für ihn.
»Na los, steig aus und frag sie nach ihrer Nummer.«
»Du spinnst doch, Opa, ich bin verheiratet.«
Ich atme schwer aus, schließe für einen Moment die Augen und wünsche mir noch einmal so jung zu sein wie mein Enkel, obgleich er auch schon ein paar Falten im Gesicht hat. Ich öffne sie wieder und schaue hinab auf meine Hand. Immer noch verrunzelt, steif.
Keine Minute später halten wir auf einem winzigen Parkplatz inmitten einer Wohnsiedlung. Wir befinden uns in einem Dorf, dessen Namen ich nicht kenne, wo ich den Standort nur vermuten kann. Das Wohnheim vor uns könnte auch ein Mehrfamilienhaus sein, in jedem Falle gefällt es mir von außen schon mal.
Ulrich und ich tauschen im Auto einen langen Blick.
»Vergiss nicht, Opa«, sagt Ulrich. »In einem Behindertenheim ist das nicht schön, da herrschen raue Verhältnisse, du könntest dich da gleich schrecklich unwohl fühlen.«
»Weichei«, entgegne ich und öffne die Beifahrertür.
Plötzlich, als wir uns zum Gebäude begeben, verliere ich die Orientierung. Von einer liebreizenden jungen Mitarbeiterin werden wir durch einen langen, nur gelegentlich von kitschigen Couches und Rollatoren in allen Farben bevölkerten Handlauf geführt, einen nicht enden wollenden. Ich halte dennoch durch und laufe weiter neben meinem Enkel diesem jungen, hübschen Geschöpf hinterher. Mir kommt der Gedanke, ob ich unabsichtlich das Bewusstsein meines geistig behinderten Urenkels angenommen habe. Ich komme mir plötzlich wirklich sehr weltfremd vor.
Eine Tür folgt der nächsten, zieht an mir vorbei, links rechts, links rechts, bin ich in einer Endloshandlaufschleife gefangen? Beide, Ulrich und die Frau, wirken jetzt wie diese Außerirdischen aus den Filmen auf mich. Ich verstehe diese Welt nicht mehr, die Beweggründe warum jemand das und das tut, sehne mich nach mehr Struktur und Klarheit.
»Opa, ist alles in Ordnung?«, flüstert mein Enkel mir beim Gehen zu. Auch er scheint die Veränderung in mir bemerkt zu haben.
»Klaro«, sage ich, im Versuch den Sprachstil eines dieser sogenannten Jugendlichen nachzuahmen.
Plötzlich kommt eine dicke Frau in den mittleren Jahren aus einer Tür unmittelbar vor uns stolziert. Sie hat immense Wassereinlagerungen in Armen und Beinen. Das scheint das Wohnzimmer zu sein, wo jetzt einer nach dem anderen aus Neugier herauskommt. Da ist ein junger Mann, der ständig unheilverkündend das Wort »Hundekacke« flüstert. Eine junge Frau, ein echter Hungerhaken, kommt auf mich zugestürmt und umarmt mich. Sie kneift mir in die Wangen, knetet sie und sagt: »Süß siehst du aus, alter Mann!«
»Ronja!«, sagt die junge Betreuerin in einem bestimmten Ton, den ich nicht von ihr erwartet hatte.
Ronja lässt von mir ab und schaut die Mitarbeiterin leicht erstaunt an.
»Die beiden Herren wollen den Olli besuchen«, teilt die Mitarbeiterin nun den Bewohnern auf freundliche Art und Weise mit.
»Ah, Olli!« erwidert die Frau mit den Wassereinlagerungen interessiert.
Die Mitarbeiterin geht vor in Richtung Wohnzimmer und Ulrich und ich folgen, lächeln den drei Bewohnern dabei zu.
Wir erblicken Olli, als wir die Stube betreten, der auf dem Sofa sitzt und an einem Tisch mit Holzklötzchen einen Turm baut.
»Hallo, mein Sohn.« sagt Ulrich voller Rührung mit zittriger Stimme. Er steht unentschlossen vor ihm, doch beugt sich schließlich hinab und umarmt ihn eine Sekunde lang – Olli mag keine Berührungen.
Olli schaut seinen Vater an, schenkt dann mir einen Augenblick voller Neugier und widmet sich dann wieder seinen Bausteinen. Das war bereits viel für Olli, was das zwischenmenschliche Miteinander betrifft.
»Und wie geht es Olli so? Wie macht er sich?«, fragt Ulrich die junge Frau.
»Wunderbar, wirklich wunderbar. Er hat sich gut in die Gruppe integriert. Manchmal wird es ihm alles zu viel, wenn zu viele Leute auf einem Haufen um ihn rum sind, manchmal in der Essenssituation, aber dann sorgen wir dafür, dass er sich zurückziehen kann.«
»Das klingt doch gut«, meint Ulrich hoffnungsvoll.
Ulrich und ich schauen abwechselnd zu Olli und zur Mitarbeiterin, ich komme mir gerade irgendwie verloren vor, gar unnütz.
»Und wie geht es ihrer Frau?«, fragt sie teilnahmsvoll.
»Es wird, es wird. Sie braucht noch ein bisschen Ruhe. Aber ich glaube wir kriegen das hin. Wir sind ihnen jedenfalls unendlich dankbar, dass sie Olli hier aufgenommen haben.«
»Ach, das ist doch unser Beruf. Dafür werden wir schließlich bezahlt. Das ist nicht der Rede wert.«
»Doch, doch. Das ist es. Ohne mich jetzt selbst loben zu wollen, da ich ja auch Heilerziehungspfleger bin.«
»Ich auch. Also nicht wirklich. Aber ich komme aus dem Bereich, wissen Sie?«, werfe ich rasch ein, warum weiß ich auch nicht.
Plötzlich steht wieder das junge Mädchen namens Ronja neben mir. Scheinbar habe ich es ihr angetan.
Eine halbe Stunde später verabschieden wir uns von Olli. Zum Schluss wirkt er müde. Vielleicht hat ihn unser Besuch ja angestrengt, überlege ich.
»Immer wieder« sagt Ulrich, nachdem wir wieder ins Auto eingestiegen sind, wobei er es noch nicht gestartet hat.
»Immer wieder was?«
»Immer wieder frage ich mich, ob Olli meine Anwesenheit irgendwie registriert. Ob sie ihm etwas bedeutet.«
Ich schluchze auf. Mit so einem Satz hätte ich nicht gerechnet. »Ja. Sicher bedeutet ihm das was«, erwidere ich und glaube mir selbst, da ich daran glauben möchte und es von reinstem Herzen hoffe.
In der Nacht träume ich vom Wohnheim meines Enkels. Ich bin dort eingezogen, um ihm beizustehen. Es ist alles nicht annähernd so schön, wie ich es mir vorgestellt habe. Olli ist der einzige Lichtblick hier. Wenn wir gemeinsam in seinem Zimmer sitzen und er mir fröhlich seine Sammlung an Stöckern zeigt, erinnere ich mich daran, warum ich das alles auf mich genommen habe. Allerdings habe ich das Zimmer ganz auf der anderen Seite des langen Flurs bekommen, sodass ich nicht so häufig die Möglichkeit habe ihn zu sehen, wie ich gerne hätte. Olli mag mich wirklich gerne, aber ich frage mich ob ich ihm überhaupt eine Hilfe bin und ob er mich überhaupt so dringend braucht. Insgesamt scheint er sich mittlerweile recht wohl an diesem Ort zu fühlen. Zudem muss ich mich hier ständig verstellen, auf behindert tun, damit ich den Heimplatz nicht wieder verliere – das ist sehr anstrengend.
Mit den anderen Bewohnern des Heims verstehe ich mich insgesamt gut, ich weiß ja wie man mit ihnen umzugehen hat, obwohl zwei der Rabauken mir mein Taschengeld für die Cafeteria abgeluchst haben. Die Sitten sind teilweise wirklich rau in diesem Wohnheim, und wenn der Bewohner im Zimmer neben mir nicht endlich aufhört mit dem Kopf gegen die Wand zu hämmern und in ständig gleichem Ton zu lautieren, drehe ich bald völlig durch. Und gerade höre ich wie es im Wohnzimmer rumst, die eine hatte wohl wieder einen ihrer regelmäßigen epileptischen Anfälle, die trägt zum Schutz wegen ihrer Stürze so einen blauen Helm auf dem Kopf, fällt einfach um, wenn sie ein Gewitter im Hirn überkommt. Die sollten die endlich einmal medikamentös richtig einstellen.
Die haben mir auch ein paar Medikamente verschrieben, wie sich nicht umgehen ließ, weil hier jeder irgendeinen Dämpfer oder Stimmungsaufheller oder was auch immer bekommt. Man, die Medikamente hauen ganz schön rein, ich bin ständig müde und schlafe die meiste Zeit vom Tag.
Zu den Mitarbeitern kann ich sagen, dass ich die meisten von ihnen nicht leiden kann; die sind so abgestumpft wie ich damals. Nur den Hartmut kann ich leiden, der behandelt jeden Bewohner so, wie man jeden anderen Menschen außerhalb dieser Baracke auch behandeln würde. Ja, der Hartmut ist wirklich freundlich und korrekt und immer zu einem Späßchen aufgelegt. Aber die anderen … du meine Güte! Wenn mich nicht bald die Demenz erwischt und ich so werde wie die anderen hier, fange ich eines Tages einfach an zu sprechen und jage diesem … Arschloch von Jürgen, dem schlimmsten aller Mitarbeiter, einen Riesenschrecken ein. »Du, pfleg mich besser«, werde ich dann zu ihm sagen. »Oder wäschst du dich selbst zuhause auch so schlecht? Und ich will mir nicht ständig Fußball mit dir im Wohnzimmer anschauen, nur weil du ´ne Bayernsau bist. Ich mag eher so Ballett.«
Von all den hochtrabenden Begriffen des Wohnbereichsleiters, die ich immer mitlausche, ganz zu schweigen; wie Inklusion, Teilhabe und Empow … Em … ich kann dieses neumodische, englische Wort nicht aussprechen. Davon merke ich jedenfalls nichts. In gewisser Weise geht es den Bewohnern zwar besser als damals, aber ob viel besser, wie ich voll Trauer bemerke, da habe ich so meine Zweifel. Zwar habe ich mein Leben lang als Mitarbeiter in den Heimen verbracht und das alles, teils gezwungenermaßen, ins Herz geschlossen, aber hier leben, auf der anderen Seite stehen, das ist dann doch etwas ganz anderes. Man, denke ich, ich will zurück in die Freiheit.