Großvaters Geschichte
Wenn der Winter mit seinen dunklen Tagen über unser Dorf Mette her einbrach, der kleine See oberhalb des Gänseangers und auch das Flüsschen gleichen Namens zu fror, sich die Erde mit einem Kleid aus Schnee bedeckte, dann war die Zeit der Geschichten rund um den großen Ofen in der Küche gekommen. Auf dem Feld gab es nichts zu tun, das Vieh war versorgt, nur Mutter und die Magd trieben sich noch geschäftig im Haushalt umher, putzten, wischten, und kamen dann auch an den waren Ofen, der bollernde Hitze spendete, um die zerrissenen Kleider zu nähen und eifrig bei Kerzenlicht und flackernden Flammen den Geschichten zu lauschen und selbst welche zu spinnen.
Vor allem Brunotte, unser damaliger Knecht, wusste viel zu erzählen. Nicht nur, wie der Gendarm den Apotheker aus der Kreisstadt einmal verhaftet hatte, sondern auch, dass er einmal unsere allerhöchste Majestät, den Kaiser, von weitem gesehen hatte, als dieser gerade ein Manöver auf einem Feld nahe Mette besichtigte und dass vor 20 Jahren die Flügel unserer Mühle auf dem sanften Hügel oberhalb unseres Dorfes den kleinen Sohn des Müllers erschlagen hatten und auch. wie die zwei steinernen Kreuze, die heute am Turm unserer Kirche eingemauert stehen, vor vielen hundert Jahren einmal den Teufel aus Mette vertrieben haben sollen. Die schönsten Geschichten, die ich damals als kleiner Junge immer wieder hören wollte, waren aber die Geschichten von Großvater. Mutter ärgerte das sehr, wenn ich Großvater bat, sie doch noch einmal zu erzählen. "Das ist Heidenzeug und Hexerei. Das will ich nicht hören", pflegte sie immer zu sagen und Vater entgegnete, gemütlich seine Pfeife schmauchend, dann in seiner ruhigen, liebevollen Art: "Ach, lass den Jungen doch. Eine Geschichte kann nichts schaden." Vater war nicht sehr streng. Er lies bei mir, aber auch bei Brunotte und unserer Magd Anna sehr viel durchgehen.
Während Mutter dann ihre Nähsachen nahm und sich ärgerlich mit Nadel und Faden auf die Diele zurückzog, nickte auf meine Bitte Großvater gutmütig, stopfte sich gemächlich ebenfalls Tabak in seine Pfeife, zündete sie an, und lehnte sich zurück. "Deine Mutter mochte ihre Stiefmutter nicht allzu sehr", sagte er etwas dann betrübt, wenn Mutter aus Protest die Küche verlassen hatte. "Deshalb will sie auch die Geschichte nicht hören."
"Aber es ist doch eine sehr schöne Geschichte", wandte ich dann zumeist ein und Großvater nickte erneut. "Aber es ist auch eine traurige Geschichte. Ich will lieber von dem Stein erzählen, der vom Himmel fiel."
Das war eine andere Geschichte von Großvater. Als er noch selbst ein kleiner Junge war, musste er auf dem Feld seines Vaters bei der Ernte helfen. Eines Tages fuhr mit Donnergetöse direkt neben ihm etwas in den Boden und grub einen kleinen Krater. Großvater erzählte, wie er vor Angst nicht wusste, ob er weglaufen oder sich einfach nur schutzsuchend auf die Erde legen sollte. Offenbar hatte jemand mit einer Kanone geschossen. War schon wieder Krieg? Auch sein Vater und der Knecht hatten etwas gehört und kamen von der anderen Seite des Feldes heran gelaufen.
In dem frisch aufgeworfenen Erdloch lag ein schwarzer Stein. Großvaters Vater wollte ihn vorsichtig anfassen und verbrannte sich dabei die Finger. "Das hat der Teufel geschickt!" urteilte er daraufhin. Eine Feststellung, der sich später auch der Herr Pfarrer angeschlossen haben soll. Man kam überein, daß schwarze Ding wieder mit Erde zu zuschütten und sich nicht in Versuchung führen zu lassen. Doch die jugendliche Neugier siegte bei Großvater über die Angst vor dem Teufel. Er schlich sich einige Tage später heimlich abends hinaus und grub den schwarzen Stein wieder aus. Jetzt war der Stein ganz kalt, so kalt wie die Erde ringsherum.
Großvater hatte damals, als er seine Geschichten erzählte, den geheimnisvollen Stein noch besessen und ihn mir oft gezeigt. Es schien eine Mischung aus einem Stein- und Metallklumpen zu sein und ich hatte so etwas vorher noch nie gesehen. Mutter, um mir den Glauben an Großvaters Geschichten auszutreiben, fragte sogar einmal den Schulmeister danach, ob es so etwas wie Steine, die vom Himmel fielen, tatsächlich gebe. Der Schulmeister, ein pensionierter Feldwebel, von der Wissenschaft nicht sehr bewandert, konnte gerade die Bibel lesen, dazu etwas schreiben und rechnen und konnte mühselig Sonntags die Orgel mehr schlecht als recht spielen. Da er aber als Schulmeister nicht viel kostete, Lehrerseminare damals noch gänzlich unbekannt waren und er außerdem das in Mette gesprochene Platt verstand, war er als Lehrer gerade recht. Dieser Schulmeister hatte noch nie etwas von Steinen gehört, die vom Himmel fielen. Um mir diesen heidnischen Glauben auszutreiben, verdrosch er mich am nächsten Tag vor der versammelten Klasse.
Leider warf nach Großvaters Tod Mutter den Stein zusammen mit den "Hexenschmuck" weg, der noch von ihrer Stiefmutter stammte. Die Geschichte, wie Großvater seine zweite Frau kennen lernte, beeindruckte mich immer wieder. Heute weiß ich, dass Mutter Großvater nicht verzeihen konnte, so schnell nach dem Tod ihrer Mutter wieder geheiratet zu haben, und dann eine Frau, deren Herkunft ungeklärt war, und zum Gerede im ganzen Dorf Mette wurde.
Es sei eine Hure aus der Kreisstadt gewesen, sagte sie einmal zu Vater. Ich hörte zufälligerweise mit, konnte mir damals aber unter den Begriff nichts vorstellen. Ein andermal war sie nach den Worten von Mutter eine Hexe gewesen, die Großvater verzaubert haben musste. Großvaters beschrieb meine Stiefgroßmutter allerdings nicht so, wie ich mir eine Hexe vorstellte, hässlich, mit Buckel, die einsam in einer Waldkate lebte und auf Kinder zum Verspeisen wartete. Und sie kam auch nicht auf einen Besen daher geritten, sondern lebte in einer silbernen Scheibe, die vom Himmel fiel. Als kleiner Junge dachte ich mir nichts dabei. Im Rückblick gesehen, fiel bei Großvater doch ziemlich viel vom Himmel. Das mit dem Stein glaube ich heute noch. Es war wohl ein Meteorit. Dass aber hübsche Frauen in silbernen Scheiben fliegen und damit herunterfallen, das glaube ich nicht.
Es gibt Montgolfieren, gewiss. Vielleicht schafft es der eine oder andere dieser verrückten Erfinder auch tatsächlich, irgendwann, eine Maschine zu bauen, die fliegen kann. Aber diese Maschinen würden sicherlich keine silbernen Scheiben sein. Und doch finde ich es schade, dass Mutter den "Hexenschmuck" weggeworfen hatte. So einen ungewöhnlichen Kopfreif mit Ohrenschützern, die aber im Winter doch nicht wärmen, weil hauchdünn und aus einem seltsamen Material,habe ich bis heute nie wieder gesehen.
Großvater, so erzählte er, hatte es sich nach dem Tod seiner ersten Frau – meiner richtigen Großmutter - angewöhnt, abends alleine in der Feldmark spazieren zu gehen. Eines Nachts war er wieder unterwegs. Plötzlich hörte Großvater wieder ein Pfeifen am Himmel, wie damals, als der Stein herunter fiel. Er blickte nach oben und sah einen Lichtpunkt, der sich bewegte. "Ich dachte, es war wieder so ein schwarzer Stein", erzählte Großvater dann und weiter: "Hinter einem Gebüsch ging ich in Deckung und wartete auf den Aufschlag. Das Licht aber kam näher und stoppte vielleicht hundert Meter von mir entfernt Über den Wipfel einer Eibe. Es war unheimlich! Das Licht wurde zu einer dicken silbernen Scheibe, die heller als der Mond schien. Auf einmal schoss unterhalb der Scheibe ein Feuerstrahl heraus, vielleicht ähnlich, wie wenn ein Geschütz abgefeuert wird. Die Scheibe schwankte und stürzte dann zur Erde, riss sogar einige starke Äste der Eibe ab. Mit lautem Krachen schlug das Ding auf. Dann war ein Loch in der Scheibe und eine Gestalt krabbelte aus der Öffnung."
Hier machte Großvater immer eine Pause, zog an seiner Pfeife und genoss wohl mein gespanntes Gesicht. "Ja, es war Deine zweite Großmutter, die aus der Scheibe kam", sagte er dann. "Maria, so kamen wie später überein, sollte ihr Name sein, also Maria trug ein seltsames Gewand und wie die Männer Hosen. Ihre Sachen schienen genauso silbern zu sein, wie die leuchtende Scheibe. Maria lief von der Scheibe weg, direkt an mir vorbei. Erst bemerkte sie mich nicht. Doch dann drehte sie sich um, kam wieder ein Stück zurück, faßte mich am Arm und zog mich fort. Dabei sagte sie zu mir aufgeregt seltsame Worte, die ich nicht verstand. Ich begriff nur, daß ich so schnell wie möglich weglaufen sollte.“ Hier machte Großvater immer eine Kunstpause und paffte an der Pfeife bevor er fort fuhr:
„Gemeinsam rannten wir den Feldweg zurück nach Mette. Ich glaube, Maria rettete mir damals das Leben. Denn wir hatten gerade die alte Brücke über die Mette überquert, als ein mächtiges Donnern zu hören war und ein Windstoß uns beide zu Boden warf. Der Himmel im Westen, dort wo die Scheibe niedergegangen war, leuchtete hell auf, fast so, wie bei einem großen Brand.
Nachdem ich aufgestanden und Maria hoch geholfen hatte, fragte sie mich, ob ich ihr helfen könnte. Auf einmal sprach sie Platt, wie wir alle und nicht mehr diese seltsame Sprache. Ich schaute mir die unbekannte Frau an und versuchte, im Mondschein soviel wie möglich von ihr zu erkennen. Sie war eine sehr schöne Frau und musste ein paar Jahre jünger als Deine Großmutter gewesen war, bevor sie starb. Irgendwie erinnerte mich der Schnitt ihres Gesichtes auch an Großmutter. Vielleicht, weil sie hübsch und ich einsam war, vielleicht weil sie mir das Leben gerettet hatte oder vielleicht, weil ich glauben wollte, dass Erna, Deine Großmutter vim Himmel zurückgekehrt war, jedenfalls nahm ich sie mit zu mir zum Hof. Zu Hause gab ich ihr Kleider von Großmutter, sie passten mehr recht als schlecht. Ihr eigentlicher Name klang so ähnlich wie Taomijke. Klang fast holländisch, vielleicht kam sie ja tatsächlich aus den Niederlanden. Wir einigten uns dann darauf, dass sie von nun an Maria hieß. Das war für unsere Gegend besser. Offiziell nahm ich sie dann als Kindermädchen auf. Das gab es zwar sonst nur bei Leuten eines besseren Standes. Aber was sollte es. Deine Mutter musste dann nicht mehr von Tante Henriette erzogen werden. Ein Kind gehört schließlich zu ihrem Vater. Doch Deine Mutter mochte leider Maria nicht. Ich aber begann sie zu lieben. Nach einem halben Jahr heirateten wir."
Die Schilderung von der Hochzeitsfeier will ich nicht wiedergeben. Erwähnenswert ist jedoch, dass Großvater zwei Tage, nachdem er Maria aufgenommen hatte, den Ort ihres ersten Zusammentreffens aufsuchte. Die Eibe war verkohlt und abgestorben. Dort, wo die silberne Scheibe gelegen hatte, konnte er nur noch eine kleine Mulde ausmachen, schwarz von verbrannter Erde. Im Umkreis lagen einige wenige geschmolzene Metallteilchen. Von der Scheibe selbst war nichts mehr zu sehen. Großvaters Glück sollte nicht lange währen. Meine zweite Großmutter wurde schon sehr bald nach der Hochzeit krank. Der Doktor wusste nicht, was ihr fehlte und die vielen Gebete von Großvater halfen ebenfalls nicht. Sie starb innerhalb eines Monats. "Maria sagte, sie vertrage irgendwelche kleinen Lebewesen nicht, so was Ähnliches wie Bakterien, die bei uns in der Luft lebten. Deine zweite Großmutter erzählte mir dann, sie käme nicht aus Holland, wie ich vermutet hatte, sondern von einem anderen Planeten. Dieser Planet kreise um einen Stern, der unvorstellbar weit von der Erde entfernt wäre", berichtete Großvater. "Aber was das für winzige Lebewesen gewesen sind, die sie krank machten, sagte sie nicht. Woran sie nun tatsächlich gestorben ist, kann ich deshalb nicht sagen."
Die seltsame Kleidung seiner Frau hatte Großvater schon vor seiner erneuten Hochzeit irgendwo vergraben, um den Leuten im Dorf nicht noch mehr Gelegenheit zum Reden zu geben. Von Maria blieb ihm nur jener seltsame Kopfschmuck, den mir Großvater zwei- oder dreimal zeigte und den er wie ein Heiligtum aufbewahrte. Schade, dass Mutter das Teil nach Großvaters Tod weggeworfen hat. Ich hätte den Schmuck gern behalten. Aber was soll’s, wahrscheinlich war er doch zu nichts nutze.
Anmerkung des Verfassers
Beim Entrümpeln unseres alten Dachbodens stieß ich auf einen handschriftlichen Text meines Großvaters. Ich habe versucht, die alte Sütterlinschrift zu entziffern und sauber mit der Maschine abzutippen. Offenbar handelt es sich um die Wiedergabe einer Geschichte, die der Großvater meines Großvaters ihm in dessen Jugend erzählt hat. Ich halte diese Geschichte für ungewöhnlich und möchte sie deshalb hiermit zur Kenntnis bringen. Ich versichere, dass ich die Übertragung nach besten Wissen und Gewissen vorgenommen habe, weder etwas hinzugefügt noch etwas weggelassen habe.