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- 21.04.2015
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Großstadtbeobachtung
Der Mann hat fettige Haare, durchzogen von grauen Strähnen. Sein langer, hellbrauner Mantel ist an den Ellenbogen speckig. Die Schuhe sind verschmutzt, ihre Sohlen lösen sich an der Ferse. Bei jedem Schritt schleifen die zerfransten Schnürsenkel auf dem Boden hinterher. Er läuft leicht gebückt und trägt einen löchrigen Rucksack. Wenn sein Blick auf die Augen anderer trifft, erkennt man keine Reaktion. Er sieht einfach durch sie hindurch. Auf dem fahlen Gesicht liegt ein Lächeln, das jedoch keine Wärme ausstrahlt. Oder Freude. Der Ausdruck wirkt entrückt, genau wie sein Blick. Als sähe er in der Ferne etwas Besseres als die Gegenwart.
Er hat eine seltsame Angewohnheit. Betritt er ein Geschäft oder ein Restaurant, so bleibt er kurz stehen, sieht sich um und legt dann ein kleines, abgerissenes Stück Papier auf den Tisch. Oder in ein Regal. Manchmal schiebt er es auch in die Tasche einer Jeans, die zusammengelegt auf dem Verkaufstresen liegt. Dann geht der Mann wieder und hinterlässt einen strengen Geruch nach Schweiß und Rauch.
Wer neugierig ist und sich so einen Zettel genauer ansieht, der wird feststellen, dass eine Zahl darauf steht: die Fünfzehn.
Warum verteilt ein älterer Herr, der aussieht, als lebe er auf der Straße, Zahlen in Geschäften? Hat er immer nur ein Stück Papier bei sich? Ist es immer die Fünfzehn? Oder sind es mehrere Zettel? Aufsteigende Zahlen? Vielleicht auch absteigende, wie bei einem Countdown? Um das herauszufinden, muss man sich die Mühe machen, ihn bei einem seiner Tagesausflüge zu verfolgen.
Der Lächelnde taucht morgens am Hauptbahnhof auf. Er steigt aus einem der Regionalzüge, die aus dem Umland stündlich in die Großstadt fahren. Im Laufe des Tages durchquert er die Innenstadt. Aber er irrt nicht ziellos umher, sein Weg wirkt durchdacht. Er läuft ohne Umwege durch alle großen Einkaufsstraßen, vorbei an den Sehenswürdigkeiten, den Museen und Parks. Wie eine perfekt geplante Stadtführung für sich und seine Zettel. Sein Gang ist sicher. Der Mann bewegt sich durch die Menschenmassen, ohne einen der Passanten zu streifen. Er geht zwischen ihnen hindurch, als wären sie nicht da. Und keiner schenkt ihm Beachtung. Auf seiner Route betritt er immer wieder Geschäfte und Restaurants. Ob es immer die gleichen Stopps sind, kann man an dieser Stelle nicht sagen, dafür müsste man den Mann regelmäßig begleiten. Eine Gleichmäßigkeit, die jedoch keinem Beobachter entgeht, ist das Zurücklassen der nummerierten Papierfetzen. Und tatsächlich, wer sie einsammelt, dem wird schon nach drei Geschäften klar, dass es sich hier um einen Countdown handelt. Der erste Schnipsel trägt die Zahl „15“, der zweite die „14“, der dritte die „13“. Und so weiter.
Der Mann kauft sich nie etwas in den Läden, die er betritt. Er hat ein belegtes Brot dabei, das sorgfältig in Aluminiumfolie eingepackt ist, und eine verbeulte Plastik-flasche, an der nur noch Fetzen des Etiketts kleben. Gefüllt mit Leitungswasser. Das reicht ihm für seinen Ausflug. Wenn er seine Runde beendet hat, schlendert er zurück zum Hauptbahnhof. Seine Haltung ist aufrechter, so als hätte jemand eine Last aus seinem Rucksack genommen. Am Kiosk gegenüber von Gleis 18 kauft er sich eine Schachtel Zigaretten und steckt sich die erste des Tages an. Er zieht fest am Filter und inhaliert den Rauch mit geschlossenen Augen. Als er die Kippe schließlich auf den Boden wirft und mit dem Schuh zerdrückt, fährt die Regionalbahn ein. Er steigt ein, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Ob er morgens aufwacht und an nichts anderes denken kann, als an seine fünfzehn Zettel? Ein Zwang, der ihm wie ein kleiner Specht von innen an die Schädeldecke klopft? Ihm keine ruhige Minute lässt, bis er seine tägliche Tour erledigt hat? Vielleicht fährt er auch nur einmal pro Woche los. Oder einmal im Monat.
Gibt ihm das Verteilen seiner winzigen handschriftlichen Notizen das Gefühl, Spuren in der gesichtslosen Stadt zu hinterlassen? Warum fünfzehn? Diese Zahl muss von Bedeutung für ihn sein.
Hat er im Alter von fünfzehn Jahren ein so einschneidendes Erlebnis gehabt, dass die Nummer ihn verfolgt? Oder ein Kind, das mit fünfzehn gestorben ist. Und die Geschäfte, die er besucht, sind die Lieblingsläden seines Sohnes oder seiner Tochter gewesen. So hält er die Erinnerung wach. Immer und immer wieder lässt er den Schmerz in sich aufkochen und fühlt sich doch jedes Mal befreit, wenn er seine Runde beendet hat.
Man müsste sich mit ihm unterhalten, um das alles herauszufinden. Doch wer macht das schon? Er ist ungepflegt, macht einen verwirrten Eindruck und riecht unangenehm. Womöglich geht dieser Mann sogar auf denjenigen los, der ihn anspricht.
Ich habe ihn nur einmal gesehen. Er betrat das Restaurant, als ich gerade in meinen Cheeseburger biss, und legte die Zahl „9“ auf den Tisch neben mir. Ich versuchte, seinen Blick einzufangen, aber er flackerte über mich hinweg. Das war vor vier Tagen und aus irgendeinem Grund geht er mir nicht aus dem Kopf. Ich habe gestern Abend leere Blätter in Schnipsel zerrissen. Insgesamt sind es fünfzig. Auf jedem steht: „Was ist Ihnen passiert?“
Morgen gehe ich spazieren. Durch die ganze Stadt. Und hinterlasse meine Zettel. Wenn meine Theorie stimmt, antwortet er mir vielleicht.