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Großstadtbeobachtung

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21.04.2015
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Großstadtbeobachtung

Der Mann hat fettige Haare, durchzogen von grauen Strähnen. Sein langer, hellbrauner Mantel ist an den Ellenbogen speckig. Die Schuhe sind verschmutzt, ihre Sohlen lösen sich an der Ferse. Bei jedem Schritt schleifen die zerfransten Schnürsenkel auf dem Boden hinterher. Er läuft leicht gebückt und trägt einen löchrigen Rucksack. Wenn sein Blick auf die Augen anderer trifft, erkennt man keine Reaktion. Er sieht einfach durch sie hindurch. Auf dem fahlen Gesicht liegt ein Lächeln, das jedoch keine Wärme ausstrahlt. Oder Freude. Der Ausdruck wirkt entrückt, genau wie sein Blick. Als sähe er in der Ferne etwas Besseres als die Gegenwart.

Er hat eine seltsame Angewohnheit. Betritt er ein Geschäft oder ein Restaurant, so bleibt er kurz stehen, sieht sich um und legt dann ein kleines, abgerissenes Stück Papier auf den Tisch. Oder in ein Regal. Manchmal schiebt er es auch in die Tasche einer Jeans, die zusammengelegt auf dem Verkaufstresen liegt. Dann geht der Mann wieder und hinterlässt einen strengen Geruch nach Schweiß und Rauch.
Wer neugierig ist und sich so einen Zettel genauer ansieht, der wird feststellen, dass eine Zahl darauf steht: die Fünfzehn.
Warum verteilt ein älterer Herr, der aussieht, als lebe er auf der Straße, Zahlen in Geschäften? Hat er immer nur ein Stück Papier bei sich? Ist es immer die Fünfzehn? Oder sind es mehrere Zettel? Aufsteigende Zahlen? Vielleicht auch absteigende, wie bei einem Countdown? Um das herauszufinden, muss man sich die Mühe machen, ihn bei einem seiner Tagesausflüge zu verfolgen.

Der Lächelnde taucht morgens am Hauptbahnhof auf. Er steigt aus einem der Regionalzüge, die aus dem Umland stündlich in die Großstadt fahren. Im Laufe des Tages durchquert er die Innenstadt. Aber er irrt nicht ziellos umher, sein Weg wirkt durchdacht. Er läuft ohne Umwege durch alle großen Einkaufsstraßen, vorbei an den Sehenswürdigkeiten, den Museen und Parks. Wie eine perfekt geplante Stadtführung für sich und seine Zettel. Sein Gang ist sicher. Der Mann bewegt sich durch die Menschenmassen, ohne einen der Passanten zu streifen. Er geht zwischen ihnen hindurch, als wären sie nicht da. Und keiner schenkt ihm Beachtung. Auf seiner Route betritt er immer wieder Geschäfte und Restaurants. Ob es immer die gleichen Stopps sind, kann man an dieser Stelle nicht sagen, dafür müsste man den Mann regelmäßig begleiten. Eine Gleichmäßigkeit, die jedoch keinem Beobachter entgeht, ist das Zurücklassen der nummerierten Papierfetzen. Und tatsächlich, wer sie einsammelt, dem wird schon nach drei Geschäften klar, dass es sich hier um einen Countdown handelt. Der erste Schnipsel trägt die Zahl „15“, der zweite die „14“, der dritte die „13“. Und so weiter.

Der Mann kauft sich nie etwas in den Läden, die er betritt. Er hat ein belegtes Brot dabei, das sorgfältig in Aluminiumfolie eingepackt ist, und eine verbeulte Plastik-flasche, an der nur noch Fetzen des Etiketts kleben. Gefüllt mit Leitungswasser. Das reicht ihm für seinen Ausflug. Wenn er seine Runde beendet hat, schlendert er zurück zum Hauptbahnhof. Seine Haltung ist aufrechter, so als hätte jemand eine Last aus seinem Rucksack genommen. Am Kiosk gegenüber von Gleis 18 kauft er sich eine Schachtel Zigaretten und steckt sich die erste des Tages an. Er zieht fest am Filter und inhaliert den Rauch mit geschlossenen Augen. Als er die Kippe schließlich auf den Boden wirft und mit dem Schuh zerdrückt, fährt die Regionalbahn ein. Er steigt ein, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Ob er morgens aufwacht und an nichts anderes denken kann, als an seine fünfzehn Zettel? Ein Zwang, der ihm wie ein kleiner Specht von innen an die Schädeldecke klopft? Ihm keine ruhige Minute lässt, bis er seine tägliche Tour erledigt hat? Vielleicht fährt er auch nur einmal pro Woche los. Oder einmal im Monat.
Gibt ihm das Verteilen seiner winzigen handschriftlichen Notizen das Gefühl, Spuren in der gesichtslosen Stadt zu hinterlassen? Warum fünfzehn? Diese Zahl muss von Bedeutung für ihn sein.
Hat er im Alter von fünfzehn Jahren ein so einschneidendes Erlebnis gehabt, dass die Nummer ihn verfolgt? Oder ein Kind, das mit fünfzehn gestorben ist. Und die Geschäfte, die er besucht, sind die Lieblingsläden seines Sohnes oder seiner Tochter gewesen. So hält er die Erinnerung wach. Immer und immer wieder lässt er den Schmerz in sich aufkochen und fühlt sich doch jedes Mal befreit, wenn er seine Runde beendet hat.
Man müsste sich mit ihm unterhalten, um das alles herauszufinden. Doch wer macht das schon? Er ist ungepflegt, macht einen verwirrten Eindruck und riecht unangenehm. Womöglich geht dieser Mann sogar auf denjenigen los, der ihn anspricht.

Ich habe ihn nur einmal gesehen. Er betrat das Restaurant, als ich gerade in meinen Cheeseburger biss, und legte die Zahl „9“ auf den Tisch neben mir. Ich versuchte, seinen Blick einzufangen, aber er flackerte über mich hinweg. Das war vor vier Tagen und aus irgendeinem Grund geht er mir nicht aus dem Kopf. Ich habe gestern Abend leere Blätter in Schnipsel zerrissen. Insgesamt sind es fünfzig. Auf jedem steht: „Was ist Ihnen passiert?“
Morgen gehe ich spazieren. Durch die ganze Stadt. Und hinterlasse meine Zettel. Wenn meine Theorie stimmt, antwortet er mir vielleicht.

 

Liebe Rina,

mal ein ganz anderer Text von dir. Kein flockig-witziger, sondern ein ernst-nachdenklicher. Thematisch gefällt er mir sehr gut. Besonders das Ende: So ist das Geheimnis des Mannes vielleicht zu lösen. Du nimmst hier deinen Text aus der düsteren Ecke und gibst ihm eine positive Wendung.

In deinem Text spielst du mit der Erzählperspektive. Dabei bin ich mir nicht sicher, ob es dir immer ganz gut gelingt.
Du beginnst als neutraler Erzähler, schiebst dann einen Absatz mit Fragen und Vermutungen ein, um dann den Prot. auf seinem Weg zu begleiten. Auch hier benutzt du das neutrale „man“. Aber du verlässt die neutrale Sicht auf den Prot, indem du sein Handeln bewertest:

Aber er streunert nicht ziellos herum, sondern folgt einer festgelegten Route.
(Ich glaube, ‚streunern’ gibt es nur umgangssprachlich. Richtig heißt es wohl ‚streunen’. Ich würde ein anderes Wort suchen.)

Danach kommen wieder Vermutungen über das Handeln des Prot. Sie sind zuerst allgemein, fast philosophisch, werden dann aber immer konkreter:

Es wäre doch möglich, dass er im Alter von zwanzig Jahren ein so einschneidendes Erlebnis hatte, dass die Nummer ihn verfolgt. Oder er hatte ein Kind, das mit zwanzig gestorben ist. Eine Tochter. Und die Geschäfte, die er besucht, waren ihre Lieblingsläden. So hält er die Erinnerung an sie wach. Immer und immer wieder lässt er den Schmerz in sich aufkochen (?) und fühlt sich doch jedes Mal befreit, wenn er fertig ist.

Und genau an dieser Stelle wird ein Problem, das ich mit deinem Text habe, sichtbar: Wer stellt eigentlich diese Überlegungen an? Wer spricht hier? Während ich die allgemeinen Fragen gut akzeptieren kann, weil sie mich als Leser zum Nachdenken über den Mann bringen, verlässt du diese Ebene, indem du sehr konkret wirst. Diese konkreten Gedanken setzten eine echte Person, die sie denkt, voraus, und verlassen die Ebene, auf der sich dein Text bis zu dieser Stelle bewegt. Der Ich-Erzähler, der aber erst im letzten Abschnitt auftaucht, könnte diese Gedanken äußern.
Ebenso wie diesen Satz:
Womöglich geht dieser Mann sogar auf denjenigen los, der ihn anspricht.

Vielleicht solltest du über die Anordnung und den Aufbau deines Textes noch einmal nachdenken. So erscheint er mir nicht stringent genug zu sein. Aber du bist der Autor, du entscheidest.

Nun zu ein paar Sachen, die mir aufgefallen sind:

Das fahle Gesicht ist von einem Lächeln durchzogen,
durchzogen halte ich hier nicht für den richtigen Ausdruck

Es wirkt entrückt, genau wie sein Blick.
Kann ein Gesicht entrückt wirken?

Als würde er in der Ferne etwas sehen, das ihm besser gefalle (gefällt) (,) als die Gegenwart.

… dass eine Zahl darauf steht. „9“.
… dass ein Zahl darauf steht: die Neun.

Oder sind (sind) es mehrere Zettel?

Aber er streunert (streunt) nicht ziellos herum, sondern folgt einer festgelegten Route.
‚festgelegte Route’ erinnert an Navy oder Routenbeschreibung.

… ohne Umwege oder Dopplungen.
‚Dopplungen’ ist hier auch ein merkwürdiges Wort.

Ein Zwang, der ihm wie ein kleiner Specht (im Kopf) von innen an die Schädeldecke klopft?
im Kopf erscheint mir überflüssig.

Doch wer macht das schon.(?)

Lass dir den Tag nicht durch meine Mäkeleien verderben. Unterm Strich hat mir dein Text gefallen, besonders das Thema und die Intention.
Ich wende mich jetzt meinen Blumen zu. Die brauchen Wasser. Heute wird es bei uns wieder sehr heiß.

Liebe Grüße
barnhelm

 

Hallo RinaWu,

eine schöne, kleine Geschichte, die mich zum Nachdenken angeregt hat.

Am Kiosk gegenüber von Gleis 18 kauft er sich eine Schachtel Zigaretten und steckt sich die erste des Tages an
Hier dachte ich erst, es verbirgt sich ein Hinweis, weil du explizit die 18 erwähnst …


Oder er hatte ein Kind, das mit zwanzig gestorben ist. Eine Tochter. Und die Geschäfte, die er besucht, waren ihre Lieblingsläden.
Wieso Tochter? Sind die Läden Modeläden für junge Frauen?
Wenn das von Bedeutung wäre, sollte das vielleicht im Text stehen.
Ansonsten könnte es ja auch ein Sohn sein …

Besonders das Ende gefällt mir sehr gut. :)

Gerne gelesen.

Liebe Grüße,
GoMusic

 
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Liebe barnhelm,

Thematisch gefällt er mir sehr gut.
Ein kleiner Sieg für die Menschheit, aber ein großer für mich :D Ich freue mich wirklich, dass ich dich mit diesem Text erreichen konnte. Und vielen Dank für deine Anmerkungen!

In deinem Text spielst du mit der Erzählperspektive. Dabei bin ich mir nicht sicher, ob es dir immer ganz gut gelingt.
Du beginnst als neutraler Erzähler, schiebst dann einen Absatz mit Fragen und Vermutungen ein, um dann den Prot. auf seinem Weg zu begleiten. Auch hier benutzt du das neutrale „man“. Aber du verlässt die neutrale Sicht auf den Prot, indem du sein Handeln bewertest:
Richtig, ich spiele ein wenig mit der Perspektive. Ich wollte die Geschichte nicht von Anfang an als Beobachtung aus der Ich-Perspektive schreiben, weil ich das Gefühl hatte, es nimmt ihr sonst ein wenig das Geheimnisvolle, das den Mann umgibt. Schlussendlich löse ich aber auf, dass die Geschichte die Vermutung des Ich-Erzählers ist, der den Mann gesehen und die vorhergehenden Vermutungen angestellt hat. Daher finde ich, dass auch konkrete Überlegungen hier möglich sind. Meine Struktur ist so: Ich beginne sehr allgemein, mit der äußeren Beobachtung über den Mann. Dann verfolge ich seinen Weg. Und dann kommen die konkreten Vermutungen darüber, warum er so handelt. Da ich am Schluss den Ich-Erzähler ins Licht rücke, dachte ich, es sei klar, dass er diese Geschichte erzählt und die Überlegungen daher auch von ihm kommen. Aber ich schaue mir das noch einmal an.

Das "streunern" und die "festgelegte Route" habe ich umgeschrieben, das klang wirklich nicht so toll.

Das fahle Gesicht ist von einem Lächeln durchzogen,
durchzogen halte ich hier nicht für den richtigen Ausdruck
Den Ausdruck gibt es wirklich. Und ich mag ihn, daher bleibt er stehen :)

Es wirkt entrückt, genau wie sein Blick.
Kann ein Gesicht entrückt wirken?
Nein, du hast recht. Ein Ausdruck kann entrückt sein. Habe das geändert.

Auch deine folgenden Anmerkungen habe ich so übernommen oder die Textstellen abgeändert.

Vielen Dank für deine investierte Zeit, genieß die Sonne und stell die Blumen in den Schatten :D
RinaWu
_____________________________________________________________________________________

Hi GoMusic,

eine schöne, kleine Geschichte, die mich zum Nachdenken angeregt hat.
Das freut mich sehr.

Oder er hatte ein Kind, das mit zwanzig gestorben ist. Eine Tochter. Und die Geschäfte, die er besucht, waren ihre Lieblingsläden.
Wieso Tochter? Sind die Läden Modeläden für junge Frauen?
Wenn das von Bedeutung wäre, sollte das vielleicht im Text stehen.
Ansonsten könnte es ja auch ein Sohn sein …
Da hast du recht. Habe ich geändert.

Vielen Dank auch an dich für deine Kritik.
Liebe Grüße
RinaWu

 

Hallo RinaWu,

Wer kennt sie nicht, diese heruntergekommenen Gestalten, die an Bahnhöfen in Mülleimern nach Pfandflaschen suchen? Ich denke, jeder hat ein Gesicht vor Augen, das man mit dieser Art von Person assoziiert. Aber was macht man? Man rümpft mit der Nase, man guckt weg, man versucht, so wenig wie möglich mit dieser Person in Kontakt zu treten. Deshalb finde ich deinen Text gut, der Protagonist/die Protagonistin macht sich Gedanken, versucht zu ergründen, warum dieser Mensch so tief gefallen ist, und sie versucht, Kontakt aufzunehmen. Nun, ich werde das nächste Mal, wenn ich den heruntergekommenen Pfandflaschensammler sehe, nicht unbedingt mit ihm über seine Lebensgeschichte reden, aber ein Lächeln und ein Hallo sind auch schon viel wert. Ein wichtiges Thema also, dass mich nachdenklich gestimmt hat und das ist bei einer Kurzgeschichte ja nie das Verkehrteste.

Das Problem, das ich mit deinem Text hatte, ist, wie auch die gute barnhelm schon angemerkt hat, die Erzählperspektive. Die Erzählstimme wirkt sehr auktorial und unpersönlich. Ich fühlte mich stellenweise an eine Reportage über Obdachlose erinnert. Umso mehr runzelte ich die Stirn, als ich auf das Ich im letzten Absatz stieß. Es handelt sich also um einen Ich-Erzähler? Okay, da wär ich nie drauf gekommen.
Das wirkt so wie ein Bruch, unpersönlich zu sehr persönlich, hmmm, ja, quasi als hättest du zwei Erzähler in einem Text. Dadurch wirkt der Text etwas unrund, nicht stringend genug, finde ich. Aber das ist natürlich deine Entscheidung, und der Text funktioniert auch so, vielleicht sogar besser, als erzählte nur ein Ich-Erzähler, aber es wirkte auf mich halt ... ich sage mal ungewöhnlich. :D

Ist es immer die neun?

Neun

Eine gute Kurzgeschichte mit einem wichtigen Thema, die ich gerne gelesen habe.

Beste Grüße und einen schönen Tag
gibberish

 

Hallo gibberish,

vielen Dank für deinen Kommentar.

Nun, ich werde das nächste Mal, wenn ich den heruntergekommenen Pfandflaschensammler sehe, nicht unbedingt mit ihm über seine Lebensgeschichte reden, aber ein Lächeln und ein Hallo sind auch schon viel wert.
Das stimmt. Ich wollte da auch gar nicht so auf die moralische Schiene hinaus, sondern auch diese Geschichte ist inspiriert von einer Begegnung, die mich irgendwie nicht losgelassen hat und woraufhin ich dann diese Geschichte schrieb.

Aber das ist natürlich deine Entscheidung, und der Text funktioniert auch so, vielleicht sogar besser, als erzählte nur ein Ich-Erzähler, aber es wirkte auf mich halt ... ich sage mal ungewöhnlich.
Ich mag diesen Perspektivenwechsel und für mich persönlich funktioniert der Bruch zum Ich-Erzähler. Ich hatte erst alles in der Ich-Perspektive geschrieben und das gefiel mir nicht so sehr. Da war irgendwie die Luft raus. Kann aber auch nur meine persönliche Meinung sein. Und "ungewöhnlich" kann es ruhig wirken, ob nun im positiven oder negativen Sinn ;)

Die Neun habe ich korrigiert.

Ich wünsche dir auch einen schönen Tag.
RinaWu

 
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barnhelm schrieb:
Vielleicht solltest du über die Anordnung und den Aufbau deines Textes noch einmal nachdenken.
… sagt barnhelm, und dem kann ich mich nur anschließen, RinaWu. In der jetzigen Form kann ich mit der Geschichte nämlich nicht viel anfangen.

Es geht los mit einer sehr detaillierten Beschreibung eines rätselhaften Mannes und der seltsamen Art, wie er seine Tage verbringt. Großteils sind das offenbar Fakten, die eine übergeordnete Erzählinstanz berichtet:

Der Mann kauft sich nie etwas in den Läden, die er betritt. Er hat ein belegtes Brot dabei, das sorgfältig in Aluminiumfolie eingepackt ist, und eine verbeulte Plastikflasche, bei der das Etikett schon abgerissen ist …

usw.

Immerhin schaffst du es damit, mein Interesse und meine Neugier an dieser Figur zu wecken.
doch plötzlich stellt dieser bisher allwissende Erzähler nur noch Vermutungen und Spekulationen an:

Ob er …
Vielleicht ….
Es wäre doch möglich, dass …
Man müsste …

Also irgendwie hatte ich da schon noch Interesse daran, zu erfahren, was es mit diesem Mann nun auf sich hat, gleichzeitig wollte ich aber nicht groß über ihn nachdenken, also wenn’s nicht einmal der Erzähler(?) weiß, was soll dann ich als Leser mir groß den Kopf drüber zerbrechen? Ja, hier verlierst du mich eigentlich als Leser, dieses ins Blaue Spekulieren war mir einfach zu …, na ja, zu dings irgendwie.

Und dann im letzten Absatz taucht aus heiterem Himmel plötzlich ein Ich-Erzähler auf:

Ich habe ihn nur einmal gesehen. Er betrat das Restaurant, als ich gerade in meinen Cheeseburger biss, und legte die Zahl „5“ auf den Tisch neben mir. Ich versuchte, seinen Blick einzufangen, aber er flackerte über mich hinweg. Das war vor vier Tagen und aus irgendeinem Grund geht er mir nicht aus dem Kopf. Ich habe gestern Abend leere Blätter in Schnipsel zerrissen. Insgesamt sind es fünfzig. Auf jedem steht:
„Was ist Ihnen passiert?“
Morgen gehe ich spazieren. Durch die ganze Stadt. Und hinterlasse meine Zettel. Wenn meine Theorie stimmt, antwortet er mir vielleicht.

Er sagt zwar, er habe den Mann nur ein einziges Mal gesehen, aber auf mich erweckt er eher den Eindruck, als wisse er beinahe so viel von dem Mann, wie mittlerweile ich, bzw. wie der ominöse Erzähler von vorhin. Hm.
Er kann doch wohl kaum aus der einzigen Beobachtung, wie ein Mann einen Zettel auf einen Tisch legt, eine Strategie entwickeln, wie er den Mann noch einmal treffen könnte. Wie will er wissen, dass dieses Zettel-auf-den-Tisch-legen nicht ein einmaliges Ereignis war? Wie kann er wissen, dass das eine feste Angewohnheit des Mannes ist?

Soll ich nach dem letzten Absatz den Text jetzt so verstehen, dass der ganze Teil darüber quasi nur ein Gedankenkonstrukt des Ich-Erzählers ist? Dass er aus einer winzigen Alltagsbeobachtung sich das Schicksal eines Mannes zusammenfantasiert? Wenn das so ist, warum wird nicht der ganze Text aus der Ich-Perspektive erzählt? Und mit irgendeiner anderen Dramaturgie?
Merkst du, RinaWu, wo mein Problem ist? Diese eigenartige Erzählperspektive macht die ganze Geschichte unglaubwürdig für mich, irgendwie passt mir das vorn und hinten nicht recht zusammen, ja, das macht alles so unplausibel. Die Geschichte in der Geschichte wird einfach nicht greifbar für mich, und deshalb kann ich auch keine Empathie für die Figuren aufbringen, weder für den Zahlenmann noch für den Ich-Erzähler.
Oder, anders gesagt, fast kommt mir das wie eine billige Pointengeschichte vor: Den armen, vom Schicksal gebeutelten Zahlenmann, den ich als Leser bedauern soll, gibt’s in Wahrheit gar nicht, der ist nur eine Tagträumerei des Ich-Erzählers, bzw. gibt’s den Mann vielleicht schon, aber weder ist er arm noch bedauernswert, sondern möglicherweise ein zufriedener, glücklicher Exzentriker, der nur als Katalysator, als Projektionsfläche quasi dient für die Hirngespinste des ich-Erzählers.

Also mir ist nicht recht klar, was nun tatsächlich die Intention deines Textes sein soll.


Die Schuhe sind dreckig, ihre Sohle löst sich [ihre Sohlen lösen sich]

Der Mann bewegt sich durch die Menschenmassen, ohne einen der Passanten zu streifen. Er geht durch sie hindurch, als wären sie nicht da.
Da würde ich „Er geht zwischen ihnen hindurch, …“ schreiben. (Man kann zwar durch Menschenmassen hindurchgehen, nicht jedoch durch Passanten.)

Er steigt ein [Komma] ohne sich noch einmal umzudrehen.

Tja, sorry, RinaWu, ich fand’s nicht so toll, einfach, weil ich nicht recht weiß, was ich mit der Geschihte anfangen soll.


offshore


Edit: Ich hab das geschrieben, ohne die anderen Kommentare (mit Ausnahme barnhelms) und deine Antworten darauf gelesen zu haben. In deinen Antworten begründest du nun die eigenwillige Erzählperspektive, aber auch wenn ich jetzt weiß, was du damit bezwecken wolltest, funktioniert der Text deshalb nicht besser für mich.
Leider.


,

 

Hallo ernst offshore,

Tja, sorry, RinaWu, ich fand’s nicht so toll, einfach, weil ich nicht recht weiß, was ich mit der Geschichte anfangen soll.
Dafür musst du dich nicht entschuldigen, ist gar nicht schlimm ;) Man kann nicht allen gefallen.

Er sagt zwar, er habe den Mann nur ein einziges Mal gesehen, aber auf mich erweckt er eher den Eindruck, als wisse er beinahe so viel von dem Mann, wie mittlerweile ich, bzw. wie der ominöse Erzähler von vorhin. Hm.
Er weiß gar nichts. Er spekuliert. Daher am Ende: "wenn meine Theorie stimmt ..."

Wie will er wissen, dass dieses Zettel-auf-den-Tisch-legen nicht ein einmaliges Ereignis war? Wie kann er wissen, dass das eine feste Angewohnheit des Mannes ist?
Behauptet der Ich-Erzähler wirklich, dass er das alles weiß?

Soll ich nach dem letzten Absatz den Text jetzt so verstehen, dass der ganze Teil darüber quasi nur ein Gedankenkonstrukt des Ich-Erzählers ist? Dass er aus einer winzigen Alltagsbeobachtung sich das Schicksal eines Mannes zusammenfantasiert? Wenn das so ist, warum wird nicht der ganze Text aus der Ich-Perspektive erzählt?
Ja, so darfst du den Text gerne verstehen, denn so ist er gemeint. Und warum ich nicht von Anfang an aus der Ich-Perspektive erzählt habe, habe ich weiter unten schon erklärt. Ich habe es versucht und fand es langweilig.

Diese eigenartige Erzählperspektive macht die ganze Geschichte unglaubwürdig für mich, irgendwie passt mir das vorn und hinten nicht recht zusammen, ja, das macht alles so unplausibel.
Wenn man sich darauf einlässt, dass alles nur ein Gedankenkonstrukt eines Beobachtenden ist, sehe ich da nichts Unplausibles. Da die Perspektive aber für dich nicht funktioniert, kommt das wahrscheinlich daher.

Die Geschichte in der Geschichte wird einfach nicht greifbar für mich, und deshalb kann ich auch keine Empathie für die Figuren aufbringen, weder für den Zahlenmann noch für den Ich-Erzähler.
Oder, anders gesagt, fast kommt mir das wie eine billige Pointengeschichte vor: Den armen, vom Schicksal gebeutelten Zahlenmann, den ich als Leser bedauern soll, gibt’s in Wahrheit gar nicht, der ist nur eine Tagträumerei des Ich-Erzählers, bzw. gibt’s den Mann vielleicht schon, aber weder ist er arm noch bedauernswert, sondern möglicherweise ein zufriedener, glücklicher Exzentriker, der nur als Katalysator, als Projektionsfläche quasi dient für die Hirngespinste des ich-Erzählers.
Hm. Das ist sehr subjektiv und jeder projiziert in Texte etwas ganz Eigenes hinein. Ich kann kein Pointengehasche entdecken, da es so überhaupt nicht gemeint ist. Es ist eine Beobachtung, mehr nicht. Dass mein Protagonist am Ende doch aktiv wird, um vielleicht herausfinden zu können, was mit dem Mann los ist, gab der Geschichte einen kleinen Lichtblick, deshalb habe ich das Ende so geschrieben.

Also mir ist nicht recht klar, was nun tatsächlich die Intention deines Textes sein soll.
Muss man das denn immer hundertprozentig wissen? Ich weiß nicht so recht. Ich akzeptiere voll und ganz, dass dich das stört, allerdings bin ich kein großer Fan davon, das hinter allem eine tiefere Intention stecken muss. Aber das ist natürlich auch Geschmackssache.

Ich hab das geschrieben, ohne die anderen Kommentare (mit Ausnahme barnhelms) und deine Antworten darauf gelesen zu haben. In deinen Antworten begründest du nun die eigenwillige Erzählperspektive, aber auch wenn ich jetzt weiß, was du damit bezwecken wolltest, funktioniert der Text deshalb nicht besser für mich.
Gar kein Problem, beim nächsten Mal vielleicht.

Deine grammatikalischen Verbesserungen habe ich übernommen.

Vielen Dank für deine Kritik und einen sonnigen Tag wünscht
RinaWu

 
Zuletzt bearbeitet:

Als würde er in der Ferne etwas sehen, das ihm besser gefällt, als die Gegenwart.

Liebe RinaWu,

es ist gut, den Mann nicht anzusprechen, sondern im Prinzip mit seinen „Mitteln“, eben Zettel zu verlegen, an ihn heranzukommen. Andernfalls würde er - so muße ich mal Mut - er "mundtot" gemacht und auf immer schweigen.

Es ist quasi ein teilnehmende Beobachtung, die Du, pardon, der/die Icherzähler/in betreibt, und für gewöhnlich beeinflusst der teilnehmende Beobachter das Verhalten des Beobachteten, wie ja auch selbst der Verfolgte, dem keine Paranoia bekannt ist, sich anders verhält, wenn er weiß, dass er beobachtet wird (ausgenommen sind davon natürlich wir Internetnutzer).

Oder hättestu je erlebt, dass etwa bei einer Umfrage/einem Interview die Wahrheit herauskäme?

Insofern wäre es den interessanten Versuch wert.

Ich geh dann mal auf den virtuellen Zettel ein, der mir vorliegt, und meine doch, dass bei den fiktiven Dingen, wie dem Eingangszitat, das zu Anfang im Konjunktiv steht und dann im Indikativ schließt, der Konjunktiv durchzuhalten wäre. Dabei spielt das Zitat gekonnt mit der Parallelität von Raum (Ferne) und Zeit (Gegenwart). Die Gegenwart ist Indikativ, aber was ihm „gefällt“ ist Zukunft, bestenfalls möglich. Korrekt wäre also m. E.

Als würde er in der Ferne etwas sehen, das ihm besser ge[falle//gefiele] als die Gegenwart.
(ich muss dabei gestehen, dass die würde-Konstruktion mir schon fremd ist, ich "sähe" lieber ein, weil es vom Ton her an die Saat erinnert, was beim Vorlesen erst so richtig rauskäme - und Hörbüchergewinnen unter Blinden).

Nun wirstu das Komma vermissen, dessen es bei einem reinen Vergleich eben nicht bedarf (zudem steht ja nach der vergleichenden Konjunktion kein vollständiger Satz). Einfaches Möbelrücken mag den Beweis liefern: „Als würde er in der Ferne etwas sehen, das ihm [besser als die Gegenwart ge…]
Das ist Dir doch bei diesem Satz ganz gut gelungen

Warum verteilt ein älterer Herr, der aussieht, als lebe er auf der Straße, Zahlen in Geschäften?

Hier nun wäre der ganze Absatz abzuklopfen, denn der erst Satz definiert die folgenden als reine Vermutung, was ja auch das „wäre“ beweist. Sinnigerweise gibt es die Handreichung mit dem Rückblich auf die potentielle Jugend des Mannes, dass der Konjunktiv geradezu nach der Verweigerung jeglicher würde-Konstruktion verweigert:
Diese Zahl muss von Bedeutung für ihn sein. Es wäre doch möglich, dass er im Alter von zwanzig Jahren ein so einschneidendes Erlebnis [gehabt hätte], dass die Nummer ihn verfolgt[e]. Oder er h[ä]tte ein Kind, das mit zwanzig gestorben [wäre]. Und die Geschäfte, die er besucht, w[ä]ren seine Lieblingsläden. So h[ielte] er die Erinnerung wach. Immer und immer wieder l[[ieße] er den Schmerz in sich aufkochen und fühlt[e] sich doch jedes Mal befreit, wenn er fertig ist.
Warum lässt der den Appendix stehn, wirstu Dich vielleicht fragen, vielleicht sogar, dass ich fertig bin. Aber auch nur wegen der Nachrichten und weil ich eh über die tägliche Stunde Internet hinweg bin.

Gern gelesen vom

Friedel,
der noch schöne Hundstage wünscht!

 

Lieber Friedel,

es ist gut, den Mann nicht anzusprechen, sondern im Prinzip mit seinen „Mitteln“, eben Zettel zu verlegen, an ihn heranzukommen.
Freu mich, dass dir die Methode meines Beobachters gefällt. Ich dachte mir auch, es wäre sensibler und unaufdringlicher, als den Mann direkt anzusprechen. Und nicht zu verachten ist natürlich die Tatsache, dass der Beobachter nicht das Risiko eingeht, direkt vor den Kopf gestoßen zu werden.

Als würde er in der Ferne etwas sehen, das ihm besser gefällt, als die Gegenwart.
Am Anfang hatte ich tatsächlich auch im zweiten Teil den Konjunktiv stehen. Dann habe ich es doch geändert, weil der Konjunktiv manchmal echt seltsam klingt. Ich weiß auch nicht, woran das liegt, vielleicht, weil ich ihn lange Zeit nicht mehr verwendet habe, bevor ich mich hier angemeldet habe. Er war aber an dieser Stelle wohl doch richtig. Ich habe es jetzt so gemacht:
Als sähe er in der Ferne etwas, das ihm besser gefiele als die Gegenwart.

Den Absatz, den es abzuklopfen galt, habe ich nun umgeschrieben. Nicht wie von dir vorgeschlagen, ich kann mich an dieser Stelle mit den vielen Konjunktiven einfach nicht anfreunden, das klingt irgendwie holprig, findest du nicht auch? Ich habe es nun mit der Vergangenheit und ohne "es wäre doch möglich, dass" am Anfang versucht und finde, so funktioniert es.

Vielen Dank für das Überziehen der Internetstunde!
Einen erholsamen Sonntag wünscht dir
RinaWu

 

Liebe Rina,

einen schönen Sonntag, wünsche ich dir.
Gerade habe ich deine Antwort auf Friedel gelesen. Du hast völlig recht: Ein Anhäufung von Konjunktiven klingt furchtbar gekünstelt und für moderne Menschen sehr fremd. Ebenso geht es mir aber auch mit deinem neuen Satz

Als sähe er in der Ferne etwas, das ihm besser gefiele als die Gegenwart.

Warum schreibst du nicht einfach:

Als sähe/sehe er in der Ferne etwas Besseres als seine Gegenwart.

Beide Konjunktivformen sind mE möglich.

Bevor du dich aber völlig im Konjunktiv-Dschungel verlierst, habe ich noch eine kleine Parabel, in der Kafka mit der realen und der gewünschten (aber leider eingebildeten) Welt spielt: "Auf der Galerie"

http://gutenberg.spiegel.de/buch/franz-kafka-erz-161/10

Keine Ahnung, ob dir das weiterhilft. Wenn nicht, zerknülle es und wirf es in den Papierkorb.

Liebe Grüße
barnhelm

 

Also ich mag mal kurz gegen die Konjunktivitis wettern. Nicht böse sein, Friedel, ganze Generationen von Wortkriegern verdanken dir ihr Wissen über Kommas, und viele dachten, bevor du ihnen geholfen hast, dass der Konjunktiv eine Augenkrankheit ist.
Ich will auch keine Grundsatzdebatte auslösen, aber ich wollts auch einfach mal sagen.
Grammatikalische Korrektheit ist manchmal eine Sache - schöner Klang und Leserfreundlichkeit eine andere.

Als sähe er in der Ferne etwas, das ihm besser gefiele als die Gegenwart.
Das "sähe" ist hier schon richtig. Man dürfte auch "würde sehen" verwenden, das klingt aber scheiße, da hat der Friedel Recht. "Sehe" geht nicht, das ist ja hier weder eine indirekte Rede noch ein Wunsch, sondern es geht um eine Vorstellung, etwas Irreales. Da verwendet man den Konjunktiv 2. Und "sähe" ist nun so ungewöhnlich nicht.
Was ist jetzt mit dem "gefiele". Ehrlich, ich weiß grad grammatikalisch nicht, ob man das mit dem Konjunktiv 2 ausdrücken MÜSSTE. Ich glaub das noch nicht mal. Ich finde es an der Stelle aber auch grad scheißegal. Weil es völlig gestelzt, unnatürlich und auch inhaltlich verschwimmend wirkt. "Gefällt" ist doch viel stärker. Viel pointierter. Viel mehr als das ausgedrückt, was den Mann bestimmt.
Also ich würd manchmal einfach auf übergenaue grammatikalische Korrektheit scheißen (sorry Friedel, ich lad dich als Entschuldigung auf ein schönes Bier ein, aber da hab ich nun mal eine andere Auffassung als du).
Also RinaWu, brech dir keinen ab, nimm den Indikativ oder mach es wie in Barnhelms Vorschlag.

Neben der Grammatik gibt es auch noch den Klang und das Wissen darüber, was ein Leser sich merken kann.
Daher finde ich es auch völlig richtig, dass du den Satz mit den Fragen und Vermutungen anders umgeschreiben hast. Wieder, der Friedel hat grammatikalisch völlig Recht, aber man handelt sich dann eine Unmenge an anderen Problemen ein.

Prinzipiell, da will ich mich jetzt kurz fassen, weil ich gleich weg muss, sehe ich in deiner Geschichte auch das Problem, das Barnhelm und offshore angesprochen haben. Also die eigenartige Perspektivgebung.
Das ist eine wunderschöne und sehr sympathische Idee, die du da als KG uns geschreiben hast. Aber ich hader echt auch mit der Perspektive und auch mit der furchtbar genauen Beschreibung des Mannes, also vom Gefühl her würd ich da jetzt einfach mal sagen, das musst du (aus welcher Perspektive auch immer) total kürzen.
(Also wenn ich "muss" schreibe, du weißt, das ist meine Sicht. Ich geh einfach ein bisschen leidenschaftlich mit, wenn mich was interessiert.)
Ganz liebe Grüße, RinaWu, und an Barnhelm (Danke auch für den Kafka, hatte ich schon vergessen) und Friedel auch. Ärgert euch nicht über die grammatikverliebte Grammatikfeindin. :)

 

Jetzt gehe ich dir noch einmal auf die Nerven, RinaWu.

RinaWu schrieb:
Behauptet der Ich-Erzähler wirklich, dass er das alles weiß?

Nein, er tut das nicht explizit. Deshalb schrieb ich ja auch:

Er sagt zwar, er habe den Mann nur ein einziges Mal gesehen, aber auf mich erweckt er den Eindruck, als wisse er beinahe so viel von dem Mann, wie mittlerweile ich, bzw. wie der ominöse Erzähler von vorhin.
Immerhin sagt er das:

Ich habe gestern Abend leere Blätter in Schnipsel zerrissen. Insgesamt sind es fünfzig. Auf jedem steht:
„Was ist Ihnen passiert?“
Morgen gehe ich spazieren. Durch die ganze Stadt. Und hinterlasse meine Zettel.
Natürlich muss ich mir da denken, er weiß ein bisschen mehr von dem Mann, als dass der nur einen Zettel auf einen Tisch legt. Wie sonst käme der Erzähler auf die Idee, haargenau dasselbe zu tun wie der Zahlenmann, nämlich in der ganzen Stadt Zettel verteilen zu wollen?
Weil ich, der Leser, vom Beginn der Geschichte an so viel vom Zahlenmann erfahre, und das alles natürlich für bare Münze nehme, weil es mir ja ein quasi auktorialer Erzähler erzählt, muss ich mir das einfach denken, verstehst du?
Ich weiß jetzt echt nicht, wie ich dir das erklären soll, also warum die Geschichte für mich nicht funktioniert. Ja, ich komme mir am Ende irgendwie getäuscht vor, und ich hab es ja auch in meinem ersten Kommentar gesagt, das verhindert für mich einfach, dass ich so was wie Empathie für die Figuren empfinde. Dieses darüber Nachdenken „Was wäre wenn?“, also sich vorstellen, was für Schicksal hinter einem gewissen Menschen steckt, der einem zufällig irgendwo über den Weg läuft, haben wir wohl schon alle erlebt, und man kann daraus sicher auch eine Geschichte machen. Aber, und jetzt bin ich wieder bei der Erzählintention, was will ich dann mit dieser Geschichte? Will ich damit beim Leser Mitgefühl wecken für eine Figur, für einen Menschen, egal, ob der jetzt echt oder fiktiv ist?
Okay, natürlich gehe ich bem Lesen von Geschichten grundsätzlich davon aus, dass sie fiktiv sind, und wenn noch so viel Wahres oder gar vom Autor Selbsterlebtes drinsteckt, aber für mich macht es halt doch einen Unterschied, ob ich vom Schicksal einer fiktiven Figuren lese, oder nur vom Schicksal einer Figur, das sich ein fiktiver Ich-Erzähler nur imaginiert. Und der mir aber gleichzeitig weismachen will, er erzählt mir was Wahrhaftiges. Und genau das eben tut deine Geschichte durch die irreführende Erzählperspektive. Sie führt mich an der Nase herum, kommt mir vor.

Ehrlich, RinaWu, ich hab keine Ahnung, ob du nur ein Wort von meinem Geschwafel verstehst, und ich will mich auch nicht dafür rechtfertigen, dass mir deine Geschichte nicht gefällt. Ich versuch halt nur, mir selber zu erklären, was ich daran nicht mag.
Na ja, und das wollte ich dir halt auch sagen.


offshore

 

Liebe barnhelm,

danke für deinen erneuten Kommentar und deine Hilfe.
Als sähe er in der Ferne etwas Besseres als seine Gegenwart.
Das gefällt mir sehr gut und fließt besser, als mein vorheriger Satz. Ich habe das so übernommen.
Grundsätzlich bin ich froh darüber, dass ich hier auch wieder gelernt habe, wie und wann man den Konjunktiv anwendet, denn oft klingt er wirklich schöner und irgendwie runder. Aber in dem einen Absatz konnte ich mich nicht damit anfreunden und habe eben eine andere Variante versucht. Ich bin froh, dass es so auch funktioniert.

Die Geschichte, von der du den Link geschickt hast, schaue ich mir später mal in Ruhe an.
Liebe Grüße!
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Liebe Novak,

vielen lieben Dank auch für deine Erläuterungen zum Konjunktiv und zu meiner Geschichte.

Daher finde ich es auch völlig richtig, dass du den Satz mit den Fragen und Vermutungen anders umgeschrieben hast.
Gut, wie oben schon geschrieben, ich bin beruhigt, dass es funktioniert und du hast recht, man sollte den Klang der Sätze nicht aus den Augen verlieren. Das habe ich hier versucht.
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Liebe Novak & lieber offshore,

ich verstehe wirklich, dass euch die Perspektive stört, glaubt mir. Aber ich will dafür einfach kämpfen, weil mir selbst dieser Bruch gefällt und ich hier einfach mal wage, dass manche das gut finden und andere nicht. Ich hoffe, ihr versteht mich da auch.

offshore, danke, dass du dich auch nochmal gemeldet hast. Mein Protagonist verteilt die Zettel, weil er eine Theorie hat. Er ist vielleicht auch ein kleiner Träumer und probiert es einfach aus. Er weiß wie gesagt nichts. Er sieht einen Menschen und stellt sich seine Geschichte vor. Darauf basiert diese Geschichte. Wenn du dich dadurch an der Nase herumgeführt fühlst, ist das sicherlich ein Gefühl, das nachvollziehbar ist. Aber ich finde, auch das darf man als Autor mal machen :) Ich verstehe dich also durchaus, bin aber von dieser kleinen Geschichte dennoch überzeugt und verteidige sie so wie sie ist.

Ich wünsche euch noch einen sonnigen Sonntag!
Liebe Grüße
RinaWu

 

Ich nochmals,
liebe RinaWu, barnhelm und Novak,

Ausgangspunkt der Diskussion ist der um das entbehrliche Komma schon bereinigte Satz

Als würde er in der Ferne etwas sehen, das ihm besser gefällt[…] als die Gegenwart.
Der Hauptsatz, bereits im Konjunktiv II, kommt ganz gut ohne würde-Konstruktion aus und kann auch aufs Hilfsverb verzichten, er drückt die Vermutung des Beobachters aus, die als Appendix angehängt wird. Dieser dagegen steht im Indikativ (als wär’s eine Tatsache) und nennt die Gegenwart doch nur als Vergleichsobjekt zu dem, was dem Mann wohl besser gefallen könnte (wäre noch ne Alternative, wem gefiele nicht gefällt) als das, was gegenwärtig ist. Gerade der Anhang ist Konjunktiv irrealis, wie er irrealer gar nicht sein kann.

Kafka findet Ihr auch in einem meiner wenigen Bloggbeiträge zum Konjunktiv (ich bin sicher, dass er Euch amüsieren wird)

Schönen Restsonntag wünscht dem Trio der

Friedel

 

Lieber Friedel,
ich habe ja nun geschrieben: Als sähe er in der Ferne etwas Besseres als die Gegenwart. So habe ich den Nebensatz und den eigentlich notwendigen Konjunktiv umgangen und ich muss sagen, die Schlichtheit des neuen Satzes gefällt mir sehr.
Dein genaues Lesen ist Gold wert.


Liebe barnhelm,
ich habe die Geschichte von Kafka gelesen und werde sie nicht in den Mülleimer werfen. Der Unterschied zwischen Möglichkeit, Wunsch, Vorstellung und der Realität ist hier gut dargestellt und hilft tatsächlich. Vielen Dank dafür.

Viele Grüße an euch!
RinaWu

 

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