Großstadtatem
Es ist Nachmittag, der alltägliche Hochpunkt des Lebensrythmus. Ich laufe durch die Großstadt und atme die Autoabgase ein. Es ist Teil des Odems dieser Zeit, in der wir Leben. Ich sehe hektische Menschen in Anzug und Krawatte, die durch die Strassen hetzen. Am Strassenrand sitzen Obdachlose wie träge Wracks, ausgebrannt, dem Leben zu fern. Ich zünde mir eine Zigarette an, eine junge, bunt angezogene Frau kommt auf mich zu und fragt mich knapp "Haste mal ne Kippe?". Ich gebe ihr eine. "Danke, tschüss". Niemand hat Zeit. Zeit ist zu kostbar.
Ich gehe weiter. Eigentlich müsste ich mich beeilen, ich habe einen wichtigen Termin.
Warum nehme ich mir nicht ein wenig dieser kostbaren Zeit?
Jetzt, da ich hier bin und mir eben diesem Gedanken bewusst bin, den ich selbst hervorbringe, habe ich es nicht mehr so eilig. Meine Sinne fixieren sich. Nein, es ist vielmehr eine Art neuer Sinn, den ich gerade erworben habe.
Plötzlich kommt mir alles lächerlich vor. Was machen die Leute da? Mein neuer Sinn erlaubt es mir, die Welt differenzierter zu sehen, in anderen Farben, greller an manchen Stellen der Innenstadt. Es gibt aber auch dunkle Flecken. Ich komme an weiteren unangenehm schmerzend grellen Workoholics vorbei auf einen weiten Platz. So wenig Leute. Ich glaube manche Menschen sind einfach zu traurig um sie sehen zu können. Ich höre Geräusche, die ich so nicht gekannt habe. Zwei Männer kommen auf mich zu und kreischen mich an. Ich halte meine Ohren zu. Dieser Schmerz. Der Odem der Stadt ist nun weit mehr. Alle Sinne sind verschmolzen, und sie treiben mich weiter. Taumelnd gerate ich immer weiter, tiefer in den Schlund des Kerns der Stadt. Das Geräusch des Gestanks wird unerträglich. Die Menschen verwandeln sich nach und nach in Tiere. Manche sind friedlich, doch die meisten sind zähnefletschende Räuber, die nur darauf warten, die Harmlosen zu zerfleischen. Nur knapp entwische ich einem zuschnappendem Alligator und winde mich in eine bestimmte Richtung. Ist sie willkürlich? Ich weiss es nicht. Aber ich spüre etwas aus dieser Richtung. Um darüber nachzudenken, bleibt keine Zeit. Ein ungeheurer Schmerz trifft mich wie ein Schlag und ich werde durch die Luft geschleudert. Wieder dieses Kreischen. Diesmal klingt es mechanisch. Auf dem Boden liegend bemerke ich, wie der Asphalt nachgibt, weich wird und glitschig. Mein Herz schlägt. Mühsam, aber schnell richte ich mich wieder auf. Meine Sinne sind nun zu verfälscht, um reale Umrisse zu erkennen. Oder sind meine Sinne nun erst richtig geeicht und ich erkenne alles wie es wirklich ist? Im Grunde weiss ich, dass es so ist. Ein Instinkt treibt mich wieder in diese bestimmte Richtung und ich halte daran fest, meine einzige Orientierung darin erkennend. Knietief wate ich durch den Asphalt und bewege mich immer weiter. Vorbei an sich linkisch windenden Schlangen und trägen Dinosauriern, an denen blutsaugende Insekten hängen. Der Gestank dreht meinen Magen um. Ich renne jetzt so gut es geht durch die zähflüssige Masse, denn mein Ziel rückt näher, ich spüre es.
Ich spüre die Wärme, die sich in mir mit jedem weiteren Schritt ausbreitet. Und ich bin fast da. Ich erkenne sie jetzt. Es sind Menschen. Deutlich erkenne ich sie, auf einer Wiese sitzend, herzlich lachend. Ein Licht geht von ihnen aus, einladend,Geborgenheit versprechend, wie es nur ganz selten in dieser Welt existiert. Und ich weiss, dass sie Erkenntnis erlangt haben, dass sie die Fähigkeit erlangt haben, sich dem grausamen Foltergriff der Realität zu entziehen. Ein nie gekanntes Glücksgefühl macht sich in mir breit.
Kein schleimiger Asphalt mehr unter meinen Füssen, es riecht nach Klee. Ich erkenne dass ich am Ziel bin und lasse mich wie von einer langen Reise heimkehrend inmitten der Erleuchteten nieder. Um uns herum tobt der Krieg, aber wir sind sicher. Diese Insel wird uns niemand nehmen.
Langsam lege ich mich ins Gras und schliesse meine Augen.
Eine Träne des Erinnerns rinnt meine Wange herab.
Es gibt Zeiten im Leben, in denen man scheinbar blind ist. Aber dennoch steckt tief in allen Menschen die Fähigkeit, menschlich zu sein.