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Großstadtatem

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30.07.2003
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Großstadtatem

Es ist Nachmittag, der alltägliche Hochpunkt des Lebensrythmus. Ich laufe durch die Großstadt und atme die Autoabgase ein. Es ist Teil des Odems dieser Zeit, in der wir Leben. Ich sehe hektische Menschen in Anzug und Krawatte, die durch die Strassen hetzen. Am Strassenrand sitzen Obdachlose wie träge Wracks, ausgebrannt, dem Leben zu fern. Ich zünde mir eine Zigarette an, eine junge, bunt angezogene Frau kommt auf mich zu und fragt mich knapp "Haste mal ne Kippe?". Ich gebe ihr eine. "Danke, tschüss". Niemand hat Zeit. Zeit ist zu kostbar.
Ich gehe weiter. Eigentlich müsste ich mich beeilen, ich habe einen wichtigen Termin.
Warum nehme ich mir nicht ein wenig dieser kostbaren Zeit?
Jetzt, da ich hier bin und mir eben diesem Gedanken bewusst bin, den ich selbst hervorbringe, habe ich es nicht mehr so eilig. Meine Sinne fixieren sich. Nein, es ist vielmehr eine Art neuer Sinn, den ich gerade erworben habe.
Plötzlich kommt mir alles lächerlich vor. Was machen die Leute da? Mein neuer Sinn erlaubt es mir, die Welt differenzierter zu sehen, in anderen Farben, greller an manchen Stellen der Innenstadt. Es gibt aber auch dunkle Flecken. Ich komme an weiteren unangenehm schmerzend grellen Workoholics vorbei auf einen weiten Platz. So wenig Leute. Ich glaube manche Menschen sind einfach zu traurig um sie sehen zu können. Ich höre Geräusche, die ich so nicht gekannt habe. Zwei Männer kommen auf mich zu und kreischen mich an. Ich halte meine Ohren zu. Dieser Schmerz. Der Odem der Stadt ist nun weit mehr. Alle Sinne sind verschmolzen, und sie treiben mich weiter. Taumelnd gerate ich immer weiter, tiefer in den Schlund des Kerns der Stadt. Das Geräusch des Gestanks wird unerträglich. Die Menschen verwandeln sich nach und nach in Tiere. Manche sind friedlich, doch die meisten sind zähnefletschende Räuber, die nur darauf warten, die Harmlosen zu zerfleischen. Nur knapp entwische ich einem zuschnappendem Alligator und winde mich in eine bestimmte Richtung. Ist sie willkürlich? Ich weiss es nicht. Aber ich spüre etwas aus dieser Richtung. Um darüber nachzudenken, bleibt keine Zeit. Ein ungeheurer Schmerz trifft mich wie ein Schlag und ich werde durch die Luft geschleudert. Wieder dieses Kreischen. Diesmal klingt es mechanisch. Auf dem Boden liegend bemerke ich, wie der Asphalt nachgibt, weich wird und glitschig. Mein Herz schlägt. Mühsam, aber schnell richte ich mich wieder auf. Meine Sinne sind nun zu verfälscht, um reale Umrisse zu erkennen. Oder sind meine Sinne nun erst richtig geeicht und ich erkenne alles wie es wirklich ist? Im Grunde weiss ich, dass es so ist. Ein Instinkt treibt mich wieder in diese bestimmte Richtung und ich halte daran fest, meine einzige Orientierung darin erkennend. Knietief wate ich durch den Asphalt und bewege mich immer weiter. Vorbei an sich linkisch windenden Schlangen und trägen Dinosauriern, an denen blutsaugende Insekten hängen. Der Gestank dreht meinen Magen um. Ich renne jetzt so gut es geht durch die zähflüssige Masse, denn mein Ziel rückt näher, ich spüre es.
Ich spüre die Wärme, die sich in mir mit jedem weiteren Schritt ausbreitet. Und ich bin fast da. Ich erkenne sie jetzt. Es sind Menschen. Deutlich erkenne ich sie, auf einer Wiese sitzend, herzlich lachend. Ein Licht geht von ihnen aus, einladend,Geborgenheit versprechend, wie es nur ganz selten in dieser Welt existiert. Und ich weiss, dass sie Erkenntnis erlangt haben, dass sie die Fähigkeit erlangt haben, sich dem grausamen Foltergriff der Realität zu entziehen. Ein nie gekanntes Glücksgefühl macht sich in mir breit.
Kein schleimiger Asphalt mehr unter meinen Füssen, es riecht nach Klee. Ich erkenne dass ich am Ziel bin und lasse mich wie von einer langen Reise heimkehrend inmitten der Erleuchteten nieder. Um uns herum tobt der Krieg, aber wir sind sicher. Diese Insel wird uns niemand nehmen.
Langsam lege ich mich ins Gras und schliesse meine Augen.
Eine Träne des Erinnerns rinnt meine Wange herab.
Es gibt Zeiten im Leben, in denen man scheinbar blind ist. Aber dennoch steckt tief in allen Menschen die Fähigkeit, menschlich zu sein.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Geeraid,

freu mich gerade, dir als erster antworten zu dürfen.
Vorab: Deine Geschichte gefällt mir thematisch wie auch formal.
Du beschreibst einen Menschen, der in der Großstadt wohnt und doch ein Fremder in ihr ist, weil er sich weder mit dem geschäftigen Treiben der Menschen, das Hektik und Kälte bedingt, noch mit den qualmenden, die Luft verpestenden Monstern namens Autos, Zeichen unser modernen Welt, anfreunden kann und auch nicht will.
Stattdessen findet er eine Insel im wilden Großstadtmeer, begrünt, Ort der Ruhe- Gegenpol zum regen Treiben.
Er scheint mir alternativ eingestellt zu sein, die Natur liebend, nicht interessiert an Geld und Besitz- Folgen des geschäftigen Treibens- sondern eher suchend, sich selbst und Menschen, die wie er sind: Freunde im Geiste.
Ein wenig erinnert mich das Motiv deiner Erzählung an "The Beach", das es auch als Roman (und nicht nur mit Leo als Film) gibt. Auch hier sucht ein Aussteiger eine Insel, auf der er mit sich und der Natur im Einklang leben kann, auf der die Welt noch nach Natur und nicht nach Qualm und Massengesellschaft riecht.

Tief in sich scheint er einen Wunsch zu verspüren, all dem Trouble den Rücken zu kehren, vielleicht auf eine Reise zu gehen, Neues zu entdecken, anderes als das bekannte aus der Großstadt zu erleben- kurz: seiner Sehnsucht nachzugehen.
Indes aber scheint ihn die Großstadt trotzdem im Griff zu haben, ihn festzuhalten, ihn an sich zu binden. Das beschreibst du sehr plastisch an der Stelle, wo der Protagonist durch den Asphalt wie durch einen Sumpf zu waten scheint.
Bewusst, weil hier seine Freunde sind oder er an sonst etwas hängt, oder unbewusst, weil er vielleicht nicht das letzte Quentchen Mut aufbringt, seine Heimat (?) oder Wohnort zu verlassen, bleibt er der Stadt verbunden.
Auch der Titel "Großstadtatem" deutet darauf hin, da die Großstadt an erster Stelle genannt wird (wobei es wohl eine Metapher für die eine, verpestete als auch die andere, natürliche Luft sein wird ;))

Vielleicht aber ist der Text auch eine große Metapher, eine Art Landkarte für die Zukunft.
Vielleicht verkörpert sie ein Gefühl, das im Protagonisten aufgekeimt ist- nämlich dass die Großstadt entfremdet. Vielleicht muss er noch weitere reflexive Prozesse durchlaufen, die auch schwerer Natur sind (Gang durch den Asphaltsumpf), bis er schließlich doch die Entscheidung trifft und Richtung grüner Wiese, die ihn schon so lange anzieht, zu wandern.
Vielleicht aber hat dein Protagonist eben diesen Weg schon hinter sich: dies lässt der vorletzte Satz vermuten: die Zeit der Blindheit ist vorbei, das neue Leben kann erblühen.

Zusammengefasst sage ich gerne: Respekt!
Es scheint einer deiner ersten Geschichten zu sein, die du hier veröffentlicht hast. Ich vermute aber, dass du bereits schon Erfahrung gesammelt hast.
In dieser Weise weiterschreiben! :)

Liebe Grüße
Jan

 

Hi Jan!

Erstmal dankedanke für Dein Lob. Wow - So umfangreich hätte ich die Reaktion nicht erwartet.
Deine Interpretation triffts genau. Ich denke, man kann meinen Prot als zivilisationsmüden Suchenden bezeichnen, der sich nach Zeiten sehnt, in denen das Leben noch nicht ganz so stressig war (vielleicht als Kind oder irgendwann vor dem Modernwerden der Gesellschaft), daher auch die Träne des Erinnerns.
Dass er seine Insel am Ende gefunden hat, verdankt er in weitem Masse auch den anderen "Erleuchteten" (hatte schon Angst, dass das irgendwie zu religiös interpretiert wird ;) ) . Sie haben ihn angezogen, ihre Wärme hat er die ganze Zeit gespürt. Das kann jeder, die Fähigkeit steckt in allen.

In einem allerdings irrst Du, es ist in der Tat erst meine zweite Kurzgeschichte, daher motiviert mich Dein Posting ungeheuer, weiterzuschreiben ;-)

viele Grüsse
Gerrit

 

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