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Große Schwester
Es verlieh ihm Stärke, mich an seiner Seite zu wissen. Unserer Mutter verlieh es Sicherheit zu wissen: Sie ist bei ihm.
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Kalle jedenfalls bekam die unbemerkte Betreuung durch seine Schwester wunderbar. Wo er war, war auch sie. Befand er sich mit vielen anderen Jungs aus der Nachbarschaft auf dem Bolzplatz, war auch Karin, das bin ich, dort, inmitten der Jungenschar, ein Mädchen, das nicht unbedingt als solches zu erkennen war, denn es trug leidenschaftlich gern Jogginghosen und Röcke mochte sie nicht leiden. Röcke zerrissen immer beim Abkürzugsweg über die Zäune und hatten Gemeckere bei der Mutter zur Folge.
Karin gehörte dazu, sie war so etwas, wie der ruhende Pol der Gesellschaft, die allesamt aus Jungs bestand.
Kalle riskierte viel, denn er fühlte sich sicher und stark. Nein, eine Petze war seine um ein Jahr ältere Schwester nicht; sie verpfiff ihn nie, doch oft schritt sie bei seinen Aktivitäten ein. „Lass das besser, das wirst du nicht schaffen!“ „Natürlich schaff ich das, über den Bach zu springen!“
Manche Aktivitäten gingen auch daneben. Pech für Kalle! Doch da war ja seine Schwester, die ihm half, falls es schief ging.
Es waren Hitzköpfe, die den Streit liebten und austrugen und oft war Karin es, die ihn schlichtete auf eine ihr eigenen Weise; es reichte, dass sie da war. Sie trug die Haare kurz, fast so wie ein Junge und mit Puppen spielte sie nie, obwohl sie solche oft zu Weihnachten unter dem Tannenbaum vorfand.
Die Eltern erwarteten Jubelrufe und wunderten sich jedes Jahr aufs neue darüber, dass Karin mit den Weihnachtsgeschenken ihres Bruders hingebungsvoll spielte.
War sie am Ende gar kein Mädchen? Diese Frage tat sich bei ihnen auf, als sie erwachsen wurde.
Doch, sie war eins, das stellte sie immer wieder fest, als die Hormone sie als solches enttarnten. Und auch ihre Stimme schien die eines Mädchens zu sein und eigentlich war sie es gerne und ihr Wunsch, ein Junge zu sein verlor sich recht schnell mit zunehmendem Alter.
Ihr Bruder allerdings kam irgendwann auch ohne sie klar. Er lernte es mit der Gefahr richtig umzugehen und heute, als Erwachsener, weiß er was er riskiert und ist sich seiner Sache sicher, auch ohne seine Schwester zu fragen. Er ist ein sehr fleißiger und tüchtiger Familienvater geworden, der genau weiß, was er will, der um seine Familie kämpft und sie beschützt.