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Große Liebe
"Sie ist meine große Liebe" – Pathos schwang in seiner Stimme, als er das sagte, und schmerzhaft hallte der Satz nach in ihrem Herz, das ohnehin vom Vorgefühl der Unwirklichkeit des Glücks bedrückt war. "Und ich, ich bin also seine kleine Liebe oder sein mittleres Glück oder wer weiß was..." – sie war wütend. Die Wut blieb wie ein feuriger Ball in ihrem Hals stecken und nahm ihr den Atem. "Ein Vollidiot muss man sein oder ein vollendeter Egoist, um so etwas einer Frau zu sagen, die man einen Monat zuvor geheiratet hat, einer Frau, die einen liebt." – dachte sie später, denn jetzt war sie erst einmal wie paralysiert vom Schock seiner plötzlichen Offenbarung.
"Vielleicht sollten wir uns besser trennen, ich kann selbst für mich sorgen und sowie ich mein 'unbefristet' bekomme, lassen wir uns offiziell scheiden." "Nein" – gab er etwas erschrocken und launisch zugleich zurück. "Nein, ich möchte, dass wir zusammenleben." Sie fühlte, wie der in ihrem Hals steckende Feuerball langsam hinunterglitt und ihr Inneres verbrannte. Das Unheil verwandelte sich in Kränkung. Soll sie sich etwa diesen verschreckt- launischen Ton unterordnen?
Einige Tage später machte sie selbst die unerwartete Bekanntschaft mit seiner "großen" Liebe. Die 'große Liebe' hieß T. und war, wie sich herausstellte, eine Bekannte ihrer Bekannten, mit denen sie sich ein zweietagiges kleines Haus in Berlin Grünewald teilten.
Sie saß auf der Terrasse und versuchte sich auf das Buch in ihren Händen zu konzentrieren. Doch wie aufgezogen kreisten die Gedanken um ihre derzeitige Lage. "Was tun jetzt? Wie nun weiter leben mit ihm? Ihn verlassen? Zurückfahren nach Russland, - wo nichts und niemand auf dich wartet? Bleiben? Die Hoffnung hegen, dass irgendwann einmal..." Sie war drauf und dran, von neuem in die Tiefe ihres randvoll mit Wehmut und Selbstmitleid gefüllten Brunnens zu fallen. Um nicht zu ertrinken, hörte sie auf zu atmen.
In diesem Augenblick, als ihr Blick irgendwo in der Ferne hing, sie den Atem anhielt und darauf wartete, dass ihrem kühlen Verstand das Spiel mit der Selbstvernichtung über würde, erschien plötzlich Sabrina auf der Terrasse, neben sich ein `Fräulein` mit schmaler Taille und riesigen Brüsten. Die Brüste heischten nach so viel Aufmerksamkeit, dass man alles andere glatt übersah. "Meine große Liebe" – ihr Verstand, der die Situation jetzt unter Kontrolle hatte, lachte auf. "Das ist T." – stellte Sabrina das Fräulein vor. T. streckte ihren Arm aus und betrachtete sie mit unverhohlener Neugier. "Nun, deshalb also bist du hier" – dachte sie schwermütig, sich dessen bewusst werdend, immer noch so auszusehen, als wäre sie gerade aufgestanden: das Gesicht verschlafen, irgendwelche alten Sporthosen, ein viel zu weites T-Shirt und ihre Stimmung – zum erschießen. T. war im Großen und Ganzen zufrieden. Sie gurrte ein liebenswürdiges "Sehr angenehm." Ihre Gesichtszüge erinnerten an einen Vogel. "Schön habt ihr es hier." – gurrte sie weiter, an Sabrina gewandt. Sie hüpfte über die Terrasse und ihr üppiger Busen füllte den ganzen Raum um sie.
"Ja, die muss man einfach vögeln." – dachte sie vulgär. - "Der natürliche Wunsch eines jeden normalen Mannes."
"Na, na, na! Woher diese Grobheit in unserem klugen Köpflein?!" – protestierte der endgültig vom verschlafenen Nichtstun zu sich gekommene Verstand. Und fuhr mit dem Zynismus des Ästheten fort: "Alle Achtung. Nicht von schlechten Eltern, dieses Aas."
Mit nüchternem Blick betrachtete sie die sich lässig von allen Seiten darbietende, unerwartete Konkurrentin: enge helle Sommerhosen umschlossen wohlgestaltete Beine bis zu dem Versprechen eines zarten Bauches; zartgliedrige Finger fuhren zwanglos durch blondes glattes Haar; ein einfaches, kurzes, den überwiegenden Teil des prächtigen
Exemplars kaum verhüllendes T-Shirt, erinnerte an eine bescheidene Verpackung für das teure Produkt eines modischen Couturiers.
Sie dachte, dass es für sie beide vielleicht immer ein Geheimnis bleiben würde, warum er ausgerechnet sie geheiratet hat.
Als er am Abend nach Hause kam, erzählte sie ihm, dass T. hier gewesen war.
- Das kann nicht sein!
- Warum denn nicht?
- So eine ist T. nicht. Sie weiß, dass ich geheiratet habe.
Deutlich sah sie, wie gern er denken würde, dass T. allein schon der Gedanke - er ist verheiratet, Schmerzen bereiten müsste. "Gott, wie naiv er ist", - ihrem Verstand, schien es, begann all das langsam Vergnügen zu bereiten. "Liebe macht blind... und 'große Liebe' erst recht." Mit dem ersten Blick war ihr klar gewesen, dass man sich schon sehr anstrengen muss, damit dieses 'Fräulein' auch nur den Hauch eines Schmerzes verspüre. Wie ein undurchdringlicher energetischer Panzer, der sie vor Gemütsbewegungen dieser Art sicher bewahrte, umgab sie das ihr seitens der 'männlichen Hälfte' ihrer Umgebung unverhohlen zuströmende Interesse.
Sie wusste nicht, dass er sich auch nach ihrer Heirat einige Male mit T. getroffen hatte. Zerfließend und erstarrend, seinen Ohren nicht trauend, hatte er sich ihre Liebeserklärungen angehört, ihr Bedauern darüber, wie spät sie begriffen habe, dass er der einzige sei, mit dem sie zusammen sein wolle, der einzige, der sie verstehen würde, dass sie nur ihm vertrauen würde und erzählen könne, wie viel Pech sie habe auf der Suche nach ihrem ganz persönlichen Glück.
Irgendein sechster Sinn verriet ihm, dass T. nur spielte, dass sie ihm unverhohlen Lügen auftischte. Doch überwand er dieses Gefühl und erlaubte dem wonnevollen Balsam der verlogenen Erklärungen, sich in die seit fünf Jahren offenen Wunden seines ungestillten Verlangens zu ergießen.
Fünf Jahre zuvor hatte er T. kennengelernt. Fünf Jahre zuvor hatte T. Interesse für ihn bekundet. Und fünf Jahre zuvor hatte sich dieser einzige Abend einer vagen, vielversprechenden und nie wirklich gewordenen Nähe ereignet. Nach diesem Abend fühlte er sich als ihr Sklave. Er war bereit alles zu ertragen, nur damit sich dieser Abend wiederholen würde.
Für T. aber war er nur einer ihrer vielen komischen und treuen, von den magischen Ausmaßen ihres Busens - wie ihr schien, für immer - in den Bann gezogenen Verehrer. Seine Hochzeit hatte sie etwas aus der Bahn geworfen. Nein, nicht dass sie ihn wirklich gebraucht hätte. Doch wie konnte das sein, einfach so, mir nichts dir nichts zu heiraten? Nun aber, nach ihrem Besuch bei ihnen, hatte sie sich beruhigt, bemitleidete ihn sogar ein wenig, in der Annahme, dass es Verzweiflung war, die ihn zu diesem dummen, unnötigen Schritt getrieben hatte. Ihr Spiel setzte sie nun auch weiterhin mit Vergnügen fort.
Ihm aber war auch das genug: sich, wenn sie sich trafen und verabschiedeten, 'freundschaftlich' an ihre Brüste zu schmiegen und sich verschwommen dessen bewusst sein zu können, dass auch er jetzt sein Spiel spielt, dass auch er jetzt in gewisser Weise unzugänglich ist. Ach, und wie schmeichelte seiner männlichen Selbstverliebtheit die Möglichkeit, mit T. an der Seite, in gut besuchten Kaffees, vor den Augen eines neiderfüllten Publikums die Rolle des Glückspilzes zu spielen.
Sie wusste nichts davon, doch dass T. eine Blenderin ist, das begriff sie sofort. Freundinnen waren T. und Sabrina auf keinen Fall, und sie sah auch, dass die Besuche T.'s bei ihnen eigene, besondere Ziele verfolgten. Da sie sich nun aber entschlossen hatte, auch weiter mit ihm zusammenzuleben, wollte sie dieses Theater nicht länger dulden. Hätte sie bei T. auch nur den Funken eines echten Gefühls ihrem Mann gegenüber bemerkt, sie wäre ihr von selbst entgegen gegangen, denn im Leben, das war ihre feste Meinung, kann so manches passieren, und mitunter eben auch, dass man eine Liebe erst merkt, wenn sie verloren gegangen ist. Auch war sie der festen Meinung, dass es, wenn zwei Gefühle in eines zusammenfließen, niemals zu spät dafür wäre, alles von neuem zu beginnen. Wie weh es ihr auch tun würde, sie würde so einem für sie 'heiligen Bund' nicht im Wege stehen. "Nun ist es aber genug mit der Rotz- und Wasser-Tour" – knurrte der Verstand, - "Zeit den Punkt auf's i zu setzen!" Und als T. das nächste Mal die Schwelle ihres Hauses betrat, gab sie ihr unmissverständlich und recht schroff zu verstehen, dass sie nicht vorhabe, sich weiter an ihrer niederträchtigen Gesellschaft zu 'ergötzen'. Viel war es nicht, was sie auf Deutsch sagen konnte, doch die Beredsamkeit ihrer Augen reichte aus, um T. zu verstehen zu geben, dass es nicht lohnt die Geduld des durch die unermesslichen Weiten ihrer russischen Seele umherirrenden wilden Tieres zu strapazieren. Sabrina, die nichts von dem verstand, was geschah, versuchte sich einzumischen und es blieb nichts anderes übrig, als sich mit ihr zu verzanken. T. aber stand immer noch da mit offenem Mund, wie festgenagelt vor Überraschung und vage erfassend, dass jedem beliebigen ihrer Argumente einer der vielen im Korridor herumstehenden schweren Gegenstände als Gegenargument dienen würde.
Sie sah deutlich, dass ihre Botschaft bei T. angekommen war und ihr Verstand hielt sich den Bauch vor Lachen, während er dieses 'Weibergezänk', wie er es nannte, von der Seite betrachtete.
T. tauchte nie wieder bei ihnen auf. Der schweigende Schatten aber der 'großen Liebe' schweifte noch ungefähr zwei Jahre durch die Nischen ihrer Beziehung. Einmal, als er sich schuldig fühlte, die Last der Schuld aber nicht allein auf den eigenen Schultern tragen wollte, erklärte er seine Mutter für alles verantwortlich, da sie ihn seinerzeit nicht bis zur gesetzten Frist an ihrer Brust gesäugt hätte. Und maßte sich an hinzuzufügen, dass sie sich doch darum sorgen müsse, ihn von diesem so nachhaltigen Gefühl des erlittenen Mangels zu befreien. "Um Gottes willen, ja, bitte..." - entgegnete ihr von der absurden Bemerkung vor den Kopf gestoßene Verstand. – "versuche doch einfach sie dir ohne diese ballonartige Brüste vorzustellen, und deine 'große Liebe' ist in einer Woche vorbei." Und war es zufrieden, als sie den Schrecken angesichts einer solchen Perspektive auf seinem Gesicht sah.
Kurze Zeit später sagte er ihr, dass er sie liebe, was er mehrmals am Tag wiederholte, wie als würde er vor allem sich selbst davon überzeugen wollen. "Vielleicht steckt ja hinter all dieser Sinnlosigkeit doch ein Sinn, und ich muss herausfinden – welcher?" – dachte sie und fühlte, wie die letzten kostbaren Tropfen ihrer Gefühle für ihn, in salzige Tränen aufgelöst, über ihr Gesicht rannen und das Herz, das lebendige, fröhliche Herz sich in einen schwer in ihrem Brustkorb schlagenden Stein verwandelte.
…
Sie brauchte dringend Abstand von ihm und fuhr nach Amsterdam, um in den belanglos kitschigen Lebensstil ihrer russischen schwulen Freunde einzutauchen. Zwei Wochen russisch reden, russisch essen, russisch feiern.
„Olga“, der eigentlich Oleg hieß, kannte sie noch aus St. Petersburg. Er war zehn Jahre jünger als sie und sie spielten oft „die große Schwester und den kleinen Bruder“ in der Öffentlichkeit. Beide sind ohne Eltern groß geworden, deswegen genossen sie dieses Spiel miteinander, ohne es wirklich ernst zu nehmen. Überhaupt konnte er eigentlich das Leben nicht ernst nehmen, er konnte es nur genießen, er war zu beneiden. Mit seiner Oberflächlichkeit, Leichtsinnigkeit, sexuellen Offenheit, mit einem Hauch Verruchtheit und einer besonderen Art natürlich - neurotischer Intelligenz besaß er einen unwiderstehlichen Charme, der auf beide Geschlechter gleich wirkte. Die Frauen verliebten sich in ihn genau wie Männer. Er genoss es und flirtete mit Allen. Dieses Mal waren es ein kolumbianischer Junge, der seinen Lebensstil finanzierte und ein irisches Mädchen, das nicht glauben mochte, dass er tatsächlich schwul war. Sie war nett, lustig, hübsch, etwas kleinwüchsig und das wichtigste Argument, ihre Ungläubigkeit an das „Schwulsein“ stellte sie stolz zur Schau: einen prallgefüllten BH in Körbchengröße „DD“ unter einer durchsichtigen schwarzen Bluse. „Verfolgungsjagd“ - lachte der Verstand und sie erinnerte sich an die Szene aus Woody Alans Film: „Was Sie schon immer über Sex wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten“. Sie musste lachen. Endlich lachen! Sie saßen in einem russischen Restaurant mit drei weiteren schwulen Freunden an einen mit Speisen und Getränken überfüllten Tisch. Die Musik war laut, die Tanzfläche bebte, das Chaos der russischen Seele genoss freien Lauf und konnte nicht von allem genug bekommen. Der kleine Kolumbianer fühlte sich wohl, die Irin trank wie eine Russin und versuchte sich auszuziehen. Sie versuchte es zu verhindern, diesmal spielte sie „die ältere lesbische Schwester ihres kleineren schwulen Bruders“. Die Irin begriff endlich, dass sie von Männern an diesem Tisch nichts zu erwarten hatte und im Glauben daran, dass „die Schwester“ tatsächlich eine Lesbe ist, bestand darauf, dass sie sie nach Hause bringt. „Verlockend“- knurrte der Verstand unter nebligen Rausch zwiespältiger Gefühle.
Die Wohnung war vom Restaurant nicht weit entfernt. Ein großer offener Raum, fast ohne Möbel, trotzdem gemütlich. Auf dem Fußboden befand sich das Bett, eine Matratze. „Wie praktisch“ – meldete sich der Verstand. Die Irin lachte die ganze Zeit, erzählte irgendein wirres Zeug und flirtete mit ihr wie mit einem Mann. Sie fing an sich tatsächlich irgendwie männlich zu fühlen. Sie kannte ein paar Lesben aus Berlin und konnte sich nicht vorstellen, dass sie so ein Theater einander machten. „Also, bin ich jetzt ein Mann“ – dachte sie. „Und hoffentlich ein Gentleman“ – scherzte der Verstand. Die Irin machte das Licht einer Stehlampe an und fing an sich in einer Striptease-Art zu entblößen. Man konnte sehen, dass die Situation auch für sie neu war und sie lachte vor Aufregung fast hysterisch. Vor dem großen Finale machte sie Musik an, zunächst landete der Slip auf der Stehlampe, dann endlich der BH.
„Jaaa…, nichts entzieht sich der Schwerkraft der Erde…“ – der Verstand spielte den Philosophen. „Hast du noch was zu trinken?“ – Ihr Mut verließ sie plötzlich. Die Irin lachte kokett: „An der Bar!“ und fiel ins Bett.
Sie trank Whisky pur: Ein Versuch ihren Verstand zu betäuben und ihre Gefühle zu beleben. Keine Chance. Sie drehte sich Richtung Bett. Es schien, als ob die Irin eingeschlafen wäre oder sie tat nur so. Beine und Arme gespreizt, der mächtige Busen rutschte an beiden Seiten des Körpers unter den Armen hervor. Selbst der Verstand war sprachlos. Sie dachte nur, dass selbst nach einer Flasche Whisky ihr kein Schwanz wachsen wird. Die Tür hinter ihr schloss sich automatisch. Am nächsten Tag, voll verkatert, fuhr sie zurück zu ihrem Mann. Er freute sich und holte sie vom Bahnhof ab.
…
Ein halbes Jahr später, als in ihre Beziehung, wie ihm schien, eine 'erfreuliche Stabilität' eingekehrt war, sagte sie ihm, dass sie sich scheiden lassen wolle. Sein irritierter, fast verängstigter Blick ließ sie aufmerken. Das winzige, fast schon zu Stein gewordene Körnchen Hoffnung in ihrer Brust regte sich, bereit auf der Stelle goldene Wurzeln, rosafarbene Blätter und samtene Blüten zu schlagen. Auf einer blauen Wolke flogen die Erinnerungen an den letzten gemeinsam verlebten Sommer heran. Er hatte versucht, sich von seiner besten Seite zu zeigen. Er hatte ihr in die Augen geschaut, Geschenke gemacht, geduldig ihre träge Gleichgültigkeit allem, auch ihm gegenüber ertragen. War sie vielleicht doch im Unrecht?
"Stop, stop, stop" – meldete sich der Verstand sanft aber entschieden zu Wort, fast beleidigt ob des Misstrauens gegenüber seiner präzisen Analyse ihrer Beziehung. – "Zu spät, zu spät und zwecklos! Wie oft soll man dir noch wiederholen, dass eine Geliebte kein gleichwertiger Partner für ihn sein kann. Bis ans Ende seiner Tage wird der heimliche Ödipus in ihm sein Denken lenken. Eine Mutter braucht er: Mutterbrust, Muttersorge, Mutterliebe; Liebe die gibt, ohne viel dafür zu verlangen, nicht mehr als das: bei ihr zu sein. Und du mit deinem ungenutzten, nicht emanzipierten, russischen – d.h. unerschöpflichen – Potential an Mütterlichkeit bist für ihn die Garantin eines 'fetten' Lebens; und dafür ist er bereit, mit dir zusammen zu sein." "Doch im letzten halben Jahr" – versuchte sie zu widersprechen – "im letzten halben Jahr hatte er es schließlich nur mit einem launenhaftem, depressivem, fast in jeder Beziehung paralysiertem Wesen zu tun!"
"Ja doch ja" – gab der Klugscheißer-Verstand zur Antwort. – "Er ist von Natur aus gutherzig und bereit, jede Mutter zu akzeptieren – sei sie nun gütig, streng, klug, dumm, gesund oder krank. Im letzten halben Jahr warst Du für ihn eine 'kranke Mutter' und er hat sich aufrichtig um dich gekümmert."
"Oh Gott..." Nachdenklich betrachtete sie die vor ihr sitzende, in sich zusammengesunkene steife Gestalt... Das Gesicht – in den Handflächen ertrinkender Schmerz... Ein silbriger Faden im gelockten Haar... Und plötzlich, trotz aller Psychoanalyse, fühlte sie klar, dass die Hoffnung in ihrem Herzen lebendig war. Eine goldene, rosafarbene....
"Was ist mit dir" – fragte sie so zärtlich sie nur konnte. Er nahm die Hände von seinem totenblassem Gesicht, ließ den Blick in die Ferne schweifen und entgegnete mit leiser Stimme: "Ich habe solche Angst, allein zu sein."
"Du mein Kleiner!" – lachte der Verstand zufrieden auf. Die Hoffnung aber, rot vor Scham, verschwand spurlos. An ihrer statt brandete Wut in ihr auf. Sie zwang das Herz, schneller zu schlagen, pumpte heißes Blut durch den erstarrten Körper und machte den Weg frei für den einzigen entstehende Wunsch – leben!