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Grisas Reise zu den Sternen oder wie man einen Fluch bricht
Es ist noch früh am Abend, draußen schneit es, kein Mond scheint. Dafür leuchten die Sterne drinnen, im Zimmer, an der Dachschräge über ihrem Bett. Grisa hatte sie als kleines Mädchen dort angeklebt, mit Mamas Nagellack, weil sie keinen Klebstoff gefunden hatte. Jetzt allerdings war sie schon groß, ein großes Mädchen, das wusste wo Mama den Klebstoff aufbewahrte. Mama sagte, sie sei auch schon zu groß für Plastiksterne an der Decke, sie sagte andauernd, sie solle sie doch endlich abnehmen. Mama sagte auch, dass sie ohnehin nie in den Himmel käme, wegen dem, was sie getan hatte.
Aber was hatte sie denn schon getan? Papa war weggegangen. Aber doch bestimmt nicht, weil sie sich mit ihm gestritten hatte! Grisa war sich ziemlich sicher, dass er sich vorher mit Mama gestritten hatte, noch bevor er ins Wohnzimmer kam und Grisa anbrüllte, sie solle den Mist da ausschalten und endlich in ihr verdammtes Zimmer gehen. Grisa hatte zurück gebrüllt, das sei kein Mist, das sei doch die Sendung, die sie früher doch immer zusammen angesehen hatten. Papa war leiser geworden, aber er klang noch gemeiner als vorher. „Jetzt ist aber nicht mehr früher. Begreif endlich, dass du nicht ewig Mamis kleine Prinzessin bist. Dein Bruder hat schließlich auch verstanden, dass er nicht für immer mit seinem kleinen Spielzeugfuhrpark durch die Welt gondeln kann!“ Und hatte er seine Jacke und seine Schuhe angezogen und das Haus verlassen. Grisa war neun Jahre alt, damals. Als Papa zum Abendessen nicht wiedergekommen war, hatte sie Mama gefragt, ob sie den Teller noch für ihn stehen lassen solle. „Nein“, hatte Mama gesagt, „Papa kommt heute nicht wieder!“ Sie war wütend, ihr Mund war nur ein dünner Strich und ihre Augen wollten nicht in Grisas Gesicht schauen. Wenn Mama wütend ist, hat Grisa Angst vor ihr, große Angst, so groß, dass sie sich am liebsten wie früher im Heizungsraum versteckt und am Daumen gelutscht hätte. Auch wenn sie schon ein großes Mädchen war.
Aber obwohl Mama wütend ausgesehen hatte, hatte Grisa gefragt: „Wo ist Papa denn hin gegangen?“ Und Mama hatte gesagt: „Sterne gucken.“ Das hatte Grisa gefreut, schließlich war es etwas das sie mit ihm teilte. Wenn man neun Jahre alt ist, freut man sich über fast alles, was man mit einem Erwachsenen gemein hat.
Aber als Papa auch nach zwei Tagen vom Sternegucken nicht zurückgekommen war, hatte Mama angefangen Grisa anzubrüllen. Das sei alles ihre Schuld, hätte sie nicht einmal nachgeben und das Mistding von Fernseher ausmachen können? Papa sei nur gegangen, weil er die Streitereien mit Grisa nicht mehr ausgehalten habe und er käme bestimmt auch nicht zurück, solange Grisa noch da sei. Mama hatte früher schon solche Sachen zu ihr gesagt, auch zu ihrem Bruder. Der ist auch irgendwann weggegangen und nicht mehr wiedergekommen, genau wie Papa. Grisa war sechs Jahre alt gewesen und gerade in die Schule gekommen, als Linus wegging. Linus war schon richtig groß, siebzehn Jahre alt. Er spielte immer mit Grisa hinten im Garten bei der japanischen Magnolie. Er schleuderte sie hoch hinauf zum Himmel und fing sie wieder auf, wenn sie fiel.Aber manchmal war er auch so traurig gewesen. Dann hatte er in seinem Zimmer gesessen und seine Spielzeugautos angestarrt. Manchmal hatte er dabei geweint Nachdem er weggegangen war, waren Mama und Papa eine kurze Zeit ganz lieb zu ihr. Sie sagten, Linus sei jetzt bei den Sternen und dass er dort gut aufgehoben wäre. Sogar Papa hatte sich um sie gekümmert und ihr ihre Lieblingsschokolade mitgebracht, die weiße mit den kleinen Zuckersternchen drauf. Aber später, als Linus schon das zweite Weihnachsfest verpasst hatte, hatte Mama nicht mehr gesagt, dass er bei den Sternen gut aufgehoben war. Stattdessen bekam Grisa zu hören, dass er einfach nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte, dass er kleine Schwestern doof fand und keine Lust mehr hatte, für sie den Clown zu spielen.
Aber Grisa wusste es besser. Linus hatte sie nämlich in den Arm genommen, bevor er weggegangen war. „Meine süße kleine Maus“, hatte er gesagt und sie dabei fest im Arm gehalten. „Meine süße kleine Maus, ich muss jetzt weggehen. Sag Mama und Papa nichts davon. Ich habe ihnen einen Brief geschrieben. Mach dir keine Sorgen, Maus. Ich habe dich so lieb und ich werde immer an dich denken.“ „ Aber wo gehst du denn hin?“ , greinte Grisa auf. Sie verstand nicht, warum er weggehen wollte. „Sei leise, meine Süße, sonst hört dich die böse Hexe noch!“ „Welche böse Hexe denn?“ , jammerte sie, aber da strich er ihr nur über den Kopf und sagte: „Glaub ihr kein Wort. Nichts, was sie sagt, ist wahr.“ Dann stand er auf und ging einfach weg.
Grisa hatte niemals jemandem davon erzählt. Nicht einmal ihren Plastiksternen, die Mama so hasst.
Jetzt kommt sie rein und meckert: „Guckst du denn immer noch diese hässlichen Plastiksterne an? Herr im Himmel, du hast ja noch nicht mal gepackt! Du kapierst auch gar nichts, oder?“ Mama geht zum Bett und reißt die Plastiksterne ab. Einfach so. „Gib die wieder her!“ Grisa springt auf und will ihrer Mutter die Sterne entreißen. Sie ringen um das Bisschen künstlichen Lichts, dass sie da in den klebrigen dicken Fingern hält, dann ertönt ein Krachen. Der größte der Sterne ist in der Mitte durchgebrochen. Grisa hält inne, starrt erst ihre Mutter, dann den Stern an. „Gib das her!“ Ganz ruhig ist sie jetzt. Ihre Mutter lacht nur höhnisch und wirft ihr die Hälften vor die Füße. „Gott bist du erbärmlich. Ausziehen wollen, sich aber nicht von Dingen trennen können. Unfassbar, was ich da in die Welt gesetzt hab. Los, nun pack endlich, dein Wagen ist gleich da!“, kommandiert sie und verlässt das Zimmer.
Grisa packt etwas Unterwäsche, zwei Pullover und ihren Kulturbeutel in eine kleine Reisetasche. Ganz leicht ist sie. Das sind die letzten Dinge, die sie mitnehmen will. Und natürlich die Sterne. Die legt sie ganz vorsichtig zwischen die Pullover. Die konnte man kleben. Aber nicht mehr mit Nagellack.
Grisa nimmt ihre Reisetasche und geht langsam die Treppe hinunter zur Haustür. Der Wagen steht schon mit laufendem Motor an der Straßenecke. Es hat aufgehört zu schneien. Grisa geht an ihrer Mutter vorbei durch den kurzen, engen Flur. Sie sieht sie an- dann tritt sie aus der hellen Kälte der bösen Hexe hinaus in den warmen weißen Schnee.