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Grenzlinien
Grenzlinien
Sie denkt an den Tag, an dem noch alles in Ordnung war.
Ihre Mutter lag auf der Terrasse und nahm ein Sonnenbad, ihre kleine Schwester spielte im Sandkasten, ihr Vater las einen Krimi im Schatten und sie diskutierte angeregt mit einer Freundin am Telefon darüber, ob die Backstreet Boys besser waren, als Take That in ihren besten Zeiten.
Das ist lange her. Wenn man 13 ist, ist die Welt noch gut.
Jetzt sitzt sie da. Alleine. Starrt die gegenüberliegende Wand an.
Das weiße Bettlaken unter ihr fühlt sich kalt an und sie überlegt, ob sie ihre Wasserflasche zertrümmern soll. Schließlich sagen es alle hier:
Wer sich wirklich umbringen will, der schafft das auch in der Psychiatrie!
10 Menschen seit 20 Jahren haben dies auch bewiesen und sich in der Klinik umgebracht. Mit Spiegelscherben. Oder reingeschmuggelten Tabletten. Oder eben einer kaputten Wasserflasche.
Das sind die Gerüchte, die herumgehen, wie ein Pingpongball, der einmal von jemandem geschlagen wurde und nie wieder aufhört zu springen.
Einer soll sogar solange seinen Kopf gegen die Wand geschlagen haben, bis sein Schädel gebrochen war.
- Hier leben eben die Verrückten.
Sie sitzt noch immer und starrt noch immer. Sie kann sich nicht regen. Es passiert einfach nichts.
Die Gefühle gehen auf und ab, die Gedanken tun es ihnen gleich. Der Kopf tut so, als würde er gleich zerbrechen, doch sie weiß, dass er das nicht macht. Ihr Kopf zerbricht nicht. Das würde er nie tun. Und manchmal hasst sie ihn dafür.
Eben hat ihr jemand aufgetragen, mal ein wenig im hauseigenen Park spazieren zu gehen.
Aber dazu ist sie nicht in der Lage.
Es wird zuviel. Es ist.
Teilnahmslos durchlebt sie den nächsten Tag. Und wieder den nächsten. Und die Flasche zerbricht, damit die Narben nicht verschwinden. Narben der Seele.
Sie weiß, wie tief sie schneiden darf.
Sie liebt die Kontrolle.
Der Doktor sagt, es gehe ihr besser.
- Sie müssen jetzt versuchen das Leben selbst in den Griff zu bekommen.
Sie lächelt.
- Ich kann das. Ich schaffe das. Ich kann stark sein.
Und im Inneren denkt sie, sie schafft überhaupt nichts. Sie ist nicht stark.
- Borderline ist eine ernste Krankheit. Sie müssen sich darauf vorbereiten, eine harte Zeit durchzustehen. Alleine ist es schlimmer, als in der Klinik.
Daraufhin lacht sie. Bitte? Eine harte Zeit? Sie wissen gar nicht, was das ist, mein lieber Herr Doktor. Schlimmer kann es nicht werden. Doch sie sagt nichts.
Nein, sie lacht nur.
- Ich weiß das. Ich kenne meine Grenzen. Ich glaube die Therapie hat mir etwas gebracht.
- Borderline heißt Grenzlinie, wörtlich übersetzt. Ihre Grenzen sind verschoben. Sie leben immer auf der Grenze. Da ist es kein Wunder, wenn die Grenzen, die Sie zu kennen glauben, plötzlich weg sind. Oder ganz woanders liegen.
Verlassen Sie sich lieber nicht darauf.
Ernst schaut er sie an. Und sie schaut zurück. Versucht, nicht an den einsamen Platz zu Hause zu denken. Nicht daran, dass das Haus leer ist, obwohl ihre Schwester und ihr Vater dort sind. Nicht daran, dass sie hässlich ist. Sich nicht wohl fühlt. Sich niemals wohlfühlen wird.
Dass ihre Freunde sie abholen und sie dann ein Lächeln aufsetzen muss. Dass sie irgendwie das Gefühl hat, seit Monaten nicht mehr gelächelt zu haben, obwohl sie es doch oft getan hat.
Möchte vergessen, dass sie nun die Psychiatrie verlassen muss. Eigentlich verlassen will, aber eigentlich auch nicht.
Sie muss es. Da gibt es keinen Willen. Muss ihr Leben wieder in Ordnung bringen.
Sagen die helfenden Menschen hier.
Sie will verdrängen, dass sie jetzt nicht mehr verrückt sein darf. In der Psychiatrie darf man das. Jeder darf dort so verrückt sein, wie er möchte. Schließlich ist es ja die Heimat der Verrückten. Und draußen muss man sich wieder anpassen. Muss wieder nach den Gesetzen anderer Menschen handeln. Nach deren Wertvorstellungen. Muss sich verstellen, muss Angst haben, muss sich verkriechen.
Sie hat keine Lust, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Warum auch? Sie kann schließlich nichts dafür. Es wurde ihr oft genug erklärt, dass sie eine Krankheit hat. Mit ihr kann man nur lernen zu leben. Man kann sie nicht bekämpfen. Nur kennen lernen und besser mit ihr zurecht kommen. Gute Aussichten.
Der helfende Mensch vor ihr hat wohl doch Recht. Es kann immer schlimmer werden. Immer. In der Psychiatrie muss sie sich wenigstens nicht für ihr Verhalten schämen.
Die nächsten Sätze von ihm bekommt sie nicht mit.
Irgendwie ist sie abwesend. An einem anderen Ort.
Und das ist sie noch, bis sie zu Hause sitzt. Alleine. Mit einem Kuchen von einer Freundin.
Die Freundin ist jetzt weg. Musste weg. Angeblich wegen eines Termins. Lächerlich, solche Lügen. Wo sie doch ganz genau weiß, dass die Freundin sich unwohl gefühlt hat. Nicht wusste, wie man mit ihr umgehen sollte.
Den Kuchen kann sie nicht essen. Er schmeckt bestimmt gut, aber sie möchte es jetzt nicht. Der Hunger ist jetzt nicht da. Sie mag das Essen, solange man es unter Kontrolle hat. Ein Kilogramm zuviel ist zuviel. Ist zuviel.
Alles.
Am nächsten Tag geht es ihr gut. Ja.
Sie geht spazieren mit ihrem Hund. Der im Übrigen der einzige zu sein scheint, der sich in ihrer Gegenwart noch normal verhalten kann.
Der Hund unterscheidet nicht zwischen normal und verrückt. Der Hund ist egoistisch und will nur fressen, schlafen, gestreichelt werden und spazieren gehen. Dafür gibt er einem Liebe. Eine unwiderstehliche Liebe. Eine Liebe, die nicht einfach so verblasst, wie die Tinte auf einem Papier, das zu lange in der Sonne war.
Nein, seine Liebe bleibt für immer, wenn man ihm nur seine kleinen Wünsche erfüllt. Futter, Wasser, Streicheln und Spazieren gehen.
Und trotzdem ist der Hund niemand, der zu nahe kommt. Wenn sie keine Nähe aushält, kann sie ihn wegsperren und er liebt sie trotzdem noch.
Er ist der perfekte Lebensbegleiter.
Auf jeden Fall ist dieser Tag gut. Er ist sogar wunderschön.
Und sie lacht, und sie weint - allerdings vor Lachen.
Sie kann sich nicht vorstellen, dass es ihr je schlecht gehen konnte. Wie es ihr je schlecht gehen konnte, dabei ist die Welt doch so wunderbar.
Sie will es herausschreien, will tanzen und singen und laufen und schreien und einfach nur glücklich sein.
Eine Woche lang hält die Hochstimmung an und sie lacht ihren Therapeuten aus, der ihr sagt, dass die schweren Zeiten noch kommen werden.
Sie lacht ihn aus und dieses Lachen tut gut.
Und irgendwann ist es wieder schlimm.
Eine solche Veränderung kommt so plötzlich, dass man das Gefühl hat, der Himmel stürze ein.
Sie verkriecht sich. Kann nicht mehr hinausgehen, ohne zusammenzubrechen.
Macht alle Fenster zu, denn die Geräusche dürfen nicht hereindringen. Ihre Zimmertür bleibt zu. Ihr Roll-Laden ist herunter gelassen, es darf kein Licht hindurchdringen. Denn ein Sonnenstrahl würde ihre Augen erblinden lassen. Ein Geräusch ihr Gehör für immer zerstören. Und sei es ein Vogelzwitschern.
Es würde ihren Kopf zerstören. Es würde alles zerstören.
Das Schlimmste in diesem Moment ist, dass sie nichts fühlt. Keinen Schmerz. Keine Freude.
Sie ist neutral. Und Neutralität kann man noch weniger aushalten als Schmerz.
Deshalb verletzt sie sich selbst. Bis sie ihren Körper wieder spürt. Dann legt sie sich hin und schläft ein. Albträume verfolgen sie bis in den tiefsten Schlaf. Doch sie spürt.
Es ist schwierig zu beschreiben, wer sie ist.
Sie kann es selbst nicht. Sie kann nicht einfach sagen:
- Hallo, ich bin das große X und ich habe BPS. Was? Sie wissen nicht, was das bedeutet? Es ist eine Borderline-Persönlichkeitsstörung und ich kann Ihnen genau erklären, was das ist. Sie wollen nicht? Wie schade.
Nein, so ist sie nicht. Manche Menschen können selbst sagen, wer sie sind.
Sie sagen dann zwar, dass sie es eigentlich nicht wissen und dass sie sich selbst nicht beschreiben können, aber im Grunde... Ja, im Grunde können sie das doch. Sie wissen, wie sie in bestimmten Situationen reagieren. Sie wissen, was sie wollen. Sie wissen, dass sie Musik vielleicht nicht mögen, dafür aber auf Autos total abfahren. Vielleicht wissen sie auch, was andere Menschen wollen und was sie nicht wollen.
Es ist ja auch keine Kunst, so etwas zu wissen.
Was andere Menschen wollen... Ja, das weiß sie auch.
Aber was sie selbst will?! Nein, das weiß sie nicht. Sie ist immer wieder erstaunt über sich selbst. Erschrocken. Und schockiert.
Am meisten schockiert ist sie darüber, dass sie es im tiefsten Inneren kommen sehen hat. Sie hat kommen sehen, dass die Selbstverletzungen nur ein kleiner Teil davon sind, was sie... ja, was sie ist. Es war ihr nur nicht bewusst. Wenn sie gerade einen guten Tag hat und in sich reinschaut, dann sieht sie, dass im hintersten Winkel ihres Gehirns etwas ist, das so etwas voraussieht.
Aber meistens ist es zu anstrengend das zu tun. Es kostet Überwindung. Sie ist nicht so stark, sich diesem zusätzlichen Druck auch noch auszusetzen. Sie kann das nicht.
Also lässt sie es.
Wenn ihr Therapeut Dingen auf den Grund gehen möchte, wenn er mit ihr über Ursachen und Auslöser sprechen will, dann verschließt sie sich.
Sie ist noch nicht dazu bereit. Noch lange nicht.
Er ist ihr nicht so vertraut, wie er es vielleicht sein sollte. Vertrauen ist etwas, was man nur durch langjährige Beziehungen aufbauen kann. Und durch einen klitzekleinen Augenblick wieder vollkommen zerstören kann.
Er weiß zwar viel von ihrer Vergangenheit, aber nicht die wichtigen Dinge. Nicht die grundlegenden. Nicht die, die sie geprägt haben. Manchmal weiß sie die selbst nicht so genau.
Sie kennt ihn jetzt seit ungefähr einem Jahr. Da ist sie zum ersten Mal bei ihm gewesen.
Zum ersten Mal, obwohl sie da noch nichts über das Warum wusste.
Eine Freundin hatte gesagt, dass es für sie vermutlich das Beste wäre, mit einem Fachmann über gewisse Dinge zu reden.
Gewisse Dinge.
Damit meinte sie den Tod ihrer Mutter. Denn auch diese Freundin wusste nichts von den eigentlichen Dingen. Den prägenden.
Damals hat der Therapeut noch Depressionen diagnostiziert. Leichte Depressionen.
Als diese immer schlimmer wurden, hat sie die Therapie abgebrochen. Sie brauchte sie nicht. Immerhin hatte sie ja nichts gebracht, außer weiteren Schwierigkeiten.
Mitten in dem Prüfungsstress, dem sie zu diesem Zeitpunkt ausgesetzt war, verdrängte sie alles.
Nur manchmal tat sie komische Sachen. Sachen, die sie sich nicht selbst erklären konnte – geschweige denn anderen.
Sie boxte sich in den Bauch. Um den Druck loszuwerden.
Sie schrie Menschen an, die ihr helfen wollten.
Sie wusste nicht, wie sie sich anderen Menschen gegenüber verhalten sollte.
Hatte einerseits Angst vor ihnen – brauchte sie aber andererseits.
Sie wies sie zurück und wollte dann Nähe. Sie schlief mit Personen, um diese zufrieden zu stellen. Und dabei gaukelte sie sich selbst vor, dass sie es auch wollte.
Sie setzte Freundschaften aufs Spiel. Sie betrank sich manche Abende, nur um den Verdrängungsmechanismus wieder einzuschalten, wenn plötzlich doch alles mal hochkam.
Der Teufelskreislauf nahm kein Ende.
Dann der Zusammenbruch. Der psychische und der physische.
Zwei Tage nicht ansprechbar, jedoch bei vollem Bewusstsein.
Sie kann sich nicht mehr richtig daran erinnern. Doch Menschen erzählen so viel.
Im Krankenhaus meinten sie noch, es sei Überanstrengung, gepaart mit Stress.
Während dem Abiturdruck würden viele überreagieren.
Schon damals wusste sie es besser.
Einige Tage später ging sie wieder zu ihrem Therapeuten und erzählte ihm zum ersten Mal etwas wirklich Wichtiges. Nämlich, dass sie nicht mehr konnte. Sie konnte nicht mehr und wollte nicht mehr. Konnte dem Leben nicht mehr standhalten.
Er ließ sie wegen akuter Suizidgefährdung in eine Psychiatrie einliefern. Für vier Wochen.
Sie wurde mit Medikamenten behandelt, die einen mehr süchtig machen, als heilend zu wirken. Sie redete und redete. Und es brachte nichts.
Im Allgemeinen hat die Klinik sie wohl ‚stabilisiert’. Aber mehr auch nicht.
Dort wurde zum ersten Mal die Diagnose ‚Borderline-Störung’ gemacht.
Etwas damit anfangen konnte sie nicht.
Auch dieser Rahmen passte ihr nicht. Dieser Rahmen, in den sie gequetscht wurde, als der Krankheitsname auftauchte. Diese Schublade.
Mittlerweile sind mehrere Monate vergangen, seit dem Klinikaufenthalt und gebessert hat sich nichts Grundlegendes.
Sie kann den Druck noch immer nicht aushalten. Kann manchmal nicht verstehen, wieso sie überhaupt lebt. Fragt sich, was es mit dieser Ungerechtigkeit auf sich hat.
Warum variiert der psychische Zustand eines Menschen so sehr, dass niemand dasselbe, wie jemand anderes fühlt?
Und warum scheinen einige Menschen das Glück gepachtet zu haben? Und manche andere eben den Schmerz?
Sie verstand das noch nie und versteht es bis heute nicht.
Es ist nicht fair.
Auch die Vergangenheit ist bei jedem anders. Variiert sozusagen von Mensch zu Mensch.
Wer ein ‚Psycho-Problem’ hat, wie man das doch so schön nennt, der weiß, dass es Ursachen und Auslöser gibt.
Auslöser für ihre Krankheit ist ganz sicher der Tod ihrer Mutter. Das ist offensichtlich, wo es ihr doch vorher ziemlich gut ging. Zumindest hatte es den Anschein. Für andere und für sie selbst.
Ja, der Tod ihrer Mutter.
Das Problem dabei ist, dass sie das Gefühl hat, mit diesem Verlust nicht nur einen Menschen verloren zu haben, sondern auch alles andere. Es scheint einfach alles weg zu sein.
Und zurück bleibt nur diese Leere. Diese Leere, die sie oft mit körperlichen Schmerzen übertönen muss, wenn es zuviel wird.
Der Auslöser.
Für die Ursachen muss man wohl noch weiter zurückgehen.
Sie versteht nichts davon. Weiß nicht genau, wo das Problem überhaupt liegt.
Vielleicht liegt es an dem Gefühl, dass nur die Mutter alles zusammenhielt. Immer und immer.
Vielleicht liegt alles daran, dass es ein Jahr gibt, dass sie komplett verdrängt hat. Ein Jahr, in dem ein Nachbar und Freund der Familie ihr viel zu nahe gekommen ist. Bruchstücke treten manchmal hervor, wenn man lange genug bohrt. Aber sie möchte nicht bohren, deshalb erinnert sie sich nicht.
Vielleicht liegt es auch daran, dass ihre Mutter, kurz nachdem sie geboren wurde, eine Phase hatte, in der sie ihr Kind niemals weggeben konnte. Nicht für ein paar Minuten. Nicht für ein paar Sekunden. Gar nicht. Denn sie war ihr ein und alles. Und umgedreht.
Ihre Mutter neigte schon immer leicht zu Depressionen.
Manchmal überlegt sie sich, ob so etwas vererbbar ist.
Während ihrer Geburt und ihres siebten Lebensjahres konnte angeblich nur sie ihre Mutter am Leben halten. Ein Jahr lang war alles in Ordnung, die nächsten zwei Monate traute sich die Mutter kaum auf die Straße. So ging das, wie gesagt sieben Jahre und während dieser Zeit baute sich dieses Verhältnis auf, dass die Mutterprobleme nur mit ihr zusammen gelöst werden konnten. In diesen Jahren waren sie eins.
Wahrscheinlich war sie sogar Schuld an den Depressionen der eigenen Mutter und nun musste sie das auch wieder in Ordnung bringen. Normal.
Mit der Geburt ihrer kleinen Schwester löste sich dieses Verhältnis fast auf, denn der Mutter ging es besser. Für lange Zeit.
Bis an ihr Lebensende.
Sie hatte wie durch ein Wunder keine Depressionen mehr, die schwere Zeit war vorüber und Kinder konnten wieder Kinder sein. Auch wenn sie dazu nicht mehr richtig fähig waren.
Das Wunder hieß Hannah und sollte das jüngste Kind der Familie sein.
Mit 14 wollte sie sich zum ersten Mal umbringen.
Da waren der Auslöser einfache Teenagerprobleme gewesen.
Damals wurde gesagt:
- Es kann nicht so weitergehen mit dem Kind. Es hat ja nur Flausen im Kopf. Es muss behandelt werden!
Sie wurde viel ‚eingesperrt’, musste wieder Vertrauen zu ihren Eltern aufbauen und wurde letzten Endes geheilt.
Die Sache wurde als Ausrutscher abgestempelt.
- Vielleicht braucht sie ja mehr Aufmerksamkeit.
Niemand konnte es wahrhaben. Niemand wollte. Es war ja eigentlich auch nichts weiter passiert.
Doch der ‚Ausrutscher’ nahm ihr die Angst vor dem eigenen Tod.
Und er lehrte sie das Verdrängen.
Sie führte ein normales Leben. Hatte Freundinnen, Freunde, Probleme, Schulstress. Und so weiter. Bis zu dem Unfall.
Der Autounfall. Die Mutter am Steuer, die kleine Schwester auf dem Rücksitz. Ein Lastwagenfahrer hatte nicht richtig aufgepasst. Der schlimmste Fehler seines Lebens, den er sich selbst wohl nie verzeihen wird, wie er in einem Brief an die verbleibende Familie schrieb.
Die Mutter lebte nur noch für ein paar Tage. Ihre kleine Schwester musste mehrere Monate im Krankenhaus bleiben, wegen einer schweren Knieverletzung. Es war hart. So hart, dass sie sehr kontrolliert blieb.
Die ersten paar Tage noch schwarze Kleider. Danach bunt. Teilweise aufdringlich bunt.
Die Trauer überwältigte sie, trotz aller Farben. Anfangs. Aber sie ließ sich nicht überwältigen.
Ihre Gefühle sagten: Du könntest ohne allen anderen leben. Jeder könnte weg sein, und er würde dir fehlen, aber du könntest leben. Nur ohne deine Mutter geht es nicht.
Und deshalb ‚lebte’ sie auch nicht mehr. Zumindest nicht mehr für sich selbst.
Sie übernahm die Mutterrolle, mit knapp 18 Jahren. Sie übernahm die Vaterrolle für ihre Schwester, da der Vater zu sehr geschockt war und zu nichts im Stande.
Jeder lobte sie. So ein starkes Mädchen. So verantwortungsbewusst.
Lässt sich in der Öffentlichkeit ja nichts anmerken. Und kümmert sich bei all dem Schmerz auch noch um die kleine Schwester. Nein, wie tragisch. Nein, wie heldenhaft.
Dabei wussten sie alle gar nicht, warum.
Sie selbst zu diesem Zeitpunkt wohl auch nicht.
Es ist also schwierig zu sagen, wer sie ist.
Immerhin hat sie das letzte Jahr nur vor sich hin vegetiert.
Leben? Das ist Atmen. Leben? Das ist Umhergehen. Leben? Das ist Kontrolle bewahren.
Ist Leben noch mehr? Nein. Alles andere ist Luxus, den man sich zwar leisten kann, aber nicht muss.
Jetzt sitzt sie da. Mit Plänen von Berlin. Von der Universität.
Von einer WG mit Studenten.
Von einem Fliehen dieser Situation. Obwohl sie doch weiß, dass nicht der Ort entscheidet, wer sie ist und was sie tut.
Das sind fürs Erste kleine Pläne. Die Wohnung hat sie schon. Das Studienfach muss sie sich noch aussuchen. Von den Studenten ist schon einer da. Und die anderen werden bald nachkommen.
Aus dem CD-Player tönt R.E.M. mit ‚Everybody hurts’, auf dem Tisch steht ein Duftlämpchen. Es riecht nach Herbst und draußen fliegen rote und braune Blätter umher, als würden sie den richtigen Weg suchen. Den richtigen Weg auf den Baum zurück.
Der Weg wird nicht gefunden.
Dass es ihr oft schlecht geht, heißt nicht, dass sie keine Hoffnung mehr hat, den richtigen Weg noch zu finden.
Auch wenn sie schon oft auf dem Boden gelandet ist. Der Wind wird sie wieder hoch wirbeln, so wie er die Blätter hoch wirbelt, die den Lebenswillen noch immer nicht aufgegeben haben.
Die Grenzlinie Leben – Tod ist noch nicht überschritten, und soll es auch so bald nicht werden.
Denn sie will versuchen, stark zu sein.
Jetzt sitzt sie da. Mit Plänen von einem normalen Leben.
Es hapert nur noch ein wenig an der Umsetzung.