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Grenzgänger des Patriarchats
„Wach?“, er liegt mit gestütztem Ellbogen vor mir und grinst mich auf die Weise an, als wisse er etwas über mich, das mir nie bewusst war oder werden würde. Ich reibe mir die Augen und versuche mich zu orientieren. Unglücklicherweise hält mich das Brett vor dem Kopf in das Kissen gedrückt. Ich bräuchte ein paar Minuten, kläre ich ihn auf. Er verdreht die Augen. Was soll das bedeuten?
„Ich geh‘ Kaffee besorgen.“, ich höre wie die Haustür zufällt
Welcher normale Mensch hat keine Kaffeemaschine in seiner Wohnung, denke ich, bevor ich mich ähnlich einem alten Mann aus dem Bett aufrappele. Es ist wieder passiert. Ein Anfall von Manie, Euphorie oder was auch immer dieses Mal meine kognitive Welt zu beeinflussen vermochte.
Ich brauche Wasser. Dringend.
Ich tappe ins Badezimmer und halte den Mund unter den Wasserhahn. Es ist völlig irrelevant, dass meine Haare in diesem Moment etwas nass werden. Die Hauptsache ist gerade, dass mein Kreislauf nicht den Geist aufgibt. Ich schaue in den Spiegel und starre auf die Tropfen die aus ein paar Haarsträhnen tropfen. Denken die Leute ich sei verrückt? Was ist gestern passiert? Warum kennt das Ding in meinem Kopf nur schwarz und weiß. Wie geht grau eigentlich?
Die Fragen stürzen auf mich ein wie ein schlecht konstruierter Jenga-Turm. Ich drücke meine Handballen auf meine Schläfen und schüttle meinen Kopf. Kurz Ruhe.
„Wie lang willst du da drin bleiben?“ Hä, seit wann ist der wieder da? Wie lange war ich in diesem immer wieder kehrenden Monolog gefangen? Was soll ich antworten? Wer ist der Kerl?
Fuck. Wieder diese Fragen. Reiß dich zusammen.
Ich husche an ihm vorbei zum Bett und ziehe meinen Rock an. „Hör mal, ich, ich muss dringend zur Arbeit.“ Das war eine Lüge.
„Ich kann dich fahren.“
„Nein.“ Das kam zu forsch. Ich kann nicht klar denken. „Danke für das Angebot aber ich gehe lieber.“ Ich glaube ich bin noch nie so schnell ein Treppenhaus hinuntergesprintet. Während jeder einzelnen Stufe höre ich nur „Fuck. Fuck. Fuck. Fuck...“
Eigentlich musste ich nicht zur Arbeit aber die meisten Höflichkeiten werden ohne Nachdruck angenommen. Das ist oft mein Glück.
Ich sehe ein großes Plakat mit einer Frau darauf. Lange braune glatte Haaren, volle Lippen, orangefarbene Dahlien umrahmen ihr feminines Gesicht. Lange Wimpern und Augen wie zartbitter- Schokolade. Alles an diesem Bildnis verspricht die Erfüllung aller Sehnsüchte, von denen die großen Poeten berichten. Aber da spricht nur der Mann aus mir. Der sogenannte „Male Gaze“ ist in jeder Frau innewohnend ohne dass die meisten es merken. Wir verteidigen diese Sicht auf die Frau allesamt. Die Frau auf dem Plakat ist die gesellschaftliche Motivation und wir lieben sie mit allem was wir haben. Ich liebe sie so sehr, dass ich in meinen tiefsten Augenblicken zu ihr werde. In solchen Momenten fühle ich mich ausgefüllt und geborgen. Und gleichzeitig geht all meine Substanz verloren.
So wie gestern Nacht, sage ich leise vor mich hin.
Der flüssige Wachmacher, den mir der unbekannte Typ vorhin in die Hand drückte, ist mittlerweile kalt und schmeckt nach Kaffeesatz.
Die Frau von dem großen Billboard erscheint wieder in meiner Gedankensphäre und lacht mich auf einmal höhnisch aus.
Lisa, du bist keine Other Woman, du bist langweilig. Und seltsam obendrein.
Was soll überhaupt so toll daran sein die andere Frau zu verkörpern, kontere ich. Sie hat Zeit für all die schönen Dinge im Leben, die den Schein machen uns mit Substanz zu bereichern. Aber während wir ihrem Vorbild vertrauen und folgen, verlieren wir das was jedes Individuum ausmacht. Frauen sind Individuen. Jede kommt mit ihrem eigenen intrinsischen Geschenk auf diese Erde. Wir packen dieses Geschenk jedoch selten aus und versuchen es zu einer nicht erkennbaren Form zu pressen. Umhüllt von Schleifen, Glitzer und Glamour erkennen wir nicht mehr was darunter versucht zu atmen. Oder soll ich sagen, nach Luft zu ringen. Ehefrauen haben Angst oder empfinden Hass gegenüber der Other Woman. Ohne es zu wissen bleibt ihnen jedoch ihre gesamte Substanz erhalten.
„Gute Frau!“, sie winkeln meine Beine an, damit ich wieder zu Bewusstsein komme. „Rufen Sie den Krankenwagen.“ „Nein, danke. Mir war nur schwindelig.“ Ich gestikuliere eine Abwehrbewegung und gehe ein paar Schritte. Das wäre der Frau auf dem Plakat nicht passiert, denke ich laut.