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Grenzfluide
Es ist nicht die Hand, die deinen Mund zuhält, die dich zum Schweigen bringt. Es ist nicht der Schlag mit der Faust, der mit kalt-splittriger Wucht gegen deine Wange kracht, der jeden weiteren Laut verstummen lässt. Es ist das Tabu, das dich zwingt, nichts zu sagen.
Du
bist eine von vielen. Du existierst und keiner mag es wissen.
Täter.
Opfer.
Opferrolle.
Er ist der Regisseur in einem Stück von Brutalität, für das du nicht vorgesprochen hast. Du hast dich für diese Rolle nicht beworben. Du wurdest nicht ausgewählt, weil du dich besonders darum bemüht hast. Das Stück wurde für dich geschrieben. Deine Rolle wurde dir auf den Leib geschneidert. Eine Perversion. Zugeschnitten auf eine Rolle, messerscharf, gellend in seine Hand.
Ein Stück in vier Akten. Kurze Pausen dazwischen. Zeit, nach Luft zu schnappen, dann geht es weiter. Exposition, exponiert, ungeschützt. Steigerung. Höhepunkt. Die Handlung erreicht ihre Klimax. Völlige Erschöpfung, retardierendes Moment, keine Möglichkeit, Kraft zu schöpfen, ungewisses Warten auf die alles zerstörende Katastrophe
– Cliffhanger.
Der Vorhang fällt, ohne Applaus. All deine Emotionen liegen in diesem Stück, du hast alles gegeben. Deine Karriere scheint vorbei; nie wieder auf die Bühne. Absturz.
Du bist tief gefallen. Dein Arm ist gebrochen. Du bist es auch.
Jemand hilft dir auf. Du trägst noch dein Kostüm. Du darfst es nicht behalten, es bleibt bei den Requisiten dieses Stücks. Jemand anderes nimmt es dir ab, packt es in eine Tüte, es soll ihm nichts passieren. Es passiert nichts.
Er quält dich. Seine Regieanweisungen sind vorbei. Du quälst dich. Jetzt ist es dein Drama, ein klassisches, dem noch der Abschluss fehlt. Schreib deine eigene Katastrophe. Na los. Nun mach schon. Schreib es in deinem Blut, geh auf die Bühne, spiel zu Ende, für was du vorgesprochen hast. Wehr dich nur, ich mag das, aber du hast doch keine Chance. – Hure.
Deine Antwort: Mutismus.
Warum sagst du nichts? Bin ich dir nicht gut genug? Sprichst wohl nicht mit Männern. Dauerschleife, Repetitio. Warum sagst du nichts? Bin ich dir nicht gut genug? Sprichst wohl nicht mit Männern. Dauerschleife, Repetitio. Mindfuck.
Diskordanisches Jahr.
Du lebst ein gefangenes Jahr im diskordanischen Kalender. Fünf Tage. Fünf Monate. Ein Jahr. Exposition, Sweetmorn, es folgt die Steigerung, Boomtime. Zugedröhnt, gefühllos in Extase, Klimax, Pungenday. Das Stechen, deine Scham, in deine Scham, immer und immer wieder, Flashbacks, jede Woche aufs Neue, in diesem beschissenen Kalender, nach dem nur du zu leben scheinst. Retardiert, du bist retardiert, zu einem Junkie, einem Betäubungsjunkie, der diesen Moment, das Prickeln, nur aushält, weil Orange Setting die Katastrophe erträglich macht. Sweetmorn ist der Tag danach, der Tag, an dem du aus deiner Betäubung aufwachst, diesen Ekel spürst und alles wieder von vorn beginnt. Monat für Monat, Chaos, Discord, Confusion, Bureaucracy, The Aftermath.
Der Ausklang.
Das Wort klingt so verheißungsvoll, so tröstlich. Ausklang. Bedeutet das nicht, es ist bald vorbei? Du willst, dass es vorbei ist. Du hoffst, dass es vorbei ist. Du hast nicht den Mut, es ausklingen zu lassen. Schreib endlich deine Katastrophe. Nun mach schon!
Du hängst fest im retardierenden Moment. Die Kritiker werden lauter, der Cliffhanger rückt in zu weite Ferne, die Spannung droht den feinen Faden zu zerreißen, an dem dein Dramenende noch hängt.
Katharsiswunsch.
Du hast eine Deadline, nur kennst du das Datum nicht. Du musst dieses Ende schreiben, du musst. Du musst auf die Bühne, du musst das Ende spielen. Du rappelst dich auf, schaust in den Spiegel. Fett bist du geworden. Hinter Lagen aus Fett hast du dich zu verstecken versucht und musst nun wieder auf die Bühne. Aber nicht so. Du hungerst, meißelst dich wieder hervor und bist deine Rolle. Du streichst deinen Hosenanzug glatt, bevor du auf die Bühne gehst. Sieben Stufen sind es nach oben. Die Blicke sind auf dich gerichtet, auf dich und eine schwarze Mappe in deinen Händen. Du überquerst die Bühne, am Mikrophon vorbei. Deine Sprache ist wortlos geworden. Sie erwarten nicht, dass du etwas sagst, sie wollen dich nur spielen hören. Du gehst zu dem schwarz glänzenden Koloss, der dein Schiff ist, mit welchem du in die Schlacht ziehen wirst. Du rückst den Hocker zurecht, setzt dich, stellst die Mappe auf das schmale Brett über die Krone des Bechsteins. Geschlossen bleibt die Mappe dort stehen, sie ist für danach. Dein rechter Fuß liegt auf dem Pedal, deine Hände sind bereit, dein Publikum ganz still. Warten.
Der erste Ton zerreißt die Stille so plötzlich, dass du ihr Zucken sehen kannst – eine irrwitzige Freude durchströmt dich, wie du sie lange nicht gespürt hast. Con durezza beginnst du dein Stück, immer wieder sforzando. Sie haben keine Chance, dir zu entkommen. Sie sind gebannt von diesen Tönen, die das Ende jeder Melodie sind. Steife Haltung, geweitete Augen, das Verlangen nach Freiheit hat bereits begonnen. Sie wollen aufbegehren, dir ihren Gehorsam versagen, doch du bist ihnen einen Schritt voraus. Deine sehnigen Finger werden weicher, erzählen eine alte Geschichte, dolce e soave. Sie erzählen von einem Sommer in den Bergen, von einer ersten Liebe, von Walderdbeeren zwischen den Fingern, im Mund, von Händen auf deinem Körper, von Weihnachten, von einem Tannenbaum mit schiefer Spitze, von Zimt und Nelken, von einem Spaziergang im Schnee. Lieblich, amabile, pianissimo. Sie dürsten nach mehr. Forte, der Wunsch nach forte. Du verweigerst ihn, schreibst stattdessen seichte Liebeslyrik mit silbernen Noten in die Luft über ihren Köpfen. Ihr Widerstand wächst, zu zart deine Melodie, etwas fehlt. Du schaust sie von oben herab an – andante – verwehrst ihnen diese satte Melodie, nach der sie dürsten, trocknest sie aus, und dann – ein Herbst am Meer. Wind zwischen den Dünen, zwei Menschen con anima. Salz auf den anderen Lippen, Finger im Haar, kraftvoll, con affetto – erregende Schönheit. Die Wellen in euch atmen tosend, bäumen sich auf, rollen durch eure Körper, gierig, hingebungsvoll, vibrato. Die letzte Welle bricht mit einem lauten Crescendo. Ihr lebt. Das Publikum lebt, lebt mit dir, in dir, ist dein, für diesen Moment. Sie wissen nicht, was kommt, du allein weißt es, bereitest es vor. Deine Töne, con fuoco. Mit Feuer baust du einen Baldachin unter dessen hellem Licht die warmen Schwingungen der Töne ihr Innerstes berühren. Glück, das ist Glück. Sie sehen glückselig aus, bis – con dolore prasselt das Feuer ihres Himmels auf sie herab, trifft sie unverhofft, verbrennt ihr Fleisch und macht sich ihre Schmerzstarre zu Nutzen. Bedrohliches mezzopiano. Blankes Entsetzen erfüllt den Raum bis in die letzte Ecke. Keiner kann sich wehren, sie sind Gefangene der Saiten, die sich enger und enger um ihren Hals schlingen. Du schickst sie durch die Hölle, jeder einzelne Ton penetriert, schmerzhaft, demütigend, wehrlos. Und dann – lässt du sie liegen. Al niente. Mehrere Minuten. Jemand weint. Addolorato.
Danach fragst du dich stets, warum sie kommen, warum du sie missbrauchen darfst. Die Mappe liegt aufgeschlagen neben dir, weißes Papier, jedes Mal, immer. Du hast dich schuldig gemacht, für nichts. Die Erkenntnis schmerzt mehr als alle Schläge zusammen. Sie bricht mehr, als nur einen Arm. Du ekelst dich vor dir selbst.
Veränderung.
Keiner ist mehr dein Gefangener, du quälst sie nicht mehr. Abends sitzt du zuhause. Schaust dich um. Alles sieht gleich aus. Du machst dir etwas zu essen. Alles schmeckt gleich. Bitterrot. Warten auf die Deadline, statt ihrer ein unverhofftes Angebot:
Tanz mit mir, Minuten lang, während Jahre vergehen.
Menschen bringen dir Farben, malen winzige Punkte auf deine einfarbig-schreiende Kulisse. Jeder Punkt ist ein schmerzhafter Stich unter deine fahle Haut, du hältst es aus. Langsam entsteht aus Farben wieder ein Himmel, darunter Gras, dazwischen du.
Menschen kochen für dich, zuerst schmeckt alles bitterrot, nach Rost, nach Galle und Blut, nach verfaulten Erdbeeren; du isst weiter. Das erste Mal salzig. Endlich wieder fad. Irgendwann schmeckst du Süße. Etwas schmeckt verbrannt. Etwas anderes lieblich. Und manches schmeckt bitterrot.
Metastabilität.
Ihr pflanzt einen Zitronenbaum. Er trägt Äpfel im Sommer. Schnee bedeckt seine Äste im Winter, fällt als weiße Blüten im Frühjahr in das grüne Gras auf dunkler Erde. Ihr feiert ein Fest, unter gelben Sonnen viele Stimmen. Kleine Laternen zwischen bunten Blättern, dunkler Himmel in heller Nacht.
Ein neuer Morgen, mit Gespenstern.
Du hast überlebt, hast weitergelebt, lebst neu. Du hast etwas erreicht, was du nicht hättest erreichen müssen, wenn – .
Du lebst einen stummen Sieg über eine Niederlage, deren Grausamkeit du kein Gesicht geben kannst. Du lagst blutig im Dreck, neben dir dein zerrissener Slip. Du existierst und darfst es keinem sagen.
–
Grenzüberschreitung.
„Ich wurde vergewaltigt.“
Schweigen. Mutismus deines Gegenübers. Dann –
Opferrolle.
Du liebst Frauen, hast das immer getan. Sie sagen es ist, weil du, weil dir, na, du weißt schon. Da würde es jedem schwerfallen…
Nein!
Oder doch?
Du bist erfolgreich. Sie sagen, du zeigst keine Schwäche, willst perfekt sein, die Kontrolle behalten, seist unnahbar, weil du, weil dir, na, du weißt schon. Da würde doch jeder…
Nein!
Oder doch?
Du lächelst jemanden an, einen Mann, eine Frau, vielleicht ist es ein kleiner Flirt, beim Einkaufen, im Biergarten, während eines Konzerts. Sie finden, das sollst du nicht, weil du, weil dir, na, du weißt schon. Das würde doch keiner…
Nein!
Oder doch?
Deine Karriere geht weiter. Bühnenpräsenz, Publikum, Dramenkritik, nur selten Applaus. Dieses Drama soll dein Coup d'oeuvre sein, deine Rolle, die Rolle deines Lebens. Erst wehrst du dich, mit aller Kraft, doch du bist zu schwach. Schließlich gibst du dich ihr wieder hin, spielst deine Rolle, spielst dein Leben. Du benutzt Masken, Kostüme, stellst dar, was von dir verlangt wird. Viele Kostüme sind zu eng und die Masken schmerzen, weil sie dir nicht passen wollen. Du frisst deinen Schmerz in dich hinein – und kotzt ihn wieder aus. Du erniedrigst dich selbst, kniest auf dem kalten, weiß gekachelten Boden, kotzt, bis du nichts mehr fühlst, bis du Blut siehst, es aber nicht schmeckst. Dann stehst du auf, schaust in den Spiegel und versuchst ein Lächeln. Deine Zähne sind blutig, dein Gesicht ist von Erbrochenem und Tränen verschmiert, dir starrt eine Fratze entgegen. Du spülst deinen Mund aus, wäschst dein Gesicht, du richtest dein Make-up, du kämmst deine Haare, steckst sie nach oben, du wechselst die Kleidung, läufst durch einen Nebel aus Parfüm, ziehst deine Schuhe an, öffnest die Wohnungstür und stehst wieder auf der Bühne. Tief unter der Bühne spielen sie im Orchestergraben deine Stücke. Deine Stücke, mit denen du einst dein Publikum zwangst, dein Innerstes zu fühlen, es ihnen entgegenschleudertest und dich freutest, wenn es sie zu Boden warf. Die Musik dröhnt in deinen Ohren, Tag und Nacht. Eine Geige ist verstimmt, ein Fagott verpasst häufig den Einsatz. Deine Musik wird verzerrt, quält, quält sogar mehr, lässt nie vergessen. Du schaust über den Rand der Bühne, schaust nach unten, das Orchester ist viel zu weit weg. Zehn Meter tief, zwanzig Meter tief blickst du in die Unterwelt, deren Bewohner dir zu Ehren ihre Instrumente aus staubigen Kästen gezerrt haben. So weit weg sie in ihren zerschlissenen Fräcken auch zu sein scheinen, so nah an dich heran dringt ihre Musik aus morschen Instrumenten. Sie frisst sich durch deine Haut, dein Fleisch, nagt an deinen Knochen. Du beginnst zu schreien, die Laute verstummen hinter deiner Maske. Schreiend auf der Bühne, Tag und Nacht, kein Schlaf, nichts. Plötzlich verstummt die Musik. Es ist still. So angenehm still. Dann hörst du ein Kratzen. Erst weißt du nicht, was es ist, doch mit einem Mal ist es dir klar: Sie schreiben deine Kritik. Ihre spitzen Füller kratzen am Papier, das ihre königsblauen Worte aufsaugt, um sie auf ewig unvergessen zu machen. In dem Moment, als dir dies klar wird, nimmst du Anlauf, rennst los, auf den Rand der Bühne zu und – springst. Ein dumpfes Geräusch begleitet den Aufschlag. Stille.
–
„Ich wurde vergewaltigt.“
Du sagst es und verlässt für immer die Bühne.
Das Drama bleibt unvollendet. Die Katastrophe bleibt aus, du hast das Ende geopfert und musst damit leben. Die Dramenkritiker, sie müssen schweigen. Dein Dramenfragment fordert keine Kritik, es fordert Akzeptanz.
Du beginnst, deine Rolle abzulehnen, abzulegen, nein zu sagen. Du beginnst, weiter zu leben, wieder zu leben. Nicht grenzenlos, aber freiheitsvoll, freiheitsvoller, grenzfluide.
Es gibt sie manchmal noch, die Fünf-Tage-Woche, die diskordanische Zeit, doch du weißt, sie geht vorbei, immer, immer schneller, Ausklang, Aftermath, kein Sweetmorn, neuer Morgen, ohne Gespenster.
Du spürst sie wieder, die Zärtlichkeit, die Berührungen auf nackter Haut, den Atem an deinem Hals, die Brandung, das finale Crescendo. Elektrisiert, erhitzt, von Blitzen durchzuckt, manchmal rückwärts – Flashback. Akzeptanz, auch von deiner Seite. Nein sagen, die Rolle ablegen, ablehnen, immer noch, immer wieder neu, immer seltener, immer leichter; ein Drama, ein Trauma, Überwindung, gemeinsam, allein, fließend – mit der Zeit.