- Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:
- Kommentare: 3
Grenze
Nie hätte er gedacht, dass er einmal froh darüber sein würde, den Tag auf diese Weise zu beenden. Liegend auf dem gekachelten Boden, jeden Vorsprung seines Körpers spürend, als wäre er aus Eis. Der Grund sog seine Wärme auf, um sie im Inneren zu verteilen, an seinen Zusammenhang weiterzugeben, einen Teil zurückzustrahlen, aber den Grossteil für immer behaltend. Die Flüssigkeit jedoch blieb obenauf. Ein Teil von ihr gab das gefangene Wasser an die Umgebung ab, wurde von ihm wieder eingeatmet und zu dem, woraus es jetzt bestand, immer klebriger und fester werdend.
Dort, wo die Luft der Flüssigkeit einen Anteil weggenommen hatte, hatte sie auch die Farbe verändert. Eine Spur in der Wellenlänge weiter, so dass sie dunkler und noch roter erschien. Und jetzt weigerte sich der Geist, vor dieser rehbraunen Farbe zurückzuschrecken. Die Fugen würden diese Farbe für eine ganze Weile behalten, auch wenn sich die Kleinsten, die hier lebten, ihren Teil genommen hatten. Fest irgendwann, abbröckelnd und zur Essenz eines früheren Lebens eingetrocknet.
So lag er noch eine Weile, hatte den Kopf seines Bruders in sich verborgen, aus dem noch der lange dünne Halm ragte, aus dem er sich sattgetrunken hatte. Wie ein Embryo zusammengekrümmt, Kopfhaut und Augen des geliebten Verwandten umklammert. Er wurde immer kälter, dachte er und versuchte, ihn durch anpressen an seinen Leib vor der allgegenwärtigen Kälte zu beschützen. Schließlich warf er ihn zu den anderen in die Ecke und stand auf.
Gelenke knackten und warfen einen dunklen Schatten in die Ecke, wo das glänzende Aluminiumbecken an die Wand geschraubt und mit gelben Rosen geschmückt war. Einen Schritt vor den anderen, nicht auf die schwarzen Fliesen treten, und wenn, dann nur mit der Ferse. Nie die Zehen eintauchen in die ölige Flüssigkeit! Geschafft, an die Tür klopfen, warten, sprechen; ein Singsang aus gemurmelten Worten, fast beschwörend klagten sie sein Unwohlsein. Ein Quietschen auf der anderen Seite, die Tür schwang auf. Niemand dahinter und der Schlüssel baumelte daran, noch warm von der Hand des Wärters. Die Konvektion färbte die Luft über dem Schlüssel rosa. Die Schwaden stiegen eine Handbreit nach oben und verloren sich in der nicht sichtbaren Luft, rochen noch ein bisschen nach heißem Metal und Schmerz. Rechts und links Gänge ohne ein ersichtliches Ende. An der gegenüberliegenden Wand ein einfacher Lautsprecher, lose an seinem Verbindungskabel, etwa so groß wie eine Schallplatte.
Er ging an den anderen Türen vorbei, schmeckte die Angst dahinter. Die Angst, die sie vor ihm hatten. Sie schmeckte gut, machte trunken. Wenn er wollte, würde er sie alle kennen lernen. So gut kennen lernen, dass sie keine Geheimnisse mehr vor ihm haben konnten. Es hieß, man könne den Menschen nur bis vor die Stirn sehen - er wusste es besser. Er und sein Bruder, den er jetzt so gut kannte, wie sich selbst. Es war schwer gewesen, ihn so gut kennen zulernen, wie er es jetzt tat. Es hatte fast den ganzen Tag gedauert und sein Magen revoltierte noch ein bisschen. Nicht wegen des ungewohnten Mahles, sondern wegen des ganzen Wissens, das er zu verdauen hatte. Ein Teil des Ganges bestand aus sattem grünen Gras, das ihn unter den Fußsohlen kitzelte. Die Sonne wärmte auf einmal sein Haar. Sie stand weit oben am Himmel, immer ein bisschen bedeckt vom davor stehenden Mond, als hätte Gott ein Stückchen von ihr abgebissen, um sich ein Magengeschwür zu wärmen.
Ein Sprung, und er war auf dem Dach, atmete die frische warme Luft tief ein, verschluckte sich und hustete eine handvoll Moos in hohem Bogen auf die blauen Dachziegel vor seinen Füssen. Das Moos erhob sich sofort und lief hastig davon. Zwei Sprünge und er hatte den Rand des Daches erreicht. Unter ihm schlängelte sich eine breite Strasse; sie bestand aus je vierhundert Spuren in jede Richtung und kreuzte fast an Horizont in Richtung Westen einen Fluss, der träge über sie hinwegfloss. Eine jähe Windböe, unerwartet in Heftigkeit und Farbe, packte ihn während dieses Augenblicks und zerrte ihn über den Rand - Flügel ausbreiten und fallen! Schweben, keinen Windhauch mehr spüren und landen.
Eine Spur der Strasse nur für ihn, alle anderen überholten ihn bereits und er ließ sich mittreiben, viele hundert Kilometer weit, tagelang, immer weiter fort von der Zeit, die ihm so vertraut gewesen war. Seine sonst immer makellos gefeilte Hornplatte war von der Sonne ausgebleicht und lang über die Ohren gewachsen, an der einen oder anderen Stelle geplatzt. Er rieb einen Teil der Oberfläche ab und steckte ihn in den Mund. Süß! Drang und Ehrgeiz trieben ihn schließlich von der Strasse, vorbei an Hunderten, die nicht so waren wie er, in die nächste Siedlung.
Eine andere Welt erwartete ihn, sauber, fast geruchlos und beinahe leer. Auf braunen Stelzen standen grüne, zerfaserte Kugelhaufen, beherbergten fliegende Hohlkörper und produzierten Faser und Zucker, Sauerstoff und pumpten Wasser ohne die Geräusche der Kobenmaschine. Die Lichtwellen vor ihm wurden gespalten, die langen reflektiert, die kurzen teilweise nur zurückgeworfen, teilweise gebrochen, teils nicht berührt von der Barriere drangen sie in den Innenraum, so wie er. Wellenmaschinen machten aus glitzernder Energie neue Wellen, die ihn trafen. Netzhaut schützen, alle Lider zukneifen, nur noch geradeaus gehen, Güter aussuchen, den Geruch von anderen ertragen, einen Tausch vorbereiten. Tauschen? Tauschen gegen was? Noch hatte er sein Wissen, sein höchstes Gut. Doch würde ihm das nichts nützen, würde er jetzt nicht das Gut erwerbe, das ihm das Überleben sicherte. Tauschen!
Dann seine Finger auf ihrem Kopf, eine Übertragung, die sie nicht ausschlagen konnte. Er sah ihre Gedanken, einfach, klein und eingezwängt in das, was Generationen sie gelehrt hatten. Er sah Möglichkeiten für sie, die für immer verbaut waren, unüberwindliche Hindernisse des Geistes. Ein dünnes Gespinst, feiner als von einer Spinne, die sich im Spätsommer von der Luft tragen lässt, durch die Luft der Schwerkraft trotzend, die Schwerkraft der Luft benutzend, über die Physiker lachend. Und doch ein Gespinst, unüberwindlicher, als eine gewachsene Mauer aus Stein, höher als das Auge blickt. Der Geist, eingeengt in einen Raum, nicht größer, als ein Areal, das ein ausgewachsener Mann in vier Tagen durchläuft. Danach nichts, nur Verbote und Einschränkungen, Unmöglichkeiten und nicht Vorstellbares.
Er gab ihr einen Teil der Ewigkeit des Geistes zurück, bevor sie es verweigern konnte. Aufgerissene Augen, in die sofort Tränen schossen. Ein dünner Speichelfaden aus dem geöffneten Mund und sie war für immer verändert. Das Gespinst an einer Stelle zerrissen, in die Mauer eine winzige Bresche geschlagen. Es tötete sie fast sofort, eine Träne aus Blut spritze aus dem Auge, traf auf der schwarzen flexiblen Bahn vor ihr auf und wurde unsichtbar. Jeder Muskel angespannt bleib sie so sitzen, die Ewigkeit noch in den gebrochenen roten Augen. „Mehr als ein Mensch verdiente“, dachte er und nahm die Ware an sich.