- Beitritt
- 03.04.2003
- Beiträge
- 1.343
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 11
Grendel
Das Anwesen begann an einer mächtigen grauen Mauer, in die ein schmiedeeisernes Tor eingelassen war, deren Ornamente mit Blattgold überzogen waren. Jörensson hatte Geld, und er zeigte es auch.
Dem über zwei Meter großen Mann, der aus dem für seine Körpergröße lächerlich kleinen Ford stieg, war Baukunst jedoch egal. Er fixierte mit seinen schwarzen, tiefliegenden Augen den Wachposten, der sich gerade eine Zigarette angezündet hatte und nun versuchte, grimmig dreinzublicken.
„Sie können hier nicht parken“, rief er dem großen Mann zu, „Sie versperren die Ausfahrt!“
„Keine Sorge“, sagte der Angesprochene mit einer heiseren Stimme. „Ich fahre gleich weiter. Sobald Sie das Tor geöffnet haben.“
„Wenn Sie zu Herrn Jörensson wollen: Der ist nicht da.“
„Natürlich ist er da!“ polterte der Besucher. „Lügen Sie mich nicht an!“
Der Wachmann zuckte zusammen. „Ich muß Sie leider bitten, wieder zu gehen“, sagte er dann. „Zu Herrn Jörensson können Sie nur mit Termin.“
„Nicht doch“, meinte der große Mann und kam nun näher. „Wo bliebe denn da die Überraschung?“
Der Wachmann musterte den Besucher ausgiebig. Dieser war unglaublich häßlich, ähnelte entfernt einem Gorilla. Hinkte. Trug ausschließlich schwarze Kleidung, und rechts einen schwarzen Handschuh. Die linke Hand wirkte im Vergleich dazu irgendwie zu groß.
Einen Moment später erkannte der Wachmann, daß der Handschuh eine Prothese war. Dem häßlichen hinkenden Gorilla fehlte wohl der rechte Arm. Traurige Sache. Er würde ihn dennoch nicht hereinlassen.
„Herr Jörensson mag keine Überraschungen“, sagte er. „Bitte gehen Sie jetzt und lassen Sie sich einen Termin geben. Das Tor bleibt jedenfalls zu.“
„Soso, er mag keine Überraschungen, hm?“ Der Unbekannte verzog den Mund zu einer Parodie auf ein Lächeln, bei dem eine Reihe langer, schiefer und gelber Zähne sichtbar wurden. Dann schoß seine gesunde linke Hand blitzartig zwischen den Gitterstäben hervor und packte den Wachmann an der Kehle. Dieser war zu überrascht, um zu reagieren.
„Mögen Sie auch keine Überraschungen?“ fragte der Mann und leckte sich mit einer langen schwarzen Zunge über die Lippen. „Also ich liebe Überraschungen. Sie verleihen dem Leben erst die gewisse Würze.“
„Lassen Sie... mich... los!“ würgte der Wachmann hervor und nestelte an seinem Gürtel, an dem die Dienstwaffe hing.
„Vielleicht lasse ich Sie los, wenn Sie das Tor aufmachen“, erwiderte der Besucher und hob den Wachmann ohne Mühe empor, so daß dessen Beine einige Zentimeter über dem Erdboden baumelten, sich der Druck auf seinen Hals verstärkte und Panik in ihm aufstieg.
Irgendwie bekam er endlich die Pistole zu fassen, entsicherte sie und schoß auf den Verrückten mit den Riesenkräften.
Er schoß das ganze Magazin leer, nur um anschließend festzustellen, daß er immer noch über dem Boden hing.
„Schade“, bemerkte der große Mann nur, „jetzt bin ich verärgert.“ Er verstärkte seinen Griff, bis er die Halswirbelsäule des Wachmannes splittern hörte, dann zog er den toten Körper zwischen den Gitterstäben hindurch. Da diese relativ eng beieinander standen, brachen in der Leiche noch weitere Knochen, bis es geschafft war.
Zur Verärgerung des großen Mannes fand sich beim Wachmann weder ein Schlüssel noch sonst eine offensichtliche Vorrichtung, mit der sich das Gittertor von außen öffnen ließ. Er warf den schlaffen Hautsack, in dem die zerbrochenen Knochen knirschten, mit einem wütenden Fauchen von sich und stand für einen Moment unentschlossen vor dem Gitter.
Dann faßte er einen Stab an.
Sogleich zog er mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hand zurück und betrachtete die rauchende Brandwunde, die sich quer über die Finger zog.
Er blickte zurück zu seinem Auto. Kurzentschlossen stieg er ein, gab Vollgas und rammte das Tor. Die Wucht des Aufpralls schleuderte seinen Oberkörper durch die Windschutzscheibe, zerriß sein Hemd und verkürzte den Motorraum auf halbe Länge.
Das Tor blieb jedoch unbeschädigt.
Noch während der große Mann sich wütend die Glassplitter aus der Hose klopfte, kam ihm eine neue Idee. Er lehnte den verbeulten Wagen an das Gitter und kletterte empor. Den letzten Meter mußte er springen. Doch er landete sicher auf der anderen Seite.
Obwohl die Wolken den Mond verbargen, fand er den Weg zum Haus ohne Probleme. Unterwegs begegnete er zwei weiteren Wachmännern, doch er wurde in der Dunkelheit nicht gesehen. Einen Konflikt zu gewinnen war gut, ihn zu vermeiden, besser.
Bis auf den Koflikt natürlich, dessentwegen er hier war.
Das Haus war eines dieser typischen neogotischen Anwesen, wie sie im England des 19. Jahrhunderts Mode gewesen waren. Er haßte diesen Stil, ohne genau begründen zu können, warum eigentlich. Vielleicht sollte er nach getaner Arbeit das Gebäude dem Erdboden gleichmachen.
Vorerst schlug er nur eine Scheibe ein und fand sich kurz darauf in einem viktorianisch eingerichteten Salon wieder. Die Tür zum Flur war abgeschlossen, er brach sie auf.
Der Flur war schmerzhaft hell erleuchtet, er kniff die Augen zusammen und schnüffelte.
Der Geruch von drei Menschen lag in der Luft, einen davon kannte er.
Und zu diesem wollte er.
Die Fährte führte ihn die breite, mit rotem Teppich ausgeschlagene Treppe empor in den ersten Stock. Er bewegte sich schnell, aber so gut wie lautlos. Deswegen überraschte es ihn auch, als plötzlich eine der Türen aufflog und sich ihm ein Wachmann mit gezogener Pistole in den Weg stellte.
„Sofort stehenbleiben!“ rief er. Dann fiel sein Blick auf die grünlich geschuppte Haut, die unter dem zerrissenen Hemd hervorlugte, und er erbleichte.
Der große Mann ging an ihm vorbei, er war an diesem Menschen nicht interessiert. Der Geruch, dem er folgte, war inzwischen stark geworden. Hinter jener breiten Holztür mußte derjenige sein, zu dem er wollte...
„Stehenbleiben, Mister!“ rief ihm der Wachmann hinterher. „Da dürfen Sie nicht rein! Stopp!“
Der große Mann drehte sich nicht einmal um.
„Ich warne Sie! Ich habe Anweisung zu schießen!“
Er drückte die Klinke. Die Tür war abgeschlossen. Er trat dagegen, dann war sie offen.
Der Wachmann schoß ihm ins Bein. „Ich habe Sie gewarnt!“ bebte seine Stimme.
Der große Mann drehte sich um, riß dem Wachmann den Kopf von den Schultern, wischte sich die Hand an der Hose ab und betrat dann das Zimmer.
Niemand da.
Aber es gab eine zweite Tür. Und dahinter roch es nach dem Feind!
Der große Mann hielt sich diesmal nicht damit auf, die Tür zu öffnen, er ging einfach durch sie hindurch. Die Holzsplitter rissen ihm dabei ein Hosenbein auf.
Der Raum war voller antiker Rüstungen und Waffen. Hinter einem Schreibtisch saß ein blonder Mann undefinierbaren Alters und blickte mit weit aufgerissenen Augen auf seinen Besucher. Er schien vor Überraschung und Schreck regelrecht erstarrt zu sein.
Der große Mann brach als erster das Schweigen: „Du nennst dich also jetzt Jörensson?“
„Das kann nicht sein“, sagte nun der blonde Mann hinter dem Schreibtisch. „Du bist tot!“
„Ach wirklich?“ fragte der Große. „Zu dumm! Wieso hat man mir das nur nicht früher gesagt?“
„Ich habe dich getötet, Ungeheuer! Durch welche Teufelei kommst du nach so langer Zeit wieder in mein Leben?“
„Laß den Teufel aus dem Spiel, er hat ausnahmsweise nichts damit zu tun.“ Der große Mann wirkte nun sehr ernst. „Du hast also selbst an das Märchen meines Todes geglaubt, aber du hast mich nur verwundet. Niemand von euch hat sich je davon überzeugt, ob ich wirklich tot war. Ich frage mich, ob aus Arroganz, oder weil ihr trotz der Blutspur, die ich hinterließ, meine Höhle nicht gefunden habt.
Auf jeden Fall hatte ich genug Zeit, mich zu erholen. Ich fiel in einen tiefen Schlaf. Diese Welt hat sich in der Zwischenzeit auf das Merkwürdigste verändert. Als ich erwachte, hatte man über meiner Höhle einen bizarren Ort namens Legoland errichtet. Da sich dort Nachts keine Menschen aufhalten, konnte ich ungesehen entfliehen und mich in den Wäldern verstecken. Aber wie sich später herausstellte, war das gar nicht nötig. Die Menschen haben sich sehr verändert. Anstatt mich zu jagen, haben sie mich bei sich aufgenommen. Sie gaben mir Kleidung, zu Essen und eine Plastikkarte, die sie Ausweis nennen. Aber genug jetzt davon, ich bekomme Kopfschmerzen. Laß uns unsere Rechnung begleichen und ich gehe wieder.“
„Ich habe keine Rechnung mit dir offen, du Monster. Du hast hunderten Menschen den Tod gebracht, und ich war auserwählt, dir den deinen zu bringen.“
„Jaja, blabla. König Hrothgar war ein Arschloch, heute würde man so einen aus dem Amt jagen. Was kann ich dafür, wenn er mir seine Armeen auf den Hals hetzt, ich habe mich nur verteidigt.“
„Du bist regelmäßig in die Burg gekommen und hast...“
„Genug des Geschwafels!“ schrie der Große und schleuderte den Schreibtisch, der ihn vom Blonden trennte, beiseite. Das Möbel zerschellte an der Wand.
Mit einem Satz sprang auch der Blonde zur Seite, machte einen Flic-Flac quer durch das Zimmer und riß eine der Vitrinen auf. Er nahm aus ihr ein schwarz glänzendes Schwert und grinste triumphierend:
„Du bist schon immer ein wenig langsam gewesen, das ist deine Schwachstelle.“
„Wer viel Zeit hat, muß sich nicht beeilen“, erwiderte das Ungeheuer. Dann griff es sich in die Hosentasche, nahm eine Pistole hervor und schoß dem Blonden das Schwert aus der Hand. Und dem Wachmann, der in der Tür erschienen war, in den Kopf.
Der Blonde zeigte nun den Ausdruck nackten Entsetzens auf dem Antlitz. Er schielte nach dem Schwert, das nur einen Meter von ihm entfernt auf dem Boden lag...
„Denk nicht einmal dran“, sagte das Ungeheuer und richtete den Lauf der Pistole auf den Kopf des Blonden. „Und nun zur Rechnung.“
„Also gut, so töte mich denn. Aber sei gewiß: Mein Sohn wird mich rächen, und wenn er...“
„Nicht doch, wer hat denn was von töten gesagt?“ meinte das Ungeheuer und nahm das Schwert an sich. „Ich bin ein Freund des Prinzips ‚Auge um Auge’, du verstehst?“
Norwich News, 22. Oktober 2003
Rätselhafter Überfall auf Villa Claywood - Besitzer weiterhin verschollen
Die Polizei gab gestern bekannt, daß die Suche nach Morten Jörenssen eingestellt worden ist. Nach dem Eindringen eines Einbrechers, der drei angestellte Sicherheitskräfte unter teilweise noch ungeklärten Umständen tötete, war der Besitzer der Villa verschwunden. Man fand bislang lediglich den abgetrennten rechten Arm von ihm, so daß vermutet werden muß, daß er auch getötet wurde. Die Leiche konnte jedoch nicht gefunden werden. Die Ermittlungen ergaben inzwischen, daß Jörenssen gar nicht sein richtiger Name war. Vor zwanzig Jahren lebte er noch unter dem Namen Wulffe in London, doch auch dies war möglicherweise nur ein Alias. Wie der Polizeisprecher mitteilte, waren...