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Gregor

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18.01.2004
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Gregor

Gregor

Die Schritte verhallten im langen Gang. Es war wieder still. Gregor hörte nichts, außer den eigenen Atemzügen. Es war die Stille, die ihn gefangen hielt, nicht das Gitter. Sie war so undurchdringlich um ihn wie eine Mauer.

Warum ich? Immer wieder stellte er sich diese Frage. Warum gerade ich? Er malt jeden Tag mit einem Stück Kreide einen weiteren Strich an die Wand. 20 sind es schon, 20 weiße Kreidestriche, 20 lange Tage in der Stille.

Er setzte sich in die Ecke und sieht hinauf zu dem kleinen Fenster am gegenüber liegenden Ende seiner Zelle. Orangerote Sonnenstrahlen dringen herein und verraten ihm, dass wieder einer jener unendlich langen Tage der Stille zu Ende geht.

Er denkt an seine Familie, an das Lachen seiner Kinder und an die liebenden Arme seiner Frau. Könnte er dieses Lachen doch nur noch ein einziges Mal hören. Könnte er doch nur noch ein einziges Mal die Geborgenheit dieser Arme spüren. Nur noch ein einziges Mal... Er würde alles darum geben.

„Ich bin Gregor!“, ruft er in die Stille hinein, die ihn umgibt. „Sie haben mich zum Tode verurteilt. Aber ich bin es nicht gewesen. Ich bin unschuldig. Ich habe das hier nicht verdient.“ Und Tränen strömen über sein Gesicht. „Ich bin Gregor. Ihr tötet einen Unschuldigen und lasst einen Schuldigen laufen. Ich bin Gregor. Ich will nach Hause, nach Hause zu meiner Frau!“

Dunkelheit mischt sich unter die Stille. Graublau, die Nacht, kalt und hart. Er schläft nicht, hat seit Tagen nicht geschlafen. Er wartet nur, wartet auf den Morgen, wartet auf den Tag, an dem alles zu Ende geht. Und immer wieder stellt er sich die eine Frage: Warum ich?

Schritte dröhnen durch den Flur, werden lauter, kommen näher. Ein Schlüssel im Schloß. Eine Schale mit Essen wird herein geschoben. Er rührt es nicht an. Die Schritte verhallen. Heute nicht! Vielleicht morgen!

Gregor zählt 40 Striche an der Wand. Es ist Morgen. Heute ist alles anders als sonst. Keine Schritte. Kein Essen. Eine Nonne sitzt an seiner Seite und lächelt.
„Ich bin es nicht gewesen.“ sagt Gregor, „Niemand glaubt mir, aber ich schwöre, ich bin es nicht gewesen. Ich habe das alles nicht verdient!“

„Da war ein Mann am Kreuz, der war unschuldig. Da war ein Mann am Kreuz, der hatte nichts getan. Er hing da, nackt, von Soldaten geschlagen, von allen verhöhnt. Und er sprach: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun!“

Wieder Stille. Wieder Einsamkeit. Gregor ruft: „Ich bin Gregor. Ich bin unschuldig. Ich habe es nicht verdient. Ich bin Gregor. Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“

Ein einzelner Schuss zerreißt die Stille.
Gregor ist tot!


DL 2002

 

Hey puregold
Super formuliert, das muss man dir lassen. Nach dem Schaffner war das ja ein richtiger Erguss an literarischem Können ;-). Ne, aber jetzt mal ehrlich, was mir am Anfang aufgefallen ist, sind deine ständigen Zeitumschwünge. Du beginnst im Imperfekt, schwengst dann ins Präsens und wieder zurück... Manche Autoren benutzen das als Stilmittel, aber bei dir erschien es mir mehr als ein fehler. Ich kanns aber nicht beurteilen, sag mal was dazu!
Zum Inhalt: ziemlich harter Tobak. Hat mich irgendwie so ein bisschen an einen meiner Lieblingsfilme erinnert: Das Leben des David Gale (mit Kevin Spacey). Da gehts auch um einen, der unschuldig umgebracht werden soll.
Ich finds stark, wie du die Gefühlswelt des Gefangenen beschreibst, seine Trauer, seinen Zorn, aber vor allem seine Verwirrheit. Er muss sich selbst immer wieder vorhalten, wer er ist, er scheint schier verrückt zu werden in seinem Gefängnis und redet schliesslich mit sich selbst, oder mit den Wänden.
Interessant zu wissen wäre für mich nur noch, ob der Schluss so gemeint ist, wie er da steht, oder das Ganze so ein bisschen sarkastisch gemeint ist. Vergibt er ihnen wirklich, oder ist es nur eine Art Spott in Richtung der Nonne, die ja eh nichts macht, ausser zu reden (aus seiner Sicht)?
Insgesamt sehr bewegend und vom Stil her wieder mal sehr bündig, aber literarisch viel anspruchsvoller als der Straßenbahnschaffner.
Gefällt mir!
Gruß b

 

Hi Ben!

irgendwie ist es logisch, dass diese geschichte besser ist, als der Straßenbahnschaffner. Sie ist ja auch fast vier Jahre später entstanden. Da lernt man ja was dazu.

Was die Zeiten angeht: ich hätte mir das ganze vor dem posten nochmal genauer durchlesen müssen. Werde das bei Gelegenheit nachholen und die Fehler verbessern.

Der Schluß:
Ursprüglich war er, glaube ich, schon so gemeint, wie er da steht. Aber, du hast recht, wenn du meinst, dass es für einen Menschen sehr viel verlangt ist, in einer solchen Situation zu vergeben. Vielleicht sollte es ein Hinweis darauf sein, was es für Jesus bedeutet hat, seinen Henkern zu vergeben. ich weiß es selbst nicht so genau. Aber Sarkasmus war es bestimmt nicht, eher der Wunsch, in der gesamten sch... Situation doch noch ein Fünkchen Positives unter zu bringen.

Vielen dank für Deine wohlgemeinte Kritik!

puregold

 

Hallo Puregold,

den Stilunterschied habe ich natürlich auch bemerkt. ;)
Trotzdem ist sie mir, so schön, wie sie auch beschrieben ist, als Auseinandersetzung mit der Todesstrafe zu wenig.
Du beschreibst schön die Striche an der Wand, (leider hinlänglich aus diesem Sujet bekannt) du beschreibst, dass er unschuldig ist, und wie er den Altag in der Todeszelle als Albtraum erlebt.
Du beschreibst aber nicht, wie dieser Albtraum begonnen hat.
Vierzig Striche an der Wand sehe ich mal als vierzig Tage an. Bei der Kürze dieser Zeit für die Vollstreckung der Todesstrafe müsste man also von einer Militärstrafe ausgehen oder von einem absluten Unrechtsstaat. Normalerweise dauert es in den Ländern, die die Todesstrafe heute noch ausführen schon wesentlich länger, bis das Urteil überhaupt gesprochen wird, danach noch Jahre bis zur Ausführung.

In dieser Hinsicht wären mE in dieser Geschichte mehr Informationen nötig, es sei denn, dir ginge es gar nicht um die Todesstrafe, sondern um das religiöse Gleichnis zum Schluss.
Eine Erneuerung des Vergebungsangebotes Gottes an die Menschen durch die Opderung Gregors?

Stilistisch runder als deine Schaffnergesschichte, fehlt mir hier irgendwie einiges.

Trotzdem einem lieben Gruß, sim

 

Hallo Sim,
erstmal Danke für's Lesen und Gedanken machen.
Du hast recht, dass vieles an dieser Geschichte nicht gerade realistisch ist, zumindest dann nicht, wenn man von einer Form der Todesstrafe ausgeht, wie sie in den USA praktiziert wird. Aber es ist eben eine Geschichte und kein Tatsachenbericht. Spielt es wirklich eine Rolle, ob er jetzt 40 Tage oder 40 Jahre in dieser Zelle sitzt? Spielt es eine Rolle, warum er da sitzt und wie alles begonnen hat?

Du hast übrigens recht. Es geht nicht nur um die Todesstrafe. Es geht um mehr als das. Aber so genau kann ich das auch nicht sagen. Aber ich denke, dass Gregor, unschuldig eingesperrt in seiner Zelle, verstanden hat, was es Jesus gekostet haben mag, seinen Henkern zu vergeben.
Du, als Leser, wirst beim Lesen zu Gregor. Gregor ist Jesus. Werde zu Gregor und Du wirst verstehen, was Gnade bedeutet.

puregold

 

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