Gregor
Gregor
Die Schritte verhallten im langen Gang. Es war wieder still. Gregor hörte nichts, außer den eigenen Atemzügen. Es war die Stille, die ihn gefangen hielt, nicht das Gitter. Sie war so undurchdringlich um ihn wie eine Mauer.
Warum ich? Immer wieder stellte er sich diese Frage. Warum gerade ich? Er malt jeden Tag mit einem Stück Kreide einen weiteren Strich an die Wand. 20 sind es schon, 20 weiße Kreidestriche, 20 lange Tage in der Stille.
Er setzte sich in die Ecke und sieht hinauf zu dem kleinen Fenster am gegenüber liegenden Ende seiner Zelle. Orangerote Sonnenstrahlen dringen herein und verraten ihm, dass wieder einer jener unendlich langen Tage der Stille zu Ende geht.
Er denkt an seine Familie, an das Lachen seiner Kinder und an die liebenden Arme seiner Frau. Könnte er dieses Lachen doch nur noch ein einziges Mal hören. Könnte er doch nur noch ein einziges Mal die Geborgenheit dieser Arme spüren. Nur noch ein einziges Mal... Er würde alles darum geben.
„Ich bin Gregor!“, ruft er in die Stille hinein, die ihn umgibt. „Sie haben mich zum Tode verurteilt. Aber ich bin es nicht gewesen. Ich bin unschuldig. Ich habe das hier nicht verdient.“ Und Tränen strömen über sein Gesicht. „Ich bin Gregor. Ihr tötet einen Unschuldigen und lasst einen Schuldigen laufen. Ich bin Gregor. Ich will nach Hause, nach Hause zu meiner Frau!“
Dunkelheit mischt sich unter die Stille. Graublau, die Nacht, kalt und hart. Er schläft nicht, hat seit Tagen nicht geschlafen. Er wartet nur, wartet auf den Morgen, wartet auf den Tag, an dem alles zu Ende geht. Und immer wieder stellt er sich die eine Frage: Warum ich?
Schritte dröhnen durch den Flur, werden lauter, kommen näher. Ein Schlüssel im Schloß. Eine Schale mit Essen wird herein geschoben. Er rührt es nicht an. Die Schritte verhallen. Heute nicht! Vielleicht morgen!
Gregor zählt 40 Striche an der Wand. Es ist Morgen. Heute ist alles anders als sonst. Keine Schritte. Kein Essen. Eine Nonne sitzt an seiner Seite und lächelt.
„Ich bin es nicht gewesen.“ sagt Gregor, „Niemand glaubt mir, aber ich schwöre, ich bin es nicht gewesen. Ich habe das alles nicht verdient!“
„Da war ein Mann am Kreuz, der war unschuldig. Da war ein Mann am Kreuz, der hatte nichts getan. Er hing da, nackt, von Soldaten geschlagen, von allen verhöhnt. Und er sprach: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun!“
Wieder Stille. Wieder Einsamkeit. Gregor ruft: „Ich bin Gregor. Ich bin unschuldig. Ich habe es nicht verdient. Ich bin Gregor. Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“
Ein einzelner Schuss zerreißt die Stille.
Gregor ist tot!
DL 2002