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Graue Gestalten
Wenn sie an die vergangen paar Wochen zurück dachte, waren ihre Erinnerungen teils verschwunden, teils nicht mehr vorhanden und teils so real und gestochen scharf, dass sie jedes Mal in diese Erinnerung mitgerissen wurde.
Es war als erlebe sie eine Situation wieder und wieder, jedes Mal als sie ihre Augen auch nur einen kurzen Moment schloss.
Doch egal wie lange sie sich auf jedes auch noch so kleine Detail in ihrer Erinnerung konzentrierte, egal wie angestrengt sie versuchte die Geschehnisse zu beeinflussen, und egal wie angestrengt sie suchte, es war als würde etwas Wichtiges fehlen.
Sie war sich genau bewusst, dass sie kaum noch Zeit und Kraft hatte um es aufzuhalten, und wenn sie es nicht schaffte sich zu erinnern, vollständig den Verstand verlieren würde.
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Böse Gedanken machen dich verrückt, hatte ihre Mutter früher immer zu ihr gesagt. Anscheinend hatte sie recht damit gehabt, denn sie fing langsam an sich selber blutig zu beißen.
Nicht etwa um sich selber zu verletzen oder ähnliches, nein einfach um sich zu vergewissern, dass sei tatsächlich noch immer Kontrolle über ihren Körper und Geist hatte. Nicht so wie alle anderen hier.
Die Narben waren zu Beginn noch klein und unauffällig gewesen, doch mit der Zeit reichte das bisschen Schmerz nicht mehr aus um vollständig wieder bei Sinnen zu sein, und so begann sie sich immer stärker zu verletzen. Sie musste sich mit einem Messer in den Daumen ritzen oder etwa mit dem Rasierer „abrutschen“. Die Narben die zurückblieben sahen stark entzündet und geschwollen aus, aber das war ihr egal. Sie versteckt sie auch nicht, ganz im Gegenteil sogar, sie zog absichtlich T-Shirts an, die ihre vernarbten Arme freiließen.
Sie erhoffte sich dadurch die Aufmerksamkeit ihrer Eltern, oder zumindest eine Reaktion auf sie. Doch vergebens.
Sie konnte ihren Eltern nicht einmal in die Augen schauen, ohne daran erinnert zu werden, dass hinter den vertrauten Pupillen nicht mehr die liebenden Seelen ihrer Familie steckten.
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Sie war schon seit Wochen nicht mehr vor die Tür gegangen und hatte es in nächster Zeit auch nicht vor. Warum sollte sie auch?
Die Leute die sie früher als ihre Freunde bezeichnet hatte, waren schon lange nicht mehr dieselben und außerdem war das Wetter draußen sowieso die ganze Zeit grau und trübe, wie auch der Rest in ihrer Umgebung.
Mittlerweile wusste sie gar nicht mehr wie Farben aussahen, oder wie sich die Sonne auf ihrer Haut anfühlte, egal wohin sie auch blickte, alles um sie herum war in verschiedenen Grautönen gehalten. Es war als hätten die Grauen Gestalten, die seit dem Tod ihrer besten Freundin Samantha in der Stadt aufgetaucht waren, alle Farben in sich aufgesogen, und nur noch leere zurückgelassen.
Die einzige Möglichkeit die Farben, ihre Freunde und ihre Familie die sie gekannt und geliebt hatte, wiederzusehen war ihre Augen zu schließen und sich von ihren Erinnerungen überfluten zu lassen. Diese Momente in denen sie ihre Augen fest geschlossen hielt, und die Bilder hinter Ihren Augenlieder tanzten, waren so intensiv, dass sie die Farben riechen, ihre Freunde spüren und die Umgebung um sie herum endlich wieder mit all ihren Sinnen genießen konnte.
Umso schmerzlicher waren die Augenblicke in denen sie wieder aus ihren Rückblicken in die Gegenwart zurückkehrte und sich der trostlosen Situation in der sie sich befand wieder bewusst wurde.
Sie wusste nicht genau wieso sie noch sie selbst war oder warum diese Wesen noch nicht von ihr Besitz ergriffen hatten wie von allen anderen, aber sie wusste, dass sie bald handeln musste sonst würde sie alle die sie liebte und sich selbst für immer verlieren.
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Alle um sie herum hatten sie verlassen, alle die sie jemals gekannt und geliebt hatte waren weg, ihre Körper waren dieselben aber ihre Seelen wurden ausgetauscht.
Ausgetauscht und weggeworfen als wären sie bloß ein störender Strich an einem Kunstwerk der ausradiert und durch einen anderen ersetz wurde.
Seit die grauen Wesen immer öfter erschienen fiel es ihr schwerer sich zu erinnern. Mittlerweile sah sie die Farben sogar in ihrem Kopf nur schemenhaft und verschwommen vor sich und selbst wenn sie sich konzentrierte wurde das Bild nicht schärfer. Manche Erinnerungen blieben scharf und erkennbar doch irgendwas schien sich zu verändern, die Handlung wurde von etwas beeinflusst und schien immer dunkler und grauenhafter zu werden. Egal wie schön die Erinnerung angefangen hatte, sie führte immer zu dem Tod ihrer Besten Freundin. Damit hatte überhaupt erst alles angefangen.
Als ihre Freundin Samantha Selbstmord begangen hatte, waren die Gestalten zum ersten Mal erschienen. Sie konnte sich an diese Nacht besonders gut erinnern, denn als sie schluchzend auf ihrem Bett gelegen hatte, waren sie aus den Schatten getreten und hatten sich um sie herumaufgestellt und sie unter ihren Kapuzen angestarrt.
Sie erinnerte sich an die furchtbare Angst die sie hatte, die ihre Nerven gelähmt und ihren Geist in Besitz genommen hatte, an das Geflüster der Gestalten und an die schreckliche Kälte die unter ihre Bettdecke gekrochen war, und ihre langen Finger nach ihr ausgestreckt hatte.
Sie hatten ihren Namen gerufen laut und deutlich, es war als befänden sich die Stimmen in ihrem Köpf, als wären sie in sie eingedrungen, wieder und wieder und jedes Mal als sie jemanden ansah von dem die Wesen schon Besitz ergriffen hatten, in die Augen schaute, hörte sie ein leises Flüstern in ihr drinnen, das ihr befahl endlich nachzugeben. Sie endlich reinzulassen. Eine von ihnen zu werden.
Die Person in deren Augen sie blickte war für die grauen Wesen nichts weiter als eine Hülle in der sie steckten, für die Gestalten waren sie wertlos. Aber für sie war es nur eine Schmerzliche Erinnerung daran, dass sie Vollkommen alleine in einer Stadt voller seelenloser Hüllen steckte, und es keinen Ausweg zu geben schien.
Mit jedem Flüstern, das sich in ihren Kopf schlich, wurde sie panischer und hoffnungsloser, sie Stimmen wurden drängender und von Mal zu Mal lauter.
Die einzige Lösung, diese Stimmen aus ihrem Kopf zu bekommen, war zu schreien. Sie schrie sich jedes Mal die Seele aus dem Leib bis ihre Stimme versagt, ihr Kopf brummte und sie zusammenbrach. Aber danach war es wieder leise und ruhig in und sie hatte das Gefühl endlich alleine in ihrem Kopf zu sein.
Deswegen vermied sie den Kontakt mit den Menschen denn sie hatte Angst, dass sie nicht mehr länger stark bleiben konnte, und ebenfalls eine willenlose Hülle, in der eine fremde Seele steckte, werden würde.
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Heute hatte sie die Stimmen wieder gehört und diesmal waren sie noch lauter und stärker als zuvor. In ihren Stimmen schwang etwas Entschlossenes mit, als wären sie sich schon sicher, dass sie gewinnen würden. Und Dass sie aufgeben würde. Inzwischen fehlten ihr die Kraft und der Wille um noch länger gegen sie anzukämpfen und sie aus ihrem Kopf zu vertreiben.
Sie war müde und erschöpft und ihre Augen waren durch die einheitlichen Farben schon ganz trübe, ihre Lieder schwer, ihr Hals schmerze vom Schreien und ihr Kopf brummte so stark, dass sie befürchtete er würde explodieren.
Die Erinnerungen wurden immer dunkler und undurchsichtiger, sie konnte nur noch an Samanthas Tod denken und an dieses eine wichtige Detail sich zwischen ihren Erinnerungen versteckte. Dieses kleine Detail könnte ihr helfen diese Wesen endgültig zu vertreiben das wusste sie, doch sie hatte keine Ahnung wie sie dieses Stück Erinnerung wieder zurückerlangen sollte.
Sie war so verzweifelt, dass sie den ganzen Tag in ihrem Zimmer verbrachte und ihre Mutter die hin und wieder mit ihren Trüben Augen nach ihr sah, vollkommen ignorierte.
Sie konnte spüren dass sich mehr in ihrem Kopf befand, als ihr bewusst war, und es machte sie wütend dass sie einfach nicht herausfand was es war. Sie versuchte alles um herauszufinden was so wichtig sein konnte, dass noch nicht einmal sie selber es wusste. Sie war sich sicher, dass wenn sie sich doch erinnern konnte, wieder normal und beherrscht werden würde, und sie ebenfalls die anderen retten konnte. Sie von den Seelen befreien würde.
Doch das war nicht so einfach wie sie sich es erhofft hatte, denn sie stand kurz davor ihren Verstand zu verlieren. Sie hatte schon seit Tagen nicht geschlafen und aß nur wenn es wirklich nötig war. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren und auch alle anderen ihrer Sinne schienen langsam aber sicher immer schwächer zu werden.
In dieser Nacht wurden die Stimmen so unerträglich laut, dass sei schreiend und um sich schlagend aus dem Haus stürmte bis sie schließlich zu dem Ort kam, der über alles weiter entscheiden würde.
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Nachdem sie mit schweren Atem durch das rostige Eisentor schritt sah sie sich erstmals um. Sie war auf einem Friedhof gelandet. Samantha wurde hier begraben und sie war noch nicht einmal zu ihrer Beerdigung erschienen. Sie hatte sich schuldig gefühlt aber trotzdem hatte sie es nicht übers Herz gebracht sie zu besuchen. Als sie einen Grabstein entdeckte erschien blitzartig ein Bild in ihrem Kopf, eine Erinnerung.
Es war ein Brief in Samanthas Handschrift, doch sie hatte nicht die Gelegenheit eine Zeile zu lesen, da ihre Gedanken von etwas anderem an sich gerissen wurden.
Es waren die grauen Wesen die sich auf dem Friedhof um sie herum versammelt hatten. Sie waren wieder da und sagten ihr sie solle endlich aufgeben, sie hätten sowieso schon gewonnen. Auf Samanthas Grab stand ebenfalls eine kleine Gestalt die in graus Gewand gehüllt war, die ihr unverständliche Worte zuflüsterte.
Als sie näher an diese Person trat stockte ihr der Atem und sie wich röchelnd zurück.
Es konnte nicht sein.
Unter der Kapuze der Gestalt hingen dieselben gelockten Haare hervor, wie die von Samantha und die leeren Augen waren definitiv die ihrer besten Freundin doch der Rest war es nicht.
Auch ihre Seele steckte nicht mehr in ihrem Körper, selbst sie wurde nicht verschont.
„Das ist sie nicht, das ist die nicht, das ist sie nicht, dasistsienicht, dasistsieicht,…“ flüsterte ich unter meinem keuchenden Atem. Sie konnte es nicht sein, nein es durfte nicht wahr sein.
Das Geflüster in ihrem Kopf wurde ein schreien und es war als würde es sie von innen heraus ausfüllen. Sie konnte fast schon fühlen wie sie den Verstand verlor, wie sie immer mehr die Kontrolle verlor.
Wie sie verschwand.
Doch sie wollte nicht aufgeben, solange sie nicht denken konnte, war alles gut sagte sie sich. Solange ihre Gedanken ihre eigenen waren, würde sie keine von ihnen werden.
Mit diesem Gedanken stürmte sie auf Samantha zu und rammte ihr so fest sie konnte ein Messer in den Bauch, es war das Messer mit dem sie sich immer selber verletze. Alles was sie wollte war doch bloß Ruhe und Stille. Sie wollte in Ruhe weiterleben ohne dass sie ein graues Wesen wurde.
Als sie ein letztes Mal in Samanthas leere Augen blickte, ließ sie das Messer noch einmal niedersausen und knickte zusammen. An ihrem Grab gelehnt, sah sie dass die Gestalten verschwunden waren.
Sie fühlte nichts, hörte nichts und dachte nichts. Um sie herum war bloß ein großes weites Nichts.
Sie hatte sich noch nie so leer gefühlt.
Aber das war auch in Ordnung so, denn sie war nur noch eine seelenlose Hülle, sie war nicht mehr sie selbst.
Sie hatte verloren.
Und als sie ein letztes Mal an sich herabsah, bemerkte sie dass sie zu spät gekommen war. Ihre klaffende Wunde im Bauch würde sie nicht töten bevor es so weit war. Bevor sie ihr ihre Seele wegnahmen. Doch es war zu spät,
Sie hatte sich verloren.
Sie war eine von ihnen.
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Fast ein Jahr war es nun schon her, ein Jahr ohne sie, meine geliebten Töchter. Wir haben sie gleich nebeneinander begraben lassen, so dass sie sich für immer nah sein konnten.
Wenn ich darüber nachdenke hätte ich es vielleicht verhindern können, ihr helfen oder was auch immer. Alles hatte mit ihrer Einweisung in die Psychiatrie angefangen. Meine Töchter Samantha und Melody hatten den Tod ihres Vaters nicht wirklich gut verkraften können. Bei Melody war es schlimmer als bei Samantha, in der Nacht in der ihr Vater verunglückte, habe ich sie zum ersten Mal schreien gehört. Die Schreie waren laut und schrill, und mit solch einer schrecklichen Angst erfüllt, dass sie einem das Blut in den Adern gefrieren lassen konnten. Seit dieser Nacht haben beide angefangen sich zu verändern.
Ehrlich gesagt haben sie mir beide etwas Angst eingejagt, wenn sie jeden Morgen das Besteck für ihren Vater auflegten oder mit seinem Sessel redeten, als wäre er noch immer hier. Es machte mich traurig und ängstlich zugleich.
Es war als würde jegliche Farbe aus ihren hübschen Gesichtern weichen, Tag für Tag mehr. Sie begannen sich, mehr und mehr von den anderen zu entfernen, und verhielten sich merkwürdig.
Der Arzt meinte, sie hätten starke Schäden durch den Verlust ihres Vaters davongetragen und es wäre das Beste, sie für eine Zeit lange in eine betreute Anstalt zu schicken. Mir als ihre Mutter fiel das nicht gerade leicht aber er meinte, dass sich ihr Zustand andernfalls verschlechtern würde also schickte ich sie in eine nahegelegene Psychiatrie.
Schon nach ein paar Wochen schien es Samantha besser zu gehen, während sich Melodys zustand immer mehr verschlechterte. Sie hatten sie in verschiedene Gebäude geschickt und sie durften sich kaum besuchen. Ich kam sie so oft ich konnte besuchen, wo ich zum ersten Mal von den sogenannten „Grauen Wesen“ hörte, wie Melody sie nannte. Die Ärzte erzählten ihr dass sie auf jede Form von Behandlung nicht ansprach, und immer wieder graue Gestalten erwähnte die sie heimsuchten.
Jedes Mal wenn ich Melodys leere Augen sah, war es als wäre es nicht mehr meine Tochter, sondern jemand anderes der in ihrem Körper steckte. Alles in ihrer Umgebung schien grau zu werden und sie hört auf essen und zu schlafen.
Während Samantha schon nach einem Monat nach Hause durfte, erkannte Melody nicht einmal ihr Gesicht. Nachdem Samantha die Anstalt verlassen hatte, verhielt sich meine andere Tochter noch seltsamer. Die Betreuer berichteten mir, dass sie fast jeden Tag so laut schrie, dass sie in einen Schalldichten Raum gesperrt werden musste. Sie fing an sich selber zu verletzen, und ihre Haut war mit Narben überzogen.
Im nach hinein bereue ich es nicht mehr für meine Tochter getan zu haben aber es wäre doch sinnlos gewesen, denn sie lies einfach nicht mit sich reden, es war als würde sie noch nicht einmal Samantha die sowas wie ihre beste Freundin gewesen war, wiedererkennen.
Eines Tages bekam ich einen Anruf von der Psychiatrie, die mir mitteilte, dass Melody ausgebrochen war. Ich versuchte Samantha zu erreichen, die gerade zum ersten Mal zu dem Grab ihres Vaters gegangen war, um ihr zu sagen dass sie nach Hause kommen sollte. Ich hatte von Anfang an ein schlechtes Gefühl, denn Melody schrieb nach der Entlassung von Samantha Briefe die an sie gerichtet waren. In einem davon stand:
„Wieso hast du mich verlassen? Wieso musstest du es tun? Ich vermisse dich.
Hilf mir.
Sie wollen mich holen, und ich weiß nicht wie lange ich es noch schaffe.
Bitte komm zurück“
Die Ärzte meinten, dass sie Wahnvorstellungen hatte, und sie glaubte dass Samantha tot war.
Ich hatte es schon geahnt, als mir die Polizei erzählte dass meine Tochter Melody erst Samantha und dann sich selber mit einem Küchenmesser erstochen hatte.
Ich konnte es selber nicht fassen, wie viel ich in solch kurzer Zeit verloren hatte.
Doch in letzter Zeit wird mein Leben immer grauer.
Ich weiß nicht was los ist, oder was sie von mir wollen aber in letzter Zeit sehe ich die Grauen wesen immer öfter.