Graue Gesichter
Graue Gesichter. Regungslose Anspannung.
Eine Armee einzelner Kämpfer, aufgestellt nach Reih und Glied, wartet auf ihren Befehl. Einige von ihnen scheinen verkabelt zu sein, während andere still in das graue Nichts blicken. Worauf warten sie? Wann wird zum Angriff geblasen?
Endlich. Die ersten blicken auf, als in der Ferne ein verschwommener Lichtkegel auf sie zurast. Die Erleichterung ist deutlich spürbar, Bewegung kommt ins Spiel. Der Lichtkegel kommt näher, macht sich auf, ein sanftes Geräusch umgibt das Geschehen. Man merkt, wie sich jeder auf seinen Einsatz gefasst macht. Hektisch werden nun unterschiedlich große Kärtchen aus den Taschen gezogen und fest umklammert, Rucksäcke werden angezogen, während der Lichtkegel langsam an Gestalt gewinnt.
Ich selbst bin einer von ihnen, auch wenn ich das nicht wahrhaben will. Neben all den anderen, stehe ich nun, nicht weit entfernt von der Kante, um einer der Ersten sein zu können. Endlich ist es soweit. Hinter dem Lichtkegel wird eine Leuchtschrift erkennbar.
„RB München HBF“ – Wir machen uns auf den Weg.
Die Türen öffnen sich und es offenbart sich ein bekanntes Bild: Graue Gesichter. Dieses Mal sitzend. Mein Blick gleitet über die Reihen vor mir, in der Hoffnung, eine freie Reihe zu erblicken um nicht neben einem anderen platznehmen zu müssen. Zielstrebig bewege ich mich auf meinen neuen Rückzugsort zu, während sich mein Blick niemals davon abwendet.
Geschafft. Die erste Hürde wäre damit überwunden. Nun gilt es nur noch zu hoffen, dass der Rest ebenfalls den Anstand besitzt, sich eine eigene Reihe zu erhaschen und nicht andere in Bedrängnis bringt. Heute scheint es für mich aber gut zu laufen. Als die Umrisse der Häuser draußen langsam anfangen, mir entgegen zu kommen, stellt sich dann endlich ein Gefühl der Entspannung ein. Ab jetzt bin ich offen für die Welt, suche das Gespräch mit meinen Mitmenschen. Mir ist eigentlich egal, mit wem ich mich unterhalte, auch an den Gesprächsinhalt hab ich generell wenig Anspruch, irgendwas findet sich doch immer. Ich spreche eine Frau an, mit der ich mich schon des Öfteren über belanglose Themen unterhalten hab, immerhin ist sie hübsch. Ich erzähle ihr, dass mir heute wohl ein stressiger Tag bevorsteht, und dass auch heute Morgen einiges schief gelaufen ist. Sie lacht darüber, und fängt damit an, auch mir von ihrem Leid zu erzählen, von ihrer Arbeit, ihrer Vermieterin und den neusten Baustellen in der Stadt. Wir lachen beide darüber. Unsere Gespräche drehen sich eigentlich nie um etwas anderes, und das ist okay für mich. Nachdem uns die Gesprächsthemen nach kurzer Zeit ausgingen, wünschen wir uns noch einen schönen Tag und wenden uns voneinander ab. Was nun? Ich blicke durch die Reihen und überlege mir, ein weiteres Gespräch anzufangen, aber irgendwie lässt sich kein potentieller Gesprächspartner finden. Ich lehne mich zurück und höre einer Gruppe junger Frauen zu, die sich nicht oft genug sagen können, wie sehr sie sich mögen. Ob sie das ernst meinen? Einige junge Männer gesellen sich dazu und beginnen, die Damen mit Komplimenten zu überhäufen. Es freut mich, so viele gutgesinnte Menschen um mich herum zu haben.
„Ist da noch frei?“ Es durchfährt mich. Völlig hektisch stecke ich mein Telefon wieder in die Tasche, die Musik in meinen Ohren verstummt. Die grauen Gesichter, das einsame Rauschen, all das umgibt mich wieder. Mit einem stummen Nicken nehme ich meinen Rucksack auf meinen Schoß. Ein älterer, dicker Mann setzt sich neben mich. Er trägt einen Mantel mit matt schimmernden Knöpfen, einige davon fehlen. Sofort umgibt mich ein Geruch von billigem Pfeifentabak, gepaart mit diesem typischen Geruch von alten Menschen. Kaum vorstellbar, dass dieser Mann auf dem Weg zur Arbeit ist, viel eher in die nächste Kneipe. Ich bin bemüht darum, so schmal wie nur möglich zu sein, wende meinen Kopf zur anderen Seite, wo nun Felder und Bäume vorbeiziehen.
So sitzen wir nun hier, blicken ins Leere, warten auf unseren Befehl. Wir sind graue Menschen.