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Grau
Grau
1.
Wenn sie in ihren eigenen vier Wänden saß, fürchtete sie sich davor, nach draußen zu gehen. Ihr kam der Straßenlärm beängstigend laut vor. Sie stellte sich vor, dass man sie sogleich ansprechen würde und dazu zwingen wollte, einen langen Monolog zu halten. Wahrscheinlich würde man wissen wollen, was sie über das Wetter denke, nein eher hätte sie über sich selbst reden sollen, wer sie sei und woher sie käme.
Aber die Angst war ganz umsonst. Niemand sprach sie an, sie vermied es und die anderen auch. Man sah sich nicht in die Augen, und wenn doch, dann geschah es fast unabsichtlich, ein Fehler – sie schlug sofort die Augen nieder.
2.
Vor fünf Jahren war das noch ganz anders gewesen. Sie hatte gearbeitet. Und sie war auf einem Urlaub in Afrika gewesen, wo die Menschen ihr ungezwungener erschienen als in Europa. Das größte Erlebnis war es für sie gewesen, einen Elefanten im Knysna-Elefantenpark gestreichelt zu haben. Elefantenhaut furchte sich und fühlte sich weich und runzelig an. Daran konnte sie sich noch gut erinnern. Und an die Sonne, die unbarmherzig auf sie niederschien. Als sie neben ihm herging hatte der Elefant wiederholt geschnaubt, bis sie zu einem See kamen, wo er endlich etwas trinken durfte. Es war so heiß, dass die Luft in der Hitze flirrte.
Ein halbes Jahr danach brach das Grau bei ihr ein. Es war ein Tag wie jeder andere. Der Wecker läutete ihn gellend in den kleinen Stunden ein, sodass sie wenig Zeit für ein hastiges Frühstück in der Küche hatte, Kaffee musste es sein und ein Marmeladenbrot. Sie genoß die Süße des Marmeladenbrotes mit dem bitteren Geschmack des Kaffees im Abgang. Jedoch verlor sie sich an jenem Tag in Gedanken an die Arbeit, der sie wenig Begeisterung entgegen brachte. Kaum bemerkte sie wie ihr die Marmelade auf das Shirt kleckste. Dieses Malheur führte dazu, dass sie sich in aller Eile umziehen musste. Sauber – das gab eine Verspätung von zehn Minuten. Und duschen musste sie auch noch, denn beim Umziehen waren ihre Haare schmutzig geworden.
Mit halbnassen Haaren, die sie nur notdürftig zusammengebunden hatte, schwang sie sich auf ihr Fahrrad und machte sich auf den Weg in die Arbeit. Mit dem Fahrtwind in ihrer Stirn wurde ihr sehr kalt und hätte sie sich an Südafrika zurück erinnert, sie hätte sich dorthin zurück gewünscht. Den Sattel ihres Fahrrads hätte sie in jedem Fall mit dem Rücken eines waschechten Esels vertauscht, denn diese Tiere waren störrisch, aber sie waren auch liebenswert. Doch alles woran sie jetzt dachte, war ihr Chef und seine mögliche Reaktion auf ihre späte Ankunft. Sie spielte alle möglichen Reaktionen in ihrem Kopf durch, wobei ein kalter geschäftsmäßiger Ton ihr für diesen windigen grauen Morgen am wahrscheinlichsten vorkam.
Als sie ankam war die Kollegin geschäftig dabei die Regale zu befüllen; es waren die am Anfang des Eingangs, Süßigkeiten und Toast. Da der Chef nicht da war bemüßigte sie sich ihn in Belangen des allfälligen Donnerwetters zu vertreten:
„Was guckst du so!“ reagierte sie auf das untätige Schauen von Hermine, deren Hände kalt waren und anfingen zu zittern, womit sie eine Begrüßung ihrerseits überging: „Du bist zum Kassendienst eingeteilt. Hol dir deine Kasse beim Chef ab.“
"Das war ja klar, dass du dich wieder in den Vordergrund stellen willst, Klara!" wollte Hermine ausrufen.
Sie wusste nicht was das sollte. In den letzten zwei Wochen war ihre Kasse bereits drei mal falsch gewesen. Jeweils 10 – 20 Euro unter dem Sollwert. Hermine hatte den Betrag ersetzen müssen. Sie und der Chef hatten ausdrücklich eine Pause vereinbart, damit sie sich vermehrt dem Befüllen der Regale zuwenden konnte. Zunehmend wurde sie sauer ob der willkürlichen Behandlung. Nur würde sie es wegen ihrer Verspätung mit einer Beschwerde bezüglich des Kassendienstes schwer haben. Sie versuchte im Kopf mögliche Rechtfertigungsversuche durchzugehen, in denen sie beides berücksichtigte, wobei sie aber gnadenlos scheiterte. In ihrem Kopf herrschte ein absolutes Durcheinander von verschiedenen Diskussionsansätzen, doch keinen konnte sie durchdenken. Auch deswegen zitterte sie bei dem Gedanken sich dem Chef zeigen zu müssen. Doch der reagierte erstaunlicherweise äußerst gelassen. Er sagte nichts von ihrer Verspätung, sondern begrüßte sie mit einer flotten Floskel:
„Heute mit dem falschen Fuß aufgestanden, Frau Müller? Und wir haben bad Hair Day, wie ich sehe.“
Das fand Hermine allerdings nicht sehr witzig. Sie sagte aber nichts, sondern nahm einfach nur die Kasse in Empfang, zugegebenermaßen mit einem schlechten Gefühl. Sie spürte schon wie das Unheil auf sie zukam.
3.
Bei den Kassen befand sich eine Vitrine mit Kameras, Handys und anderen elektronischen Geräten, wobei der Kassenschlager ein Smartphone von Apple war, das es bereits um 350 Euro gab. Als Hermine bereits sechs Stunden hintereinander iterativ das Band betätigt hatte und Kunden bedient hatte, baute sich ein gut aussehender Mann vor ihr auf. Er sah aus wie Mister Darcy. Er trug Handschuhe, einen Hut, und einen leicht beschmutzten beigen Anzug am Leib.
„Ich möchte bitte das SE-Smartphone von Apple.“ erklärte er mit vornehmer Stimme und deutete mit seinem Kinn auf die Vitrine. Wäre sein Pferd in der Nähe gestanden, Hermine hätte ihrer Wahrnehmung jederzeit geglaubt. Sie zögerte, da er ihr merkwürdig vorkam. Auf seinem Anzug hatte es anscheinend eine Tomate glauben müssen, so wie er aussah. Sollte das ein Wink sein, ihm nichts zu verkaufen? Viel eher empfand sie spontanes Mitleid mit ihm und dachte an sich selbst in der Früh zurück, als sich die Marmelade auf ihrem Shirt verteilte. Sie fand: Er war ein Kunde wie jeder andere auch, oder sollte zumindest so behandelt werden. Sollte sie also zur Vitrine gehen, sie öffnen, und ihm das gewünschte Handy überreichen? Sie tat es. Aber sein folgendes Verhalten war seltsam: sobald er die Verpackung in den Händen hielt, ging ein Leuchten über sein Gesicht, er drehte das Handy staunend in seinen Händen. Ewigkeiten vergingen, wo er nur das nicht tat, was Hermine erwartet hätte: die Kamerafunktion austesten, die verschiedenen Apps ausprobieren, die es am Handy gab, sehen ob es irgendwelche Kratzer am Bildschirm hatte. Schließlich riß ihr der Geduldsfaden, sie wollte endlich kassieren und sagte: „Darf ich?“ „Was?“ fragte er verständnislos zurück. „Kass..“ schaffte sie es noch zu sagen, als er schließlich schnell wie ein Wirbelwind davon lief. Sie stand wie angewurzelt an einem Fleck mit offenem Mund da und sah ihm nach. Er rannte wie ein Marathonläufer aus dem Geschäft, rannte über den Parkplatz und war aus dem Leben Hermines genauso schnell verschwunden, wie er erschienen war. Da konnte es ihm auch ganz egal sein, dass der Ausgang des Geschäftes zum piepsen anfing und nicht mehr aufhörte.
Zum Glück war alles mit der Kamera aufgezeichnet worden. Ihr Chef hatte wertvolles Material in der Hand um zu beweisen, dass sie dem Mann das Gerät in die Hand gedrückt hatte, bevor sie kassierte. Er war erzürnt und starrte sie an. Zum ersten Mal hörte sie wie er die Stimme erhob und schimpfte „Warum haben Sie nicht zuerst kassiert? Warum haben Sie nicht geistesgegenwärtiger reagiert?“
„Er sollte doch das Gerät vorher noch anschauen dürfen.“ sagte sie kleinlaut.
„Dieser Typ war doch irre,“ schimpfte er: „Haben Sie das denn nicht bemerkt?“
„Nein“, erwiderte Hermine nur: „Woher hätte ich das wissen sollen?“
„Handschuhe an den Händen, einen Hut am Kopf, Gestank als hätte er zehn Tage hintereinander im Pferdestall geschlafen. Nein, tut mir leid, Frau Müller. Sie sind raus. Nehmen Sie bitte Ihren Hut.“
„Das fabulieren Sie jetzt.“
„Was? Wie reden Sie mit mir?“
„Den Gestank. Er hat nicht gestunken.“
„Na und.. ist das wichtig? Frau Müller,Sie dürfen mir das Handy ersetzen. Und dann gehen Sie bitte.“
„Ich nehme also meinen Hut.“ erwiderte Hermine in Gedanken.
Seit diesem Tag fand sie keine Stelle mehr. Sie konnte Zeitungsannoncen lesen und sich darauf bewerben wie sie wollte, aber sie fand keine Arbeit. Ein Tag reihte sich an den anderen und sie verlor alle Lust darauf, sich mit Freunden zu treffen. Seit diesem Tag war das Grau in ihr Leben eingezogen und verließ sie nicht mehr so schnell