Grau
Grau. Strich. Grau. Strich. Ich kenne die Betonplatten in meiner Nachbarschaft mittlerweile besser als die Gebäude drum herum. Die Menschen, die an mir vorbei laufen, nehme ich nicht wahr. Dafür aber den Müll, der auf dem Boden rumliegt. Typischer Straßenmüll. Irgendwelche Dosen, Papier und Zigarettenstummel. Der Himmel ist grau und das passt zu meiner Stimmung. Wobei das eigentlich gelogen ist, ich habe seit einer Weile gar keine Stimmung mehr. Keine gute, keine schlechte Laune. Ich bin nicht traurig oder sauer, ich bin einfach leer. Die Betonplatten ziehen an mir vorbei, während ich nach Hause laufe. Ich höre selber wie ich seufze, habe es aber im nächsten Moment schon wieder vergessen. Mein Blick geht stumpf gen Boden, doch ich kenne den Weg. Auch ohne mir die Umgebung anzusehen, ich kenne den Boden, der zu meiner Haustür führt. Der verändert sich wenigstens nicht. Egal um welche Tageszeit ich hier entlang laufe, ich weiß immer, wann mein Blick die nächste Ecke, die nächste Fuge zwischen den Platten treffen wird.
Ich erreiche meine Haustür in dem Moment als es anfängt zu regnen. Der Regen stört mich nicht. Mich stört gar nichts in diesem Moment. Ich hole den Schlüssel aus meiner Jackentasche und merke, während ich die Tür aufschließe, dass ich keine Lust habe, hereinzugehen. Aber es nützt nichts. Wo soll ich sonst hin? Es ist egal, ob ich hier bin, woanders oder einfach spazieren gehe. Es ändert nichts. Also gehe ich herein und stelle meine Tasche ab. Das Licht lass ich aus. Es ist niemand zuhause. Erst als ich die Kopfhörer abnehme, merke ich, dass den ganzen Weg über gar keine Musik lief. Ich hatte wohl vergessen sie anzumachen, nachdem ich die Kopfhörer aufgesetzt hatte. Lustlos werfe ich die Kopfhörer auf das Sofa und bleibe mitten im Raum stehen. Was mache ich jetzt? Ich habe nichts zu tun, keine Aufgabe, nichts zu erledigen und keiner erwartet etwas von mir. Mein Handy zeigt auch keine Nachrichten an. Niemand denkt an mich. Zwei Minuten später stehe ich planlos im Badezimmer. Auch hier habe ich nichts zu tun, also weiter in die Küche. Aber da ist das gleiche Spiel. Ich überlege kurz etwas zu essen, aber Hunger habe ich schon lange nicht mehr. Das sieht man mir mittlerweile auch an. Mein Gesicht ist eingefallen und blass. Trinken tu ich auch zu wenig, daher dunkle Augenringe und schlechte Haut. Doch eigentlich ist es mir auch egal. Es ist mir nur neulich aufgefallen. Einfach nur um etwas zu tun, schalte ich den Wasserkocher an. In der Zeit in der er läuft, mach ich mir schnell eine Zigarette fertig und schalte den Laptop an. Vielleicht kann ich ja irgendwas lesen oder etwas für die Uni erledigen. Es klickt, das Wasser ist fertig. Der Instantkaffee ist schnell gemacht, also jetzt Konzentration auf den Laptop lenken. Ich sitze am Tisch, der Kaffee neben mir, Zigarette in der Hand und ich starre auf den Display. Ich weiß nicht, was ich anklicken soll. Es interessiert mich gar nicht, was im Internet steht. Es ist unwichtig, ob ich Emails von der Uni bekommen habe. Oder irgendetwas anderes. Warum sollte es mich interessieren, ob irgendwas auf diesem Display steht? Ich zünde mir die Zigarette an und rauche. Irgendwann löst sich mein Blick wieder von der weißen Raufasertapete und ich bemerke, dass zwei Stunden vergangen sind. Mein Kaffee ist kalt, mein Laptop längst im Standby-Modus. Ich seufze und blicke mich um. Die Wohnung ist jetzt noch dunkler als vorher, doch abgesehen davon hat sich nichts verändert. Ich bin genervt, stehe auf, mache mir die nächste Zigarette und setze mich wieder hin. Ich habe sonst eh nichts zu tun.
Doch dann kommt die Erinnerung.
…
„So, wollen wir alle hier noch einmal ein bisschen sitzen bleiben und uns unterhalten?“, fragt mein Vater als wir alle mit dem Essen fertig sind. Zunächst bin ich leicht genervt, eigentlich wollte ich gerade meinen Freund anrufen, weil ich mich vor dem Essen etwas mit ihm gestritten hatte. „Ja na klar, können wir machen“, antwortet meine Mutter, also bleiben meine Schwester und ich sitzen. Der Gesichtsausdruck meines Vaters verändert sich. Ich habe ihn so noch nie gesehen, ich weiß nicht was los ist. „Also ihr wisst doch, dass ich letzte Woche beim Arzt war. Ich muss euch dazu noch etwas sagen. Der Arzt hat eine Darmspiegelung gemacht und ich habe einen Tumor. Er ist schon relativ groß und ich komme nächste Woche ins Krankenhaus, weil ich operiert werden muss. Ich habe Krebs“, beinahe entschuldigend blickt mein Vater mich und meine Schwester an. Augenblicklich erfriert mein Gesicht. Ich kann keinen Gesichtsmuskel mehr bewegen. Geschockt blicke ich meine Schwester an, sie lehnt an der Heizung und wird wütend. „Das ist doch ein Scherz! Wie, du hast Krebs?!“, sie fängt an zu weinen, ebenso wie ich. „Ich habe Darmkrebs. Der Arzt sagt aber, dass man ihn noch operieren kann.“, sagt mein Vater.
…
Ja, das hat der Arzt gesagt. Doch Ärzte sind auch nur Menschen. Menschen, die sich manchmal irren.