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Grau
Es war ein schöner, später Samstagnachmittag, mild und still. Der Himmel prangte als dunkelblauer Baldachin über der Welt und winzige Wolkenfetzen, die wie Konfetti aussahen, überzogen ihn.
Ein kleiner Ort an der Küste dämmerte anteilnahmslos in den Abend hinein. Die breite Hauptstraße, auf der einige wenige Leute noch spazieren gingen, war jetzt in der Feriensaison für Fahrzeuge gesperrt. Große alte Buchen säumten den Seitenstreifen und bildeten eine Schatten spendende Allee, unter der man gern entlang wandelte.
Ein sanfter Windstoß fuhr leise rauschend durch die ausladenden Baumkronen und zupfte neckisch an dem breitkrempigen Hut einer schlanken jungen Frau, die gerade mit ihrem kleinen, strohblonden Sohn an der Hand hier entlang ging. Mit einem leisen erschreckten Laut hielt sie ihre Kopfbedeckung fest und lächelte ihrem Sohn zu, der das Ganze mit einem spitzbübischen Grinsen beobachtet hatte. Sie streichelte kurz seinen weichen Haarschopf und machte sich dann an das letzte Stück des Heimwegs.
* * * * * * *
Ein Nachtvogel sang leise, im Baum vor dem nur angelehnten Schlafzimmerfenster sitzend, vor sich hin. Der Abend war schon weit fortgeschritten und am Himmel blinkten die Sterne wie Diamanten auf dunklem Brokatstoff. Marlis entließ leise den Atem aus ihrer Brust und drehte sich vom Fenster, das sich an der Seite ihres Bettes befand, fort.
Ihre linke Hand krallte sich in das Laken und knüllte es ausgiebig. Das regelmäßige Ticken der Wanduhr neben der Tür wollte sie, wie sonst auch, in den Schlaf senden, vermochte es aber dieses Mal leider nicht.
Gedanken an ihren geschiedenen Mann und ihren Sohn waren es, die sie wach hielten und mit zusammengebissenen Zähnen in die Dunkelheit des Zimmers hineinstarren ließen. 'Alleinsein.' Blonde Haare, die golden in der Sonne aufleuchteten. Fröhliches Kinderlachen, das sie an einem warmen Sommertag umfing. Ein blasses kleines Gesicht in einem sterilen Raum. 'Angst & Alleinsein.'
Die Gedankenflut verebbte langsam. Marlis Hand entspannte sich und ihr verkrampftes Gesicht zeigte nun einen gelösten Ausdruck. Ein Blick streifte noch einmal ein leeres Wasserglas auf dem kleinen Holznachtschrank in der Nähe, bevor schließlich warme Dunkelheit sie in unbekannte Gefilde entführte.
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Das monotone Piepsen eines medizinischen Gerätes war zu vernehmen, und man konnte eine Frau in ihren späten Zwanzigern in einem weißen Krankenhausbett liegen sehen. Sie war gerade erwacht und blickte auf die Person an die am Bettrand saß.
Der Mann berührte mit seinen Fingerspitzen vorsichtig die schmale, unter der Bettdecke hervorlugende Hand der Frau. Nach einigen Sekunden des Vorantastens schloss sich seine Hand endlich vollständig um die von Marlis. 'Nicht mehr allein.' Erschöpft ließ sie sich nach einigen Augenblicken wieder in einen nun ruhigen Schlaf hinabgleiten, ihre Hand dabei in der seinen belassend.
Er blieb noch eine Weile bei seiner ehemaligen Frau sitzen. Letztlich erhob er sich, blickte sie sorgenvoll an und strich ihr noch eine rotblonde Strähne aus dem Gesicht bevor er ging.
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"Alles in Ordnung mit ihr, Schatz?", fragte Katrin ihren Mann, als er das Zimmer verließ.
"Man macht sich nun mal halt Gedanken. Immerhin waren wir ein paar Jahre verheiratet und wo wir nun schon mal in der Gegend waren, konnte ich auch schnell mal nach ihr schauen", entgegnete Martin ruhig.
"Schön und gut. Wir müssen uns nun aber beeilen, in einer knappen Stunde geht unser Zug nach Hause" ,entgegnete seine Frau eilig und drängte ihn nach draußen. Nach einem kurzen Blick auf die geschlossene Krankenzimmertür folgte er ihr ergeben.
[ 21.06.2002, 17:47: Beitrag editiert von: Marcus ]