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Gratwanderung

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08.11.2001
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Gratwanderung

Gratwanderung

Das Zittern lässt langsam nach. Nicht schnell genug. Aber schnell genug geht ja nie etwas.
Sie atmet tief durch. Noch einmal. Noch etwas tiefer. Jetzt grenzt es an Hyperventilieren. Schritt für Schritt tastet sie sich vorwärts. Muss endlich etwas tun. Eine Hand immer auf dem Geländer. Den Blick auf den Boden gerichtet. Immer nur einen Schritt sehen, dann den nächsten.
Das Geländer macht einen Knick, stellt sich ihr in den Weg. Sie legt die Hände darauf. Betrachtet ihre Hände. Nach einer Weile beginnt das Zittern wieder. Sie weiß, dass sie umkehren wird, wenn sie es jetzt nicht schafft. Sie weiß, dass sie nicht aufgeben darf, sonst gibt sie sich auf.
Da vorn ist er, denkt sie. Sieht vor ihrem inneren Auge den gähnenden Abgrund. Um ihn nicht zu sehen, starrt sie einem Vogel nach. Das Zittern steigt durch ihre Beine herauf. Langsam in die Arme. Die Fingerknöchel treten weiß hervor. Die Hände geben ihr Halt, während ihre Gedanken flattern.
*
Er sieht sie langsam gehen. Schritt für Schritt. Die Straße hinunter. Auf dem Bordstein. Immer nah an den Schaufenstern vorbei. Aber ohne hineinzusehen. Ihr Blick auf den Boden gerichtet.
An der Straßenecke bleibt sie stehen. Sieht weiter auf den Boden. Die Fußgängerampel zeigt Grün.
Sie sieht immer noch zu Boden. Jetzt ist sie rot. Er sieht, wie sie langsam den Kopf hebt. Sie fixiert das rote Männchen auf der Ampel.
Sie könnte ihn sehen, denkt er. Wenn sie nur wollte. Oder ist es noch zu weit? Hinter dem Glas?
Sie wird umdrehen. Oder ewig dort stehen. Ihr fehlt einfach der Mut. Er kann sie verstehen. Es ist schwer geworden, zwischen ihnen. Seit das alles geschehen ist.
*
Sie sieht sich am Abgrund stehen. Unter sich die Tiefe. Darunter kann sie die Wellen sehen, die gegen den Fels klatschen. Laut. Wütend. Unnachgiebig. Sie sieht auf ihre Hände, durch sie hindurch, und sehnt sich danach, sich hinunterzustürzen.
Nur einen Schritt über den Rand. Dann ist es leichter. Dann gibt es kein Zurück.
Dann schieben sich die Schmerzen davor. Sie wird es überleben. Verletzt, aber nicht tot. Dann muss es erst heilen. Schlimmer und länger als jetzt schon. Es sei denn, sie ertrinkt. Schwimmt bis zur Erschöpfung und ertrinkt.
Die Anziehung erschreckt sie. Sie dachte, das wäre vorbei.
*
Er sieht durch die Scheibe. Hindurch durch seine blasse Reflektion. Noch steht sie auf der Ecke des Bordsteins. Rot. Grün. Rot. Sie hat den Blick wieder gesenkt. Er glaubt, sie zittern zu sehen.
Wenn sie jetzt geht, hat er umsonst gewartet. Dann haben seine Nerven umsonst gebebt. Sein Hemd klebt am Rücken. Die Jacke zieht er lieber nicht aus. Sie würde sonst merken, dass er nervös ist.
Er hat Kaffee verschüttet, vorhin, als seine Hände nicht gehorchten. Den hat er dann aufgewischt, mit der Servierte, und dann hat er sie zum Papierkorb gebracht. Vorn an der Theke. Sie soll es nicht merken.
*
Unter ihren Füßen gibt der Boden nach. Sie zuckt zurück. Ohne es zu bemerken, ist sie durch das Geländer geschlüpft. Jetzt sind es nur noch Meter zwischen ihr und dem Abgrund. Er zieht sie an. Sie möchte rennen. Sich umdrehen und rennen. Schweratmend hält sie sich hinter ihrem Rücken am Geländer fest. Jetzt oder nie. Noch einen Schritt zurück und nie wird sich etwas ändern. So geht es aber nicht weiter. Das Zittern macht ihr Angst.
Energisch drückt sie sich vom Geländer ab. Sieht auf ihre Füße, damit sich nicht wieder ein Stein unter ihr löst. Schritt für Schritt auf den Abgrund zu. Jetzt oder nie.
Sie überquert die Fläche zwischen Geländer und Abgrund. Ohne Zögern. Obwohl sich in ihr alles dreht. Die Anziehung. Die Sucht, zu springen. Die Angst. Das Zittern. Die Erinnerung an die Gründe.
*
Verloren in seinen Gedanken rührt er seinen beinahe kalten Kaffe um. Lautes Hupen schreckt ihn auf.
Sie macht einen Satz zurück. Das Auto rast um die Ecke, viel zu schnell. Noch einen Druck auf die Hupe. Zitternd hält sie sich am Ampelmasten fest, hinter ihrem Rücken. Lehnt sich dagegen. Die Ampel zeigt Rot. Sie wartet.
Mit plötzlichem Ruck drückt sie sich ab. Überquert die Straße. Langsam und den Blick nach unten gerichtet, als könnte sich der Boden unter ihr auftun und sie verschlingen. Er lächelt.
Sie erreicht die andere Seite. Nur noch über den Platz, dann ist sie bei ihm. Sein Atem geht schneller. Der Löffel klirrt beim Umrühren gegen die Tasse. Erschreckt legt er ihn hin.
Seine Gedanken fahren Achterbahn, als er sie auf sich zukommen sieht. Warme Erinnerungen. Kalte Blitze. Alles in einem Brei versunken, der ihm einen Stich ins Herz gibt.
Jetzt ist sie nur noch Meter vom Café entfernt. Warum wollte sie ihn bloß sehen? Das ist doch viel zu viel für sie. Das steht sie nicht durch. Es ist alles so schwer seit der Trennung. So schwer, einfach nur mit ihr zu reden. Sie anzusehen. Nicht zu berühren.
Die Distanz zu ertragen. Eintausend falsche Fragen auf den Lippen. Keine einzige richtige Antwort.
*
Abrupt bleibt sie stehen. An der Kante angekommen. Noch einen halben Schritt. Das reicht.
Nur noch den Kopf beugt sie nach vorn. Sie späht hinunter. Tief unten die Brandung. Ein paar Kiesel lösen sich unter ihrem Fuß. Prasseln in die Tiefe. Viel später schlagen sie unten auf. Ihre Augenlieder zucken.
Lange steht sie so. Bewegungslos. Gefangen zwischen der Sucht und der Angst. Dann macht sie eine Schritt rückwärts, dreht sich um und kehrt dem Abgrund den Rücken. Für dieses Mal.
*
Als sie geht, sich verabschiedet – „bis bald“, kann er das ertragen? – weiß er nicht, wohin sie geht.
Noch eine Minute rührt er in seinem kalten Kaffee herum. Dann verlässt er das Café. Auf dem Weg zum Auto tauchen aus dem Nichts Tränen auf, und rinnen über seine Wangen.
Lieber hätte er sie heute nicht gesehen. Dann hätte er nicht daran denken müssen. Dann würde er nicht auf der Straße stehen und die Tränen mit dem Ärmel abwischen.
Wie soll es bloß weitergehen? Was ist aus allem geworden? Warum?
*
Auf dem Weg nach Hause fühlt sie sich leichter. Nicht so sehr, dass sie lächelt. Aber doch so sehr, dass es bald soweit sein kann.
Immer eins nach dem anderen.
Heute ist sie weder gesprungen, noch abgestürzt.
Morgen ist ein neuer Tag.

 

Hi!
nach Kaleidoskop habe ich mir noch ein Deiner Geschichten vorgenommen. Und dabei fällt mir auf, daß auch hier wieder der Blickwinkel springt. Aber in diesre Geschichte hast Du noch viel mehr Verwirrung gestiftet. Dabei sind es hier nur 2 Personen, oder?
Irgendwie geht es um eine Trennung, oder? Und das erste Wiedertreffen? Sowas ist grauenhaft, ich kenn das selber.

werde mich jetzt durch den Rest der Seite knabbern,

lieben Gruß,

Mark

 

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