Grasdächer
Dieses Mädchen liebt es, durch die Wiesen zu laufen. Dann legt es sich hinein, denn es mag, wenn seine Kleider wie die Blumen riechen. Einst sah es in einer Zeitschrift, dass es in Norwegen Häuser gibt, deren Dächer aus Gras gemacht sind. Seitdem will es in den Norden gehen, wenn es einmal groß sein wird. Doch bis es so weit ist, lässt es sich von den Gräsern am Boden kitzeln.
Manchmal wird ihm die Wiese langweilig, dann läuft es einfach in den Wald. Dort hat das Mädchen seinen Lieblingsplatz, Jahre später wird es hier seine erste Zigarette rauchen. Früher ging es immer mit ihrem Großvater zu diesem Platz, dann saßen sie dort stundenlang auf einer alten Decke, er erzählte ihm von den Bäumen, von den Tieren, von den Pilzen, vom Krieg. Er zeigte ihm die Wege der Rehe und Jahre später wird das Mädchen hier das erste Mal den Namen ‚Nietzsche’ hören.
Der schmale Bach, der ganz tief im Wald liegt, verschwindet jeden Sommer. Den Frühling mag Lisa nicht besonders, deshalb besucht sie ihn nur im Herbst, wenn die bunten Blätter vom plätschernden Wasser an ihr vorbei getragen werden. Von Zeit zu Zeit sieht sie ein besonders schönes, das fischt sie dann heraus und bringt es zu ihrem geheimen Platz. Das Mädchen glaubt, dass an dieser Stelle irgendwann einmal ein Baum wachsen würde, der all diese schönen Blätter für sie in den Himmel tragen würde. Jahre später wird Lisa dort das erste Mal einen Jungen küssen.
Wenn Lisa nicht zu ihrer Wiese oder zu ihrem Wald mit dem Herbstbach geht, sondern in eine ganz andere Richtung, kommt sie zu einer Bank. Die Bank scheint alt, und oft fragt sie sich, ob es noch jemanden außer ihr gibt, der diese Bank kennt. Sie hat hier noch nie jemanden gesehen. Auf dieser Bank gibt sich das Mädchen eines Abends seinen Namen: Lisa. Das ist nicht der wirkliche Name des Mädchens, den mag es nicht. Jahre später wird es hier für das Abitur lernen und es wird ihm egal sein, wie es heißt.
Jahre später wird es jedes Buch von Nietzsche kennen, und noch etwas später wird es aufhören, zu lesen. Dafür wird es ein bisschen vorher zum Kettenraucher.
Jahre später wird der Bach zu keiner Jahreszeit mehr fließen, deshalb wird sich das Mädchen mit einem Teich trösten. Der kann aber keine Blätter an ihr vorbei tragen. Es wird keinen geheimen Platz mehr geben. Das Mädchen wird nicht einmal mehr wissen, wo der geheime Platz war, an dem es die schönsten Herbstblätter für den Himmel bereitgelegt und das erste Mal einen Jungen geküsst hatte.
Und für die Grasdächer im Norden wird sie nie groß genug sein.
