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Grand Bourdon
Ich hörte das Klopfen an der Tür und blies die Kerze aus. Duchamps Schuhe klackerten auf dem polierten Holzboden. Sein Schatten bewegte sich im Licht der Laterne durch den Türschlitz, als er erneut klopfte. Diesmal mit Nachdruck.
"Monsieur Walker, sind Sie da?", fragte er. "Monsieur Walker, ich muss mit Ihnen sprechen."
Ich rührte keinen Finger. Erst als Duchamp einen Zettel unter der Tür durch schob und das Licht im Flur erlosch, setzte ich mich auf und ging mit der wieder angezündeten Kerze auf Zehenspitzen nach vorn. Armer Kerl, dachte ich. Seit Wochen war ich ihm aus dem Weg gegangen. Entweder indem ich auf Socken in der dreistöckigen Villa Bourgeois schlich oder durch ein Fenster zum Hinterhof gekletterte. Einmal hatte er mich fast erwischt. Ich hatte die Haustür geöffnet und die letzte Stufe der Treppe übersehen, wobei ich versehentlich gegen die Türklingel stieß. Duchamp war ein alter und karger Mann, der mit einem Gehstock bewaffnet seine Wohnungstür aufstieß und grunzend und schnarchend zur Tür stapfte. Ich war in die Küche geeilt, hatte mich hinter einem Vorhang versteckt und beobachtet, wie er den Raum nach Eindringlingen absuchte.
Begegnungen mit Duchamp waren an für sich keine unangenehme Angelegenheit, jedoch entwickelte sie sich mit jeder Wochenmiete und einem weiteren Versprechen zu einer solchen. Und genau das stand auf dem Zettel: payer ou partir! (zahle oder verschwinde). Ich war bereits drei Wochen im Rückstand und meine werteste Freundin und Verlegerin Maxime Fitzgerald in Boston, Massachusetts, war auf Expedition nach Mexiko. Seitdem hatte ich nichts mehr von ihr gehört und befürchtete, dass sie von Rothäuten als Geisel gehalten wurde. Mein letzter Brief blieb unbeantwortet. Ich legte die Notiz von Duchamp auf den Schreibtisch und las sie erneut. Eine aussichtslose Situation, die akute Aufmerksamkeit erforderte. Ich löste sie, indem ich die unvollendeten Manuskriptseiten sammelte und auf einen Stapel in die Schublade legte und mich aus dem Fenster in den Garten des Apartments in der Rue de la Paix machte.
Die Sonne war im Begriff unterzugehen, und von den Pflastersteinen stiegen Dämpfe von der Hitze des Tages auf. Es war der 3. Juni 1830. Die engen Gassen führten zum Jardin des Tuileries - dem Garten der Könige -, wo man in diesen Tagen den Duft von Revolten riechen konnte, die meisten Aufstände aber im Keim erstickt wurden. Eine der Brücken, welche die Seine überquerten, war mit umgestoßenen Kutschen, Holzbrettern und Schubkarren blockiert. Ich hörte, wie Charles Nodier zuvor in einem Café öffentlich und vor einer Horde wild gewordener Studenten über die Barrikade lobte, die französische Arbeiter errichtet hatten. Kurze Zeit später wurde er von Polizisten abgeführt.
Ich passierte die Barrikade und ging weiter. Vor mir lagen weitere Brücken. Die Pont Royal und die Passerelle des Arts, aber ich überquerte den Fluss nicht, sondern ich ging weiter auf der auf der Höhe des Louvre. Paris war zu dieser Zeit eine düstere Geliebte und ich meinte, aus ihr verschwinden zu müssen, oder in ihrer gefährlichen Schönheit zu sterben.
Die Taverne hieß L'Auberge Blanc. Sie lag nicht weit vom Hôtel de Ville entfernt in einer Seitenstraße zum Place de Grove. Hier war vor nicht allzu langer Zeit Jacques de Fesselles von einem Mob gelyncht worden, und Robespierre hatte man in den Kiefer geschossen und anschließend in Handschellen gelegt. Vor der Taverne tanzten und sangen die Leute zu den Klängen eines Musikers und im Flackern der Kerzen entdeckte ich Victor Hugo, der eine blonde Bardame von sich stieß und auf die Straße stolperte.
"Die verdammte Glocke! Es ist die verdammte Glocke!", sagte er und ging an mir vorbei. "Komm, Amerikaner."
Ich schaute ihm eine Zeit lang auf den mir zugedrehten Mantelkragen, bevor er sich drehte und sagte: "Walker, du dreckiger Wildwest, bougez votre cul!"
Ich bewegte meinen Hintern, wie er es vorschlug, und als ich ihn einholte, sagte ich: "Ich würde lieber hier etwas trinken", und deutete auf das Lokal zurück.
"Ah, scheiß auf die Drinks und scheiß auf die französischen Mädchen mit ihren schlaffen Titten und ihren vorlauten Mündern, und scheiß auf den König!"
Und kurz darauf begann er ein Lied aus der französischen Revolution zu singen.
"Rois ivres de sang et d'orgueil.
Le Peuple souverain s'avance.
Tyrans descendez au cercueil."
Ich wusste, dass er betrunken war, aber die Art und Weise, wie Victor sprach und ging, war immer sehr angenehm in seiner Nähe, selbst wenn er ordentlich einen im Tee hatte, und so leistete ich ihm Gesellschaft.
Nur ein paar hundert Schritte weiter in der Rue Saint-Martin sah ich den Schein von Laternen auf uns zukommen.
"Wer singt denn da draußen?" fragte jemand.
In dem gedämpften Licht zählte ich drei Gestalten. Männer mit breiten Schultern und schweren Schatten. Einer der Männer stapfte durch eine Pfütze aus Regenwasser. Ein Schwert oder eine Klinge klirrte bei jedem seiner Schritte am Gürtel. Hugo hörte nicht auf.
"Scheiß auf den König. Fick den königlichen schwanzlutschenden König."
Ich spürte Gänsehaut auf meinen Armen. Vielleicht werden sie uns umbringen, dachte ich. Leute, die den König kritisieren, wurden in Paris und in ganz Frankreich einfach um die Ecke gebracht, geschweige denn, wenn sie so etwas im Zentrum der Hauptstadt lauthals sangen. Aber ich wollte Hugo nicht allein lassen. Und allmählich fiel ich Gefallen daran womöglich in Hälften geteilt zu werden.
Die drei Männer waren jetzt ganz nah. Nah genug, um ihre Gesichter zu sehen. Der mit dem Schwert hatte eine Narbe über dem rechten Auge, der zweite hatte ein komisches Grinsen und schwarze Zähne, und der dritte hatte eingefallene Wangen, so eingefallen, dass er wie eine Schlange aussah, die nicht gefressen hatte. Alle drei begutachteten Hugo, während sie über den Bürgersteig schlenderten. Hugo steckte seine Hände in seine Jackentaschen.
"Was schreist du da?", fragte einer von ihnen und drehte sich zu uns.
"Ich habe gesagt, fick den König", antwortete Hugo.
"Er ist betrunken", sagte ich, in der Hoffnung, das was passieren könne zu ändern.
"Aber er hat recht", sagte einer der anderen Männer. "Fick diese Pussy von einem König."
Dann lachten die Männer und gingen weiter.
"Siehst du", sagte Hugo. "Heutzutage hassen sie alle den König."
"Hugo, wo gehen wir hin?"
"Notre Dame."
"Notre Dame?"
"In der Tat. Ich brauche Inspiration für meinen Roman."
"Und die werden wir dort finden?"
"Das wirst du sehen, Walker. Komm her und trink etwas."
Hugo fummelte in seiner Jacke und reichte mir einen Flachmann.
"Trink,” sagte er.
Ich trank. Es war Absinth. Der Wermut kratzte im Hals.
"Von Revolutionen bekomme ich Schreibblockade", sagte Hugo. "Besonders die gescheiterten Revolutionen. Siehst du, ihr hattet eure schon. Ihr werft etwas Teeladungen in den Atlantik und greift nach der Freiheit, und wir köpfen einen Tyrannen nach dem anderen und werden sie nicht los. Und der einzige Ausweg ist zu schreiben. Und jedes Mal, wenn diese verdammte Glocke da oben läutet, frage ich mich, welches Monster an ihren Seilen zieht."
Am Pont au Changes überquerten wir die Seine und die gewaltigen Türme von Notre Dame standen vor uns. Der nördliche und der südliche Glockenturm. Kleine Teile waren heruntergekommen und einer der steinernen Wasserspeier war beschädigt, weil eine Gruppe französischer Anarchisten die Fassade des Gebäudes mit Spitzhacken demoliert hatte. Patrouillen und Wachen waren in Stellung gebracht, stapften über das Kopfsteinpflaster und beobachteten den Platz aus ihren hölzernen Barracken.
"Es ist triste zu sehen." erklärte Hugo. "Es gibt nichts Schlimmeres, als zu versuchen, eine neue Welt zu schaffen, indem man die Vergangenheit verbrennt und schließlich seine Fehler vergisst."
"Junge, wir werden es nicht nach da oben schaffen."
"Keine Sorge, alter Knabe. Du bleibst einfach da. Ich bin in einer Minute zurück."
Ich konnte nicht einmal antworten, da war Hugo schon los, vorbei an zwei Uniformträgern, öffnete eine kleine Tür und verschwand dahinter.
Ich stand da und wartete darauf, dass etwas passierte. Zum Glück hatte ich Papaletten, die ich zusammen mit dem Flachmann, den Hugo mir gab, in der Jacke fand. Ich zündete eine Papalette an, atmete den Rauch ein und aus und trank einen Schluck der grünen Flüssigkeit. Die Zeit verging langsam. Nichts geschah. Nur der Absinth ermutigte mich, näher an die Holztür heranzutreten, wo ich stehen blieb und zum Glockenturm hinauf blickte.
"Was machst du da?" fragte eine Stimme auf Französisch.
Ich blickte zu Boden und sah die Wachen nur wenige Meter von mir entfernt.
"Ich? Ich wollte nur -"
"Monsieur, Sie haben keine Authorisation. Treten Sie bitte zurück, husch, husch!"
Ich bewegte mich nicht.
"Sie, Américain!", sagte er und zog einen Revolver aus seiner Hüftschnalle mit dem er auf mein Gesicht zielte. "Vielleicht müssen wir Sie in Gewahrsam nehmen, mein Freund."
"Nein, nein. Mir geht es gut, danke."
"Dreh dich um, lentiment, ganz, ganz langsam."
Ich war mir nicht sicher, ob das echt war. Der Absinth könnte meine Frontallappen beschädigt haben. Ich murmelte weiter, und die beiden Franzosen sprachen miteinander, schnell und zu ungenau, als dass ich sie hätte verstehen können.
“Verdammter Américain! Umdrehen -"
“He, lass doch mal sehen, was die Amerikaner so draufhaben.”
“Ich will ihn tanzen sehen.”
“Ach, wir jagen ihm direkt ‘ne Kugel in die Beine.”
Vorsichtig kam der kleinere von beiden näher. Während ich so da stand und noch an die Miete dachte, dämmerte mir die ganze Misere. Von zwei franzöwischen Stadtpatrouillen in die Mangel genommen. Ich sah die Zeitungsartikel der Geschehnisse im New York Courier and Enquirer vor mir: Amerikaner in Frankreich erschossen. Amerikaner zettelt Krieg an. Frankreich und England verbündet unter einer Flagge. Amerikaner treten Rückzug über den Atlantik an. Steuergelder weitgehend verschleudert für betrunkenen, amerikanischen Touristen.
Plötzlich vibrierte ein lauter, fast unerträglicher Glockenschlag durch die Luft. Ohne Weiteres ließen die Wachen von mir ab und schauten zum südlichen Glockenturm hinauf, wo Hugo auf den Fenstersims getreten war und “Grand Bourdon, Grand Bourdon,” brüllte. Ich riss mich zusammen und sprintete los. Gehetzt und getrieben von Wahnsinn landete ich in einer Gasse. Ich dachte an Hugo. Ein Pfundskerl. Einer der macht, was er sagt. Er war da wirklich rauf.
Ich vergewisserte mich, dass ich nicht verfolgt wurde. Um Hugo müsse ich mir keine Sorgen machen. Notfalls würde er sie einfach davon überzeugen, den Dienst zu quittieren und sich seinen Vorhaben anzuschließen. Ich ging zurück zur Taverne, bestellte einen Eintopf vom Vormittag und wartete. Es war schon spät, als Hugo eintrat. Er hatte Schnitte und blaue Flecken.
"Du Dreckskerl", sagte ich.
Er klopfte mir auf die Schulter.
"Wunderbar. Magnifique. Was für eine Aussicht. Und ich weiß, dass es kein Monster ist, das an den Seilen zieht, sondern ein Mann, der Angst vor einer Welt voller Verleumdungen hat."
Wir bestellten Wein und tranken.
***
Es war noch früh. Die Sonne ging gerade auf und Morgentau lag über dem Gras im Garten, als ich zum Fenster schlurfte. Es war kalt und ich war verkatert und konnte mich wenig zu vorherige Nacht erinnern. Auf halbem Weg durch das Fenster bemerkte ich die Gestalt einer Frau zu meiner Linken. Ich drehte den Kopf langsam.
"Wäre es nicht einfacher, wenn Sie durch die Vordertür kämen?", fragte sie.
Maxime Fitzgerald saß auf dem Stuhl an meinem Schreibtisch und trank eine Tasse Tee. Der heiße Dampf erfüllte den Raum mit dem Duft von Pfefferminz. Ich kletterte hindurch und setzte mich auf das Bett. "Was machen Sie denn hier?"
"Walker, Sie werden es nicht glauben, was passiert ist. Ich habe den Grand Canyon auf einem Pferd überquert, und sieh mal, was ich da bekommen habe."
Sie zog einen abgetrennten Skalp aus ihrer Tasche und hielt ihn in die Luft.
"Wir wurden von Kickapoo Indianern angegriffen und Sergeant Davy Crockett hat einen erschossen. Ist das nicht ein schönes Souvenir?"
"Wie sind Sie denn nach Paris gekommen?"
"Ich wollte Sie überraschen. Schließlich dachte ich, es wäre schöner, wenn ich persönlich her käme und Sie und die zivilisierteren Teile der Welt besuche."
"Das ist Ihnen gelungen", sagte ich.
"Aber ich muss jetzt gehen. Herr Duchamp will mich herumführen. Vielleicht können Sie später mit uns zu Abend essen."
Maxime stand auf, ging zur Tür und öffnete sie.
"Übrigens", sagte sie. "Ich habe mit Duchamp über Ihre Novelle gesprochen, Sie müssen sich keine Sorgen machen. Ihre Miete ist bezahlt."