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Graffaduva
Graffaduva
Graffaduva blickt sich um. Der seifige Boden strahlt Kälte ab. Das Grau der Stadt bietet sich ihm an: Sieh her, ich bin die Welt. Hohe Gebäude türmen sich bis zur Unendlichkeit und blicken auf ihn herab. Die zitternde Masse durchsichtiger Gestalten fließt durch die Straßen - nichts mitreißend - nur für ein kurzes Vibrieren reicht ihr Sog. Die dichten Wolken am Himmel bewegen sich mit zäher Langsamkeit auseinander und geben einen Blick auf das Dunkel der Sonne frei. Der Wind weht. Immer gleich. Immer Graffaduva ins Gesicht, wohin er sich auch dreht. Die winzigen Nebeltröpfchen beißen ein bisschen: wer hier bleiben will, muss Tribut zahlen.
Ein Halbdursichtiger spricht ihn an:
"Ich habe meine Seele verloren. Kann sie nicht finden. Haben Sie sie gesehen?"
Graffaduva mustert ihn. Wie der Bald-Durchsichtige wohl ausgesehen hat? Ohne ein weiteres Wort greift er dem Mann in die Tasche. Das Pulsieren im Geldbeutel verrät es. Die Seele ist fort. Ob sie wohl wiederkommt? Einsam schlägt das Herz zwischen den dreißig Geldscheinen. 'Nur wenig Hoffnung', denkt Graffaduva, formt aber seine Mundwinkel zu einem Lächeln.
"Ich weiß nicht, wo sie ist, deine Seele. Eines will ich aber für dich tun. Es sind viele Diebe unterwegs, lass mich dein Herz aufbewahren. Wenn du deine Seele wiederhast, wirst du es brauchen."
Der Mann zögert. Im nächsten Augenblick hat er aber schon alles vergessen und macht kehrt; wieder auf die Stadt zu. Seine Gestalt schwindet, wird schwächer, das Dunkel der Sonne durchdringt sie bald mühelos.
Mit kleinen bedächtigen Schritten nähert sich Graffaduva der Stadt. Stillstand steigt ihm in die Nase. In seinem Schuh verfängt sich etwas künstliches Rot. Ja, Farbimitationen sind klebrig. Vorbei ist die Zeit, als sie die ganze Stadt bedeckten. Mit einem Knarren öffnet sich die Tür, als er den Schlüssel dreht. Einundzwanzig Stufen steigt er hinab, streut das bisschen Licht, das übriggeblieben ist, in den Raum. Ein Klavier enthüllt sich. Fast ist es schon wieder durchsichtig geworden. Nur der Hauch eines Tones entsteht, als Graffaduva die Tasten drückt. Die Melodie zögert in Furcht, ihr Leben für nur einen Atemzug hinzugeben. Fast ist auch das letzte Licht verlöscht. Da passiert es. Die Töne dehnen sich, blasen sich auf, beginnen sich zu bewegen, wippen hin und her. Der Erste springt und die Anderen folgen ihm. Sie heulen und klagen. So laut, dass sie jeder hören kann. Auch die Durchsichtigen. Sie bleiben stehen und verstehen nicht. Das Klagen wird leiser. Die bittersüße Melancholie steht nun im Rampenlicht. Verführerisch bewegt sie sich im Rhythmus des Vergangenen. Kaum einer, der noch ein Herz hat, kann ihr widerstehen. Ein Blitz durchtrennt den Raum. Die Töne verwandeln sich zum Wirbelsturm: wir hassen, wir töten. Grün mischt sich bei und die Wut die sich selbst überschätzt - sich für Hass hält - verlässt die Bühne. Die Melancholie trägt eine alte Bekannte auf die Bretter. Zusammen singen sie viel lauter, als jede Einzelne von ihnen es könnte. Dann ist es genug. Liebe singt alleine, leiser, dafür aber fröhlich und rein. Die Töne explodieren, alle sind sie da. Die Sonne geht auf in mitten des kleinen Raumes. Weiche Strahlen streicheln Graffaduva. Die Zeit lächelt milde. Keine Ausnahmen! Nur einen Augenblick noch! Die Melodie endet.
'Heute war ein guter Tag', denkt sich Graffaduva und macht sich auf den Heimweg.
Einer hat seine Seele wieder gefunden. Er bricht in Tränen aus. Hoffentlich hat man sein Herz gut aufbewahrt.