Grüsse an Kevin
„Kevin!“
Der Ruf des jungen Mädchens hallte an den kahlen ungestrichenen Wänden der alten Kammer wider. Kevin, der Angerufene, wandte hastig den Kopf Richtung Tür.
"Mein Gott, Melissa. Hast du mich erschreckt. Mach' das ja nie wieder."
"Kevin, warum hantierst du an dem alten Koffer von Großvater herum, du weißt, was er gesagt hat!", erwiderte das blondhaarige Mädchen, das ihren Kopf durch den geöffneten Türspalt gesteckt hatte.
"Ach.", sagte Kevin und stierte dabei auf den großen Seemannskoffer, der vor ihm auf dem Boden stand, "Großvater ist doch schon lange tot, und ich weiß, daß er viel Geld in unserem Haus versteckt hat. Es muß einfach in diesem Koffer sein."
Nach diesen Worten drehte Kevin bedächtig den Schraubenzieher in seiner Hand, und sah wieder zu seiner Schwester, die inzwischen den Raum betreten hatte. Ihr Haar war schulterlang und glatt. Es glänzte samtig, als der Schein der alten Deckenlampe über das Haar tanzte. Ihre Augen waren hell und wachsam, und ihr Gesicht wirkte in etwa wie das eines Engels.
"Großvater hat uns vor seinem Tod gesagt, daß niemand seine Sachen berühren soll. Er sagte, er käme wieder und hole sie sich. Und wenn irgend etwas verändert würde, wird er uns bestrafen."
"Melissa hör auf! Großvater ist tot! Verstehst Du? Tot! Er kann nicht mehr wiederkommen. Nie mehr! Ist das klar?", Kevin wurde langsam ärgerlich. Seine Eltern waren verreist und würden in wenigen Tagen wiederkommen.
Bis dahin mußte er das Geld, was er seinen Freunden schuldete aufbringen. Wenn erst seine Eltern davon erfahren würden, wäre die Hölle los. Kevin war zweiundzwanzig Jahre alt, hochgewachsen und schlank. Er hatte im Gegensatz zu seiner zwölfjährigen Schwester kurzes, dunkles Haar.
"Na gut.", Kevin sah wieder auf den Koffer und schob ihn unter den Ecktisch, das einzige Möbelstück in dem kleinen Zimmer, "Komm Melissa, laß uns gehen, du hast ja recht."
Melissa lächelte und huschte aus dem Raum. Kevin ging ebenfalls und verschloß die Tür hinter sich. Dann folgte er Melissa die Stufen hinunter in den großen Flur.
Warum hatten Mum und Dad Melissa nicht mitnehmen können, dachte Kevin und legte den Schlüssel für Großvaters Kammer auf den eichenfarbenen Telefontisch, der gleich neben der geschwungenen Treppe stand. Der Schlag der Standuhr schreckte ihn aus seinen Gedanken. Er schaute auf das Zifferblatt.
"Schon zwanzig Uhr.", murmelte er und schritt den Flur entlang zu einer der beiden Türen, die den Flur in Längsrichtung abgrenzten. Kevin zog die linke auf und betrat das Wohnzimmer. Es war geräumig und im altmodischen Stil eingerichtet. Die große beigefarbene Garnitur in der Mitte des Raumes fiel sofort auf, die großen eichenfarbigen Schränke hingegen, wirkten wie starre Schatten an der geblümt tapezierten Wand. Melissa saß auf der Couch und sah Kevin an, als er das Zimmer betrat.
"Okay, Melissa.", sagte Kevin,
"Ich mache jetzt das Abendessen, und danach geht es ab ins Bett, Verstanden?"
"Gut, ich gehe nur noch mal schnell zu Großvater."
Mit diesen Worten erhob sich das junge Mädchen von der Couch, ging an Kevin vorbei in den Flur, und auf die gläserne Tür zu, die den Flur zur anderen Seite hin abgrenzte.
"Aber nicht so lange", rief ihr Bruder noch, aber Melissa hatte das Haus schon verlassen. Sie lief die paar Stufen hinab auf den Kiesweg, der vor dem Haus begann, über das Grundstück führte und an der schmiedeeisernen Pforte endete.
Das Haus war einsam gelegen, eingerahmt von einem großen gepflegten Rasen. Melissa umkurvte das Haus und eilte zur Rückseite, wo neben einem alten Backsteinschuppen die Ahnengräber lagen. Drei waren es an der Zahl. Melissa wandte sich dem linken zu. Ein etwa einmeter hoher, weißer Grabstein ragte aus der schlammigen Erde. Es hatte in der letzten Zeit viel geregnet, und die polierte Oberfläche des Grabmals glänzte feucht.
Melissa las die goldenen Worte, die in den Stein gemeißelt waren. "J.S. Cartwright, Ruhe in Frieden."
"Hallo Großvater!", flüsterte das Mädchen, "Sei nicht böse auf Kevin, er ist manchmal ein bißchen neugierig. Ich verspreche dir, daß er nicht wieder an deine Sachen gehen wird, bis du sie geholt hast. So Großvater schlaf gut, ich muß jetzt wieder." Nach diesen Worten rannte Melissa zurück ins Haus, wo Kevin schon mit dem Essen wartete.
Während des Essens sprachen sie kein Wort, Kevin hing nur seinen Gedanken nach. Anschließend ging Melissa sofort ins Bett, während Kevin noch abräumte.
Er wartete noch eine Stunde im Wohnzimmer, bis er wieder den Flur betrat und den Schlüssel vom Telefontisch nahm.
Diesmal würde Melissa ihn nicht stören. Kevin schritt die Stufen der Treppe hinauf, und blieb vor der Kammertür stehen.
Er wog den Schlüssel kurz in seiner Hand und steckte ihn in das Schloß. Vorsichtig drehte er ihn herum. Es knackte zweimal und die Tür war auf. Er betrat das Zimmer, kniete sich auf den Boden und zog den Koffer unter dem Tisch hervor.
Er nahm den Schraubenzieher, der immer noch auf dem Boden lag, und begann am Schloß herumzustochern. Es dauerte einige Minuten und die Schnalle schnappte hoch. Kevin öffnete vorsichtig den Deckel und schielte in das Innere. Seine Augen weiteten sich. Geld. Der Koffer war voll davon, bündelweise lag es vor ihm, zum Greifen nah. Dann hörte er das Knarren hinter seinem Rücken. "Die Tür", schoß es durch seinen Kopf, "sollte Melissa etwa?" Ruckartig drehte er den Kopf, und bekam den Schlag voll ins Gesicht. Kevin wurde gegen die Wand geschleudert, seine Wange brannte wie Feuer. Er hob den Kopf und blickte Richtung Tür. Was er da zu sehen bekam, ging über seine Vorstellungskraft. Er hatte das Gefühl durchzudrehen. Kevin versuchte sich aufzurappeln, um aus dem Raum zu fliehen, doch da war die Gestalt schon bei ihm. Eiskalte, knochige Finger legten sich wie zwei Stahlklauen um seinen Hals, und drückten erbarmungslos zu. Kevins Augen drohten aus den Höhlen zu platzen, sein Atmen war nur noch ein Röcheln. Wild schlug er mit seinen Armen um sich. Der Unheimliche hob Kevin an, ein letzter Ruck ging durch seinen jungen Körper, dann verließ der Glanz seine Augen. Er spürte die Schatten des Todes, und dann nichts mehr...
Am nächsten Morgen stand Melissa früh auf, wusch sich und zog sich an. Zuerst verließ sie das Haus und lief zum Grab ihres Großvaters. "Guten Morgen Großvater, hast Du gut geschlafen? ", Melissa wandte sich zum gehen, drehte sich jedoch noch einmal um, "Und, grüß' Kevin von mir..."
Ende