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Grüne Woche
„Salat.“ Entrüstet blickte der große böse Wolf auf den Teller herab. Er schloss die Augen und öffnete sie wieder. Da lag immer noch ein Haufen Grünzeug. „Ist das dein Ernst?“, wandte er sich an seine Frau. „Ja“, meinte diese ungerührt, „Immer nur Geißlein, Schweinefleisch und alte Großmütter, das kann nicht gut für deine Gesundheit sein. Schau dich doch mal im Spiegel an.“ Sie schlug leicht mit der Pfote auf seine merklich breitere Leibesmitte. „Das sind alles Muskeln!“, verteidigte er sich gekränkt. „Nichts da. Ab sofort führen wir die Grüne Woche in unserer Familie ein. In jeder ersten Woche des Monats wird nur noch vegan gegessen.“ „Das kann nicht dein Ernst sein. Ich bin der große böse Wolf, ich brauche Fleisch, um stark zu sein.“, protestierte er. Dass sein Weib ihn stets so bevormunden musste! Und dann sagte sie auch noch „wir“! „Ich bringe die Kinder heute in den Kindergarten.“, rief sie ihm aus dem Flur zu und machte sich mit Günther und Emil auf den Weg. Jetzt hatte er wenigstens für eine Weile seine Ruhe. Seine Frau arbeitete in der Waldtelefonzentrale und musste heute eine besonders lange Schicht einlegen, vor Sonnenuntergang würde sie also nicht zurückkehren. Er als Freiberufler hingegen konnte mit dem Tagewerk beginnen, wann er wollte. Hastig durchsuchte er die ganze Küche und es war tatsächlich kein Fetzen Fleisch mehr zu finden – es war nicht zu fassen! Im Stehen eine Tasse Kaffee austrinkend studierte er den Plan für heute. Darauf stand nur die Zerstörung der drei Schweinchenhäuser. Sehr gut, das dürfte zu schaffen sein.
Mit leerem Magen machte er sich auf den Weg. Da er alle Abkürzungen des Märchenwaldes kannte, hatte er schnell sein Ziel erreicht: das Strohhaus des ersten Schweinchens. Er holte tief Luft und pustete, was seine Lungen hergaben. Doch das Haus blieb stehen, so schlecht es auch gebaut war und so stark er auch blies. Ihn packte die Wut und er ergriff eine Ecke, um das Gebäude mit bloßen Händen einzureißen. Auch das schaffte er nicht! Nicht einmal eine Strohhütte konnte er zerstören, so schwach war er geworden. Das war so deprimierend, dass er sich auf einen Stein niederließ und ungeachtet seiner Berufsehre bitterlich zu weinen begann. Lange Zeit später kam der Bewohner des Hauses vorbei und war erstaunt, seinen Erzfeind so niedergeschlagen zu sehen. Er tat ihm beinahe leid und daher fragte er ihn, was er denn habe. „Meine Frau hat mich auf Diät gesetzt“, schluchzte der Wolf, „und jetzt kann ich nicht einmal dein lächerliches Strohhaus umpusten. Ich werde nie wieder arbeiten können!“ „Du Armer! Hast du ihr schon gesagt, wie sehr du darunter leidest?“, erkundigte sich das Schwein. „Versucht habe ich es, aber sie lässt nicht mit sich reden.“ „Dann musst du ihr vielleicht zeigen, wie sehr dich das verletzt. Zeig ihr, wie schwach du bist.“ Das klang gar nicht so schlecht, musste er sich eingestehen. Es konnte einfach nicht angehen, dass sie nicht nur ihr, sondern auch sein Leben eigenmächtig auf den Kopf stellte, schließlich wusste sie ja, wie sehr ihm Veränderungen gegen den Strich gingen. Sofort marschierte er nach Hause, was aufgrund seines geschwächten Zustands recht lange dauerte, sodass es schon dunkel war, als er den Bau betrat. Im Schlafzimmer hörte er sein Weib auf- und abgehen. Er trat hinein und brach gegen seinen Willen in lautes Gelächter aus. Sie hatte sich in einen hautengen rosa Gymnastikanzug gezwängt und trug ein blaues Stirnband. „Wie siehst du denn aus?“, prustete er. „Ich gehe jetzt joggen und hinterher zum Fitness. Dein Essen steht auf dem Tisch. Tschüss.“, entgegnete sie knapp. Damit verließ sie die Wohnung. Während er angewidert den Löwenzahn-Huflattich-Auflauf hinunterwürgte, dachte er über die Worte des Schweinchens nach und langsam reifte in ihm ein Plan.
Beim ersten Ruf des Auerhahns sprang der Wolf morgenfrisch aus dem Bett, rief Frau und Kindern einen schnellen Gruß zu und eilte aus dem Bau. Verwundert sahen sie ihm nach – so früh stand er doch sonst nie auf! Der Wölfin erschien das verdächtig und so nahm sie sich den Tag frei und folgte ihm heimlich.
Dieser nutzte indes seine langjährigen Berufserfahrungen. Er kannte den Wald und alles, was darin vorging und vor allem jeden Menschen, der sich regelmäßig hier aufhielt, genau und das kam ihm jetzt zugute. Heute würde Kasimir in dieser Ecke auf Jagd gehen und der war so weich wie Butter. Er schoss nur auf die Tiere, die er und seine Familie zum Leben brauchten, eher noch auf weniger. Wenn ihn ein Tier angriff, brachte er es allenfalls in den Zoo. Ah, da ertönte ja schon das Horn, da war der Jäger, der mit leisen Schritten und suchendem Blick die Lichtung betrat, auf welcher er stand. „Nun komm“, dachte er sich, „ich stehe hier ganz allein, los...“ Doch Kasimir beachtete ihn nicht, er suchte heute wohl nur Rehe und Hirsche, für den Sonntagsbraten vielleicht. Dann musste der Wolf eben härtere Maßnahmen ergreifen. Er setzte seinen furchtbarsten Gesichtsausdruck auf, ließ sein tiefstes Knurren hören und sprang ihn an. Unter Aufbietung seiner letzten Kräfte versenkte er seine Zähne in Kasimirs lederner Hose. Der Jäger schrie auf und schleuderte ihn von sich. „Was bist du denn für ein ungezogenes Biest!“, rief er, „Du kommst mal schön mit mir.“ Er sperrte ihn in einen Käfig und stapfte verärgert Richtung Stadt davon. „Im Tiergarten wird man dir schon Manieren beibringen.“
Wie erwartet registrierte der Gefangene, wie seine Frau ihm mit erschrocken aufgerissenen Augen hinterherstarrte. Gelassen rollte er sich auf dem Käfigboden zusammen. Im Zoo würde er bestimmt eine ordentliche Fleischportion erhalten. Und freilich würde er auch wieder ausbrechen und zu ihr zurücklaufen – aber erst in zwei Tagen. Dass ihm das ohne Weiteres gelingen würde, bezweifelte er nicht eine Sekunde lang. Wer alle anderen Bewohner des Waldes nach Belieben fressen oder manipulieren konnte, für den waren die Menschen doch wohl keine Hürde. Das würde ihr eine Lehre sein und sie würde nie wieder vergessen, was man dem großen, bösen Wolf zu servieren hatte.
Da hatten sie ihn tatsächlich fortgeschleppt! Einen Moment lang war das Starren der Wölfin sogar echt, doch als ihr bewusst wurde, was sich hier abspielte, breitete sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus. Soso, das war also sein großer Plan gewesen. Sie hatte von einigen Verwandten erfahren, wozu der Mensch fähig war und wie er mit Tieren in seiner Gewalt umging. Und zu denen ging er sogar freiwillig - wirklich sehr klug. Jaja, das passiert, wenn man mir nicht zuhört, mein Lieber. Jetzt hatte sie an den Abenden endlich einmal den Bau für sich, die Kinder gingen ja sehr zeitig schlafen. Herrlich, ohne den alten Meckerer würde das wie Urlaub sein. Auf dem Heimweg plagte sie dann doch der Anflug eines schlechten Gewissens - sollte sie dem Armen nicht helfen? Mit einem Ablenkungsmanöver vielleicht, damit seine Flucht gelang? "Natürlich werde ich das.", beruhigte sie sich, "In einer Woche. Oder zwei."