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Grüne Welle
Wolfgang Bramenkamp hielt an der Kreuzung Luisenstraße, das rote Licht der Ampel glühte in der Dämmerung. Er war mit den anderen Disponenten noch auf ein schnelles Feierabendkölsch in den Marktkrug eingekehrt. An der Theke hatten sie über die Kurzarbeit debattiert, die Belegschaft war seit Monaten unruhig. Er hatte sich bereits nach einer Viertelstunde verabschiedet, es war Freitagabends. Vor dem Kiosk hinter der Kreuzung lungerte eine Gruppe Jugendlicher herum, sie lehnten an der Hauswand, tranken Dosenbier und rauchten Zigaretten. Im Radio liefen die ersten Takte eines alten Bob Seger Songs und er drehte lauter, ließ sich in den Sitz sinken und blickte aus dem Seitenfenster.
Sie standen auf der Linksabbiegerspur, ein Opel Kadett aus den 90ern, die Metallic Lackierung verblasst. Die Frau auf dem Beifahrersitz hatte die blonden Haare hochgesteckt, ihre Lippen stark geschminkt, zwei rote Striche im halbdunklen Fond, das restliche Make-Up verwischt, als hätte sie geweint. Den Mann konnte er nicht richtig erkennen, nur eine Silhouette im Hintergrund, aber er hielt etwas in der Hand, ein kleines, schmales Ding, er hielt es der Frau vors Gesicht, doch als sie danach griff, riss er es wieder an sich. Die Frau begann zu schreien und wild um sich zu schlagen, der Opel schaukelte hin und her, ihre Schreie trotz des geschlossenen Fenster so laut, dass die Jugendlichen vor dem Kiosk ihre Gespräche unterbrachen und aufmerksam wurden.
Die Ampel schaltete auf Grün, er legte den Gang ein und fuhr langsam los, so dass er noch einen letzten Blick in den Kadett werfen konnte; doch selbst jetzt konnte er den Mann nicht erkennen. Er blieb ein Schatten.
Hinter der Kreuzung drosselte er das Tempo, wendete auf dem Busfahrstreifen, fuhr weiter die Kaiserstraße hoch und holte den Kadett auf Höhe der Mundorf-Tankstelle ein. Er hielt zwei, drei Autolängen Abstand, nah genug, um das Kennzeichen entziffern zu können, den verblichenen Sylt-Aufkleber auf der Kofferraumklappe. Durch die Heckscheibe des Opels sah er ihre Schemen, der Mann, die Frau, ihre heftigen, hektischen Bewegungen, und jedesmal wenn sie nach ihm schlug, machte der Kadett einen Schlenker, aber der Mann war ein guter Fahrer, immer wieder fand er zurück in die Spur. Vor der Aggerbrücke wurden sie langsamer, der Kadett wechselte auf die Rechtsabbiegerspur, die auf den Zubringer zur Autobahn führte, danach wieder auf die mittlere Spur Richtung Troisdorf.
Wolfgang Bramenkamp schaltete das Radio aus, drehte die Fensterscheibe zur Hälfte herunter, der Fahrtwind strich ihm kühl übers Gesicht. Er folgte dem Kadett über die Kölner Straße, vorbei an Imbissbuden, Kneipen, Cafes, den dreistöckigen Packhäusern der Genossenschaft. Sie passierten mehrere Kreuzungen, alle Ampeln standen auf grün, grüne Welle, dachte er und bremste leicht, wahrte den Abstand.
Die Frau schien sich beruhigt zu haben, der Kadett fuhr jetzt geradeaus, keine Ausreißer mehr, die lange Hauptstraße durch Spich, die Geschäfte reihten sich hintereinander auf, mittlerweile allesamt geschlossen, nur der LIDL war um diese Uhrzeit noch geöffnet, der große Parkplatz taghell erleuchtet, ein paar Autos standen neben den Boxen für die Einkaufswagen, ein Mitarbeiter fegte lustlos den Eingang. Hinter Spich begannen die Felder, ausgedehnte Parzellen entlang der Fahrbahn, Weizen, Mais, Raps, dazwischen verlief die Bahnlinie, die S13 fuhr gerade Richtung Köln, hängende Köpfe hinter den rechteckigen Fenstern, rhythmisches Stampfen auf den Gleisen, dumpf und weit entfernt. Vor der Unterführung nach Lind wurde der Kadett langsamer, der rechte Blinker sprang an, ein grelles, orangefarbenes Pulsieren in der Dämmerung, dann hielt der Wagen auf dem Seitenstreifen neben der Fahrspur. Wolfgang Bramenkamp fuhr weiter durch die Unterführung, behielt das Tempo bei, auf der anderen Seite des Tunnels wieder Felder, noch mehr Mais, Weizen und Raps, das Land flach und weit, die Ähren bewegten sich sachte im nächtlichen Wind. Am Horizont die Schemen der Möbelhäuser mit ihren riesigen Neonleuchtreklamen. Er fuhr in einen Kreisverkehr vor dem Ortseingang, die Einfamilienhäuser dahinter friedlich im Halbdunkel. Er setzte den Blinker, obwohl sich kein weiteres Fahrzeug auf der Straße befand und nahm hinter der Unterführung den Fuß vom Gas. Die hellweiße Fahrbahnmarkierung, die aufgeschüttete Kiesbank, das aus den Rissen im Asphalt wachsende Unkraut. Er schaute noch einmal in den Rückspiegel, fuhr dann langsam an den rückgebauten Hallen der Dynamit Nobel vorbei, sein Blick suchte in den stillen Nebenstraßen, in den mit Giersch überwucherten Parkbuchten. Der Kadett blieb verschwunden.
Er stellte das Radio wieder an; es lief eine Gesprächsrunde, in der es um die wirtschaftliche Lage ging, die fehlenden Fachkräfte. Jeder Experte hatte eine andere Meinung, überbot sich mit Thesen, wurde laut, ließ den anderen nicht aussprechen. In der Einfahrt vor seinem Haus blieb er noch einen Moment lang im dunklen Wagen sitzen und hörte der Motorkühlung zu, seine Hände umfassten das Lenkrad. Im Untergeschoss brannte Licht, es war das Licht unter der Dunstabzugshaube, seine Frau ließ es immer an, bis er es schließlich ausmachte, wenn er nach Hause kam. Er öffnete die Fahrertür, stieg aus, sein Körper schwer und träge. In der Luft lag der Geruch von gemähtem Rasen und warmem Diesel. Der Bewegungsmelder vor der Garage funktionierte nicht, er tastete im Dunkeln, bis er das Geländer der Außentreppe zu fassen bekam. Hinter dem satinierten Milchglas der Haustür zuckte das grelle Licht des Fernsehers.
Seine Frau saß auf der Couch, die Füße auf einen Hocker gelegt.
Er setzte sich schweigend neben sie.
Wo warst du denn noch?, fragte sie und stellte den Ton leiser. Bist aber spät.
Ach, mit den Kollegen aufn kurzes Kölsch.
Was gab’s denn?
Nur wegen der Firma.
Sie nickte.
Im Fernsehen lief eine Sendung über Messies; Räume, vollgestellt mit Dingen, die niemals benutzt werden würden.
Wolltest du noch mal weg?
Das Gesicht seiner Frau weich und rundlich hinter der Brille mit den großen Gläsern, die Haare glatt und grau, ihre Lippen blassrosa.
Nein, wieso?
Trägst noch deine Jacke.
Ja?, sagte er und blickte an sich herunter. Ja, stimmt … aber nee, ich wollt eigentlich nich mehr weg.
Sie lächelte. Wieviel Kölsch hattest du denn, sag mal?
Ach, machte er. Doch nicht, wenn ich fahre.
Dann sahen sie beide auf den Bildschirm. Noch mehr Räume mit noch mehr Dingen.
Um was ging’s denn?
Er schüttelte den Kopf. Wie, was meinst du?
Na, auf der Firma.
Das Übliche eben.
Sie schauten die Sendung zuende, danach noch eine andere. Wolfgang Bramenkamp dachte an das kleine, schmale Ding, das der Mann in den Händen gehalten hatte, an die Frau und den Kadett. Ihm fielen die Augen zu, und jemand im Fernsehen lachte über etwas, das jemand anderes sagte, doch es war schon zu weit weg. Später redete er sich ein, dass alles nur ein Traum gewesen war, einer dieser Träume, in denen man selbst die Handlung bestimmt, so klar wie Wasser.