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Grüne Ohren
Der kleine Wicht quiekte triumphierend, als er schon wieder durch Aislinns Finger schlüpfte. „Bleib hier!“, rief sie und griff nach dem seidenen Wandbehang, an dem der Dieb hinaufkletterte. Der Stoff riss und der Leprechaun purzelte über den glänzenden Steinboden. Er kicherte irre, wuselte davon und verschwand unter der Kommode. Arr! Diese Wichte trieben Aislinn noch in den Wahnsinn. Wo war er hin?
Da! Er krabbelte über das Mosaik an der Wand hinauf und war bestimmt schon drei Meter hoch, fast hatte er die Höhlendecke erreicht.
Es reichte! Zwei Schläge ihrer durchscheinenden Flügel trugen Aislinn nach oben wie der Wind ein Blatt, sie griff nach dem Leprechaun und bekam ihn zu fassen. Er wand sich zwischen ihren Fingern, aber sie packte fest zu, auch wenn ihr die Bewegungen der kleinen Gliedmaßen eine Gänsehaut über den Körper jagten. Uaah, waren diese Viecher eklig.
Sie stopfte ihn in einen kleinen Leprechaunkäfig und schloss schnell die Tür.
„Elendes Geflügel!“, schimpfte er und versuchte, mit seinen spitzen Zähnen die Gitterstäbe durchzubeißen.
„Ich sags nur einmal“, zischte Aislinn, „gib mir meine Ohrringe wieder!“
„Ich sags nur einmal“, kreischte der Leprechaun, „lass mich frei!“
„Ich hab echt keine Zeit für so nen Scheiß.“ Sie packte an die beiden Griffe des Käfigs, drehte ihn auf die Seite und schüttelte das Gefängnis samt Inhalt. Aus den Taschen des Diebs fiel allerlei Zeug und durch die Gitterstäbe auf den Tisch. Ringe, Stecker, Edelsteine, Münzen. Es glitzerte und funkelte. Aislinn stellte den Käfig zur Seite und durchsuchte den kleinen Schatz.
Erleichtert atmete sie aus, als sie ihre Ohrringe fand. Den kleinen goldenen steckte sie an ihr Ohr und sofort begann sie zu schrumpfen – nur ein wenig, die Sidhe waren nicht viel größer als die Menschen. Im Laufen schlüpfte Aislinn aus ihrem Kleid. Den zeternden Leprechaun ignorierte sie.
Die Menschenkleidung lag schon bereit. Rote Schnürstiefel, ein karierter Rock, eine schwarze Jacke und eine lustige Mütze.
Aislinn betrachtete sich im Spiegel und fand, ihre verfilzten, langen Haare passten super zu diesen Klamotten. Den Menschen würde das gefallen, schließlich hatten sogar einige angefangen, die Haare genauso zu tragen.
Sie zog ihre Nase kraus und piddelte an einer kleinen Wunde; dort wo eigentlich ein weiteres Piercing funkeln sollte.
„Ich habs dir gesagt.“ Ihre Mutter stand im Eingang zur Höhle und grinste.
„Das war nur eine allergische Reaktion ...“, grummelte Aislinn. Nie würde sie zugeben, dass sie tatsächlich noch nicht stark genug für den Unsichtbarkeitszauber war und ihr das Piercing die Nase verbrannt hatte.
Mutter durchquerte mit wallendem Kleid den Raum und setzte sich auf einen kleinen Samthocker. Sie hinterließ den Duft von Moos. „Bereit für deinen ersten Auftrag?“
„Klaro“, sagte Aislinn und steckte sich einen weiteren Ohrring an. Das glänzende Silber ihrer Augen verwandelte sich in ein mattes Blau. „Das wird easy-peasy.“
Mutter ging auf Aislinn zu und holte einen Fingerring hervor. „Für dich.“
Aislinn griff danach. Er war silbern, in der Mitte funkelte ein grüner Stein. „Danke. Welche Kraft besitzt er?“
„Gar keine.“
Aislinn schaute auf.
Die goldenen Augen ihrer Mutter funkelten. „Einfach weil ich dich lieb hab.“
„Cool.“ Aislinn nickte, steckte den Ring an den Finger und verfluchte den Kloß im Hals.
Wruff, wruff.
Ein Bellen erschütterte die Höhle, der Bass ging Aislinn durch Mark und Bein.
„Ich muss los“, sagte sie. Aislinn wickelte ihren langen grünen Schal um, er gab ihr ein Gefühl von Sicherheit.
„Du wirst das gut machen“, sagte Mutter.
Aislinn nickte und machte sich dann auf den Weg zum Ausgang, in Richtung des Bellens.
Der riesige Hund eilte durch die Hügel, das Grün seines Fells verschmolz mit dem der Moose. Aislinns Flügel spannten sich im Wind, zogen sie hinauf. Die Luft schmeckte nach Salz und Erde.
Als das Dorf in Sicht kam, hielt der Hund auf einer Anhöhe mit Blick auf den Pier. Möwen kreischten in der Luft und stürzten sich auf die Abfälle eines alten Fischers.
Aislinn landete und entwirrte ihre Haare und den Schal. „Und jetzt?“
Das Tier saß dort wie eine Statue und starrte hinab. Nach diesem Lauf hechelte es noch nicht einmal. Aislinn schüttelte sich. Diese Viecher waren ihr nicht geheuer.
Am Pier entdeckte sie einen Jungen. Unsicher schlich er herum, als wüsste er nicht, wohin mit sich.
„Der da?“ Aislinn verzog den Mund.
Der Hund drehte sich um und rannte los. Seine Pfoten versanken im Moos, weiße Fetzen lösten sich vom Wollgras und verfolgten ihn wie jagende Wolken. Aislinn schaute ihm nach, bis er mit der Landschaft verschmolz, und seufzte. Dann straffte sie ihre Schultern, steckte den letzten Ring an, um ihre Flügel verschwinden zu lassen, und stapfte hinab ins Dorf.
Der Junge war langweilig.
Paul. Deutscher. Keine Geschwister.
Jedes Wort musste man ihm aus der Nase ziehen. Wie sollte Aislinn so herausfinden, was sein Problem war?
Sie musste ihn irgendwie aus der Reserve locken. Nicht zu offensichtlich bohren, sondern erstmal ablenken. Über irgendetwas unterhalten. Vertrauen aufbauen.
„Grace O‘Malley”, sagte sie. „Schon mal gehört?“ Ihre Zunge spielte mit dem Lippenpiercing, dem sie verdankte, jede Sprache der Welt sprechen und verstehen zu können.
„Keine Ahnung“, antwortete Paul. Mit der Hand drückte er seine dunkelbraunen Haare platt, die vom Wind sofort wieder zerzaust wurden. Paul runzelte die Stirn.
„Eine irische Piratin. Eine Legende. Meine Ur-Urgroßmutter. Oder Ur-Ur-Ur ...“ Menschen fanden Piraten spannend, das klappte immer.
„Aha. Krass ...“
Aislinn zog die Augenbrauen hoch. Wenn das weiter so lief, würde sie diese Aufgabe erst abschließen, wenn die Heide wieder blühte.
„Was machst du hier eigentlich so den ganzen Tag, Paul?“
„Nichts.“
Aislinn stöhnte innerlich. Sie beschlich das Bedürfnis, den Jungen bei den Schultern zu packen und mal ordentlich durchzuschütteln.
„Obwohl …“, sagte er plötzlich, „heute Nachmittag, da war ich ein irischer Freiheitskämpfer.“
Aislinn schaute ihn erstaunt an und prompt wurde er rot.
„Also natürlich nicht in echt“, stammelte er, „ich habe so getan, als wenn ich eingesperrt wäre, mit nur wenig Brot und …“ Er wurde noch röter und kniff die Lippen zusammen.
„Du hast ja echt einen an der Waffel …“, sagte Aislinn. Sie war beeindruckt. Da steckte ja doch noch etwas Leben in dem Jungen. Jetzt musste sie nur noch einen Weg finden, den Rest herauszukitzeln.
Sie zogen durch das Dorf und Aislinn zermarterte sich das Hirn, was sie mit diesem Paul aus Deutschland anfangen sollte. Mit hochgezogenen Schultern und den Händen in den Taschen seines übergroßen Regenmantels schlich er neben ihr her. Vielleicht war das schon die Aufgabe. Bringe Paul aus Deutschland bei, wie man Spaß hat.
Die Möwen über ihnen kreischten, stürzten sich in den Wind, und es sah aus, als hätten sie eine ganze Menge Spaß.
„Wollen wir fliegen?“ Aislinn sprang über eine der großen Pfützen. „Bist du schon mal geflogen?“
„Na ja", sagte Paul, „nach Irland, zum Beispiel …“
„Nein.“ Sie schaute zum Himmel, um die Augen ausgiebig verdrehen zu können. „Ich meine – richtig fliegen. Im Wind! Warst du schon mal an den Klippen?“
Ohne seine Antwort abzuwarten, ergriff sie Pauls Hand und rannte mit ihm den Hügel hinauf. Sie sprang mit ihm von einem flechtenbewachsenen Felsen zum nächsten, ohne das weiche Moos zu beschädigen. Grün strahlte es unter dem grauen Himmel. Aislinn fühlte sich lebendig, voller Energie.
Sogar Paul hatte etwas Farbe im Gesicht. Er keuchte, aber seine Augen strahlten.
Plötzlich blieb er stehen. In der Senke vor ihnen lag eine Cro Sith, eine der Feenkühe, die ihr Vater versorgte. Das dumme Vieh glotzte sie kauend an und Paul fielen fast die Augen aus dem Kopf.
Aislinn zog Paul langsam weiter. „Hast du gesehen? Sie hatte kleine Flügel.“
Paul schnaubte unsicher.
Aislinn schnaubte genervt. Nur Menschen schafften es, die Augen vor dem zu verschließen, was sie selbst gesehen hatten.
An der Klippe raubte ihnen der Wind die Luft zum Atmen. Aislinn warf sich auf den Boden und robbte an den Rand. Zu ihrem Erstaunen folgte ihr Paul, ohne zu zögern.
Aislinn streckte die Zunge aus, um die Gischt zu schmecken, die bis zu ihnen hinauf getragen wurde. Möwen schrien und brüteten überall auf den Steinvorsprüngen. Dazwischen entdeckte sie plötzlich einen pummeligen Vogel mit rotem Schnabel.
Sie stieß Paul in die Rippen. „Schau! Ein Pinguinfalter.“
„Falter sind ja wohl eher Insekten“, murmelte Paul
Wow, so langsam nervte Paul aus Deutschland. „Es gibt massenhaft Vogelarten, die wie Insekten heißen ... Grasmücke zum Beispiel.“
„Aha.“
Was brachte es, diesem Jungen die Welt zu erklären? Er hielt sie sowieso für verrückt, das sah sie in seinen Augen. Aber wenn sie nicht herausfand, was sein Problem war, dann würde sie ihm nicht helfen können, und dann würde sie ihre Prüfung nicht bestehen. Die Ausrede, dass Paul aus Deutschland langweilig war, würde wohl nicht gelten.
Sie musste alles auf eine Karte setzen. Aislinn sprang auf. „Jetzt sind wir dran mit Fliegen!“
Pauls Augen wurden groß, doch bevor er sie zurückhalten konnte, stand sie am Rand der Klippe. Sie ging leicht in die Knie, beugte sich nach vorne, spürte, wie der Wind sie ergriff, ihren Körper trug, ihr Tränen in die Augen trieb. Das Meer toste, Paul schrie und Aislinn lachte aus vollem Hals.
Sie ließ sich zurück auf den Boden fallen, fühlte sich verbunden mit der Erde, der Luft und dem Wasser. Fühlte sich sicher und geborgen.
„Bist du wahnsinnig?“, keuchte Paul.
Ach ja. Da war ja was. Trotz der Nervensäge konnte sie nicht aufhören zu grinsen. „Jetzt du, Paul! Du wirst sehen – es ist mega!“ Er musste diese Energie doch auch spüren!
„Ich glaub‘, es hackt …“, murmelte er nur.
Aislinn presste die Zähne aufeinander, aber es half nichts. Es brach aus ihr heraus. „Was bist du eigentlich für ein unglaublicher Schisser? Hattest du Feigling auch schon mal irgendwann in deinem Leben Spaß? Du Keensmurgel schaffst es, auch die tollsten Sachen kaputt zu grummeln! Meinst du denn, dein Leben wird besser, wenn du weiterhin so ein Angsthase bleibst?!“
Paul öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Dann stürmte er davon, weiter die Klippe entlang.
Endlich war sie ihn los. Aislinn ließ den Wind den Ärger aus ihrem Kopf pusten, schüttelte sich und stapfte ihm hinterher.
Paul saß auf einem Stein und blickte aufs Meer hinaus. Aislinn quetschte sich neben ihn.
„Ich hatte auch schon mal Spaß“, sagte er. „Aber dann … mein Vater …“
Aislinn biss sich auf die Lippen. Jetzt kein falsches Wort, keinen bösen Witz, der ihn wieder in sein Schneckenhaus vertrieb.
„Er ist gegangen. Einfach weg!“ Er spuckte in den Wind und wurde fast davon getroffen, als eine Böe den Schleim zurückwarf. Das machte ihn erst recht wütend. Er sprang auf, griff zu einem Stein und warf ihn über die Klippen. „Tot!“, brüllte er und kurz dachte Aislinn, der Wind hätte den Brocken zurückgeschleudert, direkt auf ihr Herz.
„Ah“, machte sie. Sie verknotete die langen Enden ihres Schals, damit der Wind ihn nicht von ihrem Hals pflückte, und wusste nicht, was sie sagen sollte. Eine tolle Hilfe war sie.
Bei Paul schien der Knoten geplatzt zu sein.
„Natürlich werde ich wieder gesund!“, brüllte er mit tiefer Stimme. „Natürlich fahr ich mit dir in die Berge! Alles wird wieder gut, Paul!“
Er schaute Aislinn an. Seine Augen blitzten. „Die Wahrscheinlichkeit zu erkranken war schon gering, daran zu sterben erst recht. Ob er nicht Lotto spielen sollte, meinte er.“ Paul lachte traurig. „Und dann geht es ihm besser, man macht sich Hoffnung und dann … baam.“ Er schlug sich auf die Brust, sein Gesicht war verzerrt, Tränen liefen die Wangen hinab.
Er wandte sich ab, blickte hinaus aufs Meer und schwieg. Aislinn beobachtete, wie Pauls Schultern bebten und sich schließlich beruhigten.
Sie stand auf und stellte sich neben Paul, ohne ihn anzuschauen, ohne ihn zu berühren.
„Im Wind“, sagte Aislinn.
„Was: im Wind?“, fragte er.
„Dein Vater“, sagte sie, „ich glaube, dein Vater ist jetzt überall – aber vor allem im Wind. Jedenfalls werde ich im Wind sein, wenn ich mal tot bin.“
Paul schwieg und Aislinn war sich nicht sicher, ob er sie wirklich gehört hatte. Doch dann rannte er los, bis vorne zur Klippe, und flog.
„Ich hab verkackt“, sagte Aislinn und schleuderte die Mütze auf den Boden der Höhle.
Mutter hatte auf sie gewartet und Aislinn floh in ihre Arme, genoss den Geruch und die Wärme. „Eschtudmirlei“, nuschelte sie in den Stoff.
Mutter lachte und schob Aislinn ein Stück von sich. „Was ist los?“
„Sein Vater ist gestorben. Da kann man nicht mehr helfen.“
„Wieso denkst du das?“, fragte Mutter.
Aislinn schüttelte sich los. „Wieso ich das denke?! Weil tot wohl tot ist. Da können auch wir nicht mehr helfen. Das war eine scheiß Prüfung!“ Sie verschränkte die Arme und betrachtete intensiv das Wandmosaik, damit ihre Mutter die Tränen nicht sah.
Nach dem Flug hatte Paul gelöster, lockerer gewirkt. Er war sogar übermütig geworden und hatte mit zu Aislinns Familie kommen wollen. Aber wie hätte das seinen Vater wieder lebendig machen sollen?
„Komm mit, Aislinn“, sagte Mutter.
„Wo...“ Aislinn drehte sich um und sah ihre Mutter aus der Höhle eilen. Sie zog die Nase hoch und folgte ihr.
Sie standen am Ende eines Tunnels, der aus den Klippen zum Meer führte, unten rauschte das Wasser. Links und rechts von ihnen brüteten Möwen. Ein Nest hing direkt neben Aislinns Kopf, der Vogel starrte sie erschrocken an.
„Ich tu dir nichts, du Dummerchen“, flüsterte Aislinn.
„Schau“, sagte Mutter und deutete auf einen Klippenvorsprung, eine richtige Plattform, die unterhalb von ihnen ins Meer stach. Ein Auto stand auf dem kleinen Parkplatz. Ein schmächtiger Junge stieg aus und lief an den Rand der Klippen.
„Paul“, formten Aislinns Lippen. Was tat der Keensmurgel da?
„Was …?“
„Warte.“
Paul lehnte sich in den Wind, er flog, so wie Aislinn es ihm beigebracht hatte. Okay, er hätte sich schon etwas weiter nach vorne trauen können, aber Aislinn war trotzdem stolz.
Dann fing er an zu brüllen. Der Wind trug Schimpfwörter zu ihnen hinauf.
„Er ist durchgedreht“, sagte Aislinn. Wie konnte sie ihre erste Aufgabe nur so dermaßen versauen?
Paul wurde immer verrückter. Sein Gesicht war verzerrt, die Arme zappelten, als versuchte er, mit ihnen zu fliegen. Aislinn verstand nur noch: Waaah Waaaah Waaaaaah Waaaaaaaaaaah!
„Was macht er jetzt?“, fragte Aislinn. Sie konnte ihren Blick nicht von Paul reißen, ihre Hände krampften sich in den Stoff ihres Schals.
„Er lacht!“, sagte Mutter mit einem Lächeln in der Stimme.
Aislinn rieb sich die Stirn. „Ich bin verwirrt.“
„Und ich bin stolz auf dich.“ Mutter legte ihren Arm um Aislinn und drückte sie fest an sich.
Aislinn schwieg. Hatte sie ihre Prüfung etwa doch bestanden?
Paul hüpfte wie ein junges Lamm zurück zum Auto. Er wirkte glücklich. Verrückt, aber glücklich, dachte Aislinn und lächelte.