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Grünbeere - Lehrjahre (1)
Es hatte heftig geschneit und so saßen die vier Männer in der Postkutschenstation fest. Es gab keine anderen Häuser in weitem Umkreis, denn üblicherweise wurden hier nur die Pferde der Eilkutschen gewechselt. Auf Gäste war man kaum eingerichtet. Das Essen und die Betten waren miserabel. Die Stimmung der vier an dem runden Tisch war entsprechend, und als der Stationswart mit vier Bierkrügen ankam, schauten drei trübsinnig auf das Getränk. Sie fürchteten wohl, es würde ungenießbar sein. Aber der vierte nahm einen tiefen Schluck und gab einen freudigen Seufzer von sich. "Ah."
Die drei sahen ihn erstaunt an. Bisher hatte der vierte Mann nämlich kein Wort gesagt. Nicht einmal vorgestellt hatte er sich. Er war unauffällig gekleidet, seine Haare trug er kurz geschnitten, seine Kleidung war sauber und sein Alter war kaum einzuschätzen. Er mochte dreißig Jahre alt sein oder fünfzig. Er war wohl unbewaffnet und hatte auch kein Gepäck bei sich. Ein Kaufmann war er eher nicht, meinten die andern drei, und tippten auf einen Lehrer.
Aber für diesen Hungerberuf wirkte seine Kleidung eigentlich zu teuer. Doch sie machten sich jetzt weiter keine Gedanken, sondern kosteten auch von dem Bier, das tatsächlich köstlich schmeckte. Auch das Spanferkel im Gemüsebett, das jetzt von einer Magd hereingebracht wurde, roch appetitlich und sah wunderbar aus. Eigentlich störte nur eins. Die Magd schaute sehr verstört. Aber sie sah gar nicht die vier Männer an, sondern starrte auf das Essen, als ob es sich noch bewegte. "Was hat die denn?" fragte Steinbach, der Handlungsagent eines großen Tuchhändlers. Er war korrekt nach der neuesten Mode gekleidet wie ein wandelnder Ausstellungskatalog. Rumork, ein fetter kurzatmiger Kaufmann, der sich schnell seinen Teller voll geschaufelt hatte, war nur noch am Mampfen und schien sich für nichts anderes mehr zu interessieren.
"Sehr eigenartig" sagte Frantzig, der als Revisor der Staatsbank immer sehr mißtrauisch war. "Wir sollten lieber nichts davon essen. Vielleicht ist das Fleisch vergiftet." Sein Kneifer blitzte vor Mißtrauen, als er seinen ohnehin gebeugten Oberkörper zu der Fleischplatte neigte. Da fing der vierte Mann an zu lachen. Ein tiefes Lachen, das aus dem Bauch heraus zu kommen schien und irgendwie angenehm wirkte, obwohl Frantzig ihn böse anschaute.
"Nein, nein, das Fleisch ist in Ordnung und es schmeckt sicher hervorragend. Die Magd hat nur so erschreckt geschaut, weil sie in der Küche nur ein mageres Hühnchen auf die Platte legen konnte; mehr hatte sie nämlich nicht zum Kochen. Schließlich hatte sie ja nicht mit Gästen gerechnet." Steinbach und Frantzig stand der Mund offen, und selbst Rumork hörte auf zu kauen und starrte den vierten Mann an. "Sie können ja reden! Ich meine, bisher haben Sie ja nichts gesagt und wir dachten schon, Sie seien stumm. Nicht einmal Ihren Namen haben Sie bisher gesagt." Der vierte Mann lächelte: "Das habe ich bewußt vermieden, denn meinen Namen kennt jeder. Sie gestatten: Grünbeere."
Jetzt starrten drei offene Münder, und es dauerte mehrere Sekunden, bis Frantzig sich fing und erstaunt ausrief: "Der berühmte Magier? Ja, dann ist es kein Wunder, daß es in diesem Loch so gutes Bier und Essen gibt."
"Ja, ja, zaubern müßte man können, dann hätte man ein bequemes Leben", fügte Steinbach hinzu.
"Meinen Sie wirklich? Lassen Sie es sich gesagt sein: Zauberei ist harte Arbeit und wenn man denkt, man hat die Ausbildung geschafft, dann fangen die Schwierigkeiten erst richtig an." Ungläubig schauten die drei Reisenden auf den großen Magier, der nun gar nicht mehr unscheinbar aussah, sondern sehr bedeutend wirkte.
"Ich merke, Sie glauben mir nicht. Wir werden hier noch wenigstens drei Tage festsitzen und ich bin in Erzähllaune. Also werde ich ihnen einige Erlebnisse aus meinen Lehrjahren darbieten.
Schon als Kind wollte ich Zauberer werden, und nach der Schulzeit bekam ich auch sehr schnell einen Ausbildungsplatz. Fünf Jahre war ich Zauberlehrling. Und was bedeutet das: Labor putzen, Tränke brauen und Bücher aus der verstaubten Bibliothek heraussuchen. Aber diese Arbeiten fand ich bald viel interessanter und begehrenswerter als etwa das Sammeln von Kräutern.
So saßen mein Meister und ich am Tisch nach dem Abendessen, ich machte meine Hausaufgaben für die Zauberschule, da sagte mein Meister in seiner bedächtigen Art: 'Ich brauche einige Temporosen.' 'Wie bitte, Temperosen, was sind das für Geräte?' fragte ich erstaunt.
'Keine Geräte, und sie heißen auch nicht Temperosen, sondern Temporosen und sind eine besondere Rosenart', erwiderte mein Meister.
'Wo wachsen die denn?'
'Letzte Woche hat der Gärtner von Schloß Blauberge eine gepflanzt, die ihm eine verärgerte Hexe untergejubelt hatte. Ich denke, heute Nacht werden sich die ersten Blüten öffnen. Also wirst Du jetzt dorthin gehen und mir zwanzig Blüten holen. Aber schneide sie mit dem Silbermesser, sonst sind sie sofort verblüht.'
Ich nahm mir also einen Seidenbeutel und ein Silbermesser und ging forschen Schrittes die fünf Kilometer zum Schloß Blauberge. Ich wollte möglichst schnell wieder zu Hause sein. Es war eine klare Nacht, der zunehmende Mond schien hell und ich konnte das Schloß schon in der Ferne erblicken. Es sah allerdings irgendwie seltsam aus, fülliger und nicht so filigran, wie ich es in Erinnerung hatte. Als ich näher kam, sah ich den Grund: Das gesamte Schloß war von Rosen überwuchert. Kein Turm war mehr zu sehen, kein Fenster, nur Rosen. Was wohl mit den Schloßbewohnern geschehen war? Nun, mir war das bald sehr egal. Diese Rosen hatten überlange Dornen und um an die Blüten zu kommen, mußte ich tief in den dichten Busch hineingreifen. Ich merkte sehr schmerzlich, daß ich vergessen hatte, vorher zu fragen, ob noch etwas für das Sammeln von Temporosen benötigt wird. Also hackte ich mit dem Silbermesser einfach darauf los und sammelte die Blüten, die ich erwischt hatte, aus den abgeschlagenen Ranken heraus. Blutend und zerkratzt kam ich nach zwei Stunden wieder in das Wohnzimmer.
Mein Meister sah mich freundlich an. 'Hast Du vielleicht etwas vergessen?' Vor ihm auf dem Tisch lagen Kettenhandschuhe, ein Gesichtsschutz und schwere Lederkleidung.
'Es ist eine schöne warme Nacht und in dem Zeug hätte ich nur geschwitzt', stotterte ich.
'Nun gut, reibe dich mit Heilsalbe ein und beim nächsten Mal denke an die Vorbereitung. Sonst nimmt es noch ein schlimmes Ende mit dir!' Aber ich ging nicht sofort, dazu war ich zu neugierig.
'Wozu braucht ihr denn die Temporosen?'
'Du hast ja gesehen, daß sie sehr schnell wachsen. Dabei entziehen sie ihrer Umgebung die Zeit, so daß im Innern einer Temporosenhecke kaum Zeit vergeht. Hundert Jahre erscheinen einem Menschen in diesem Gebüsch wie ein Tag und eine Nacht. So eine Rosenhecke wird übrigens ungefähr hundert Jahre alt, dann stirbt sie in wenigen Minuten ab und zerfällt und dann ist nichts mehr von ihr zu sehen.'
'Und die Bewohner von Schloß Blauberge?' fragte ich leicht entsetzt.
'Du kannst ja in hundert Jahren nachsehen', lächelte mein Meister."
Die drei Reisenden hörten atemlos zu und nahmen nur am Rande wahr, daß die Magd neue Bierkrüge gebracht hatte. "Haben Sie nachgesehen?", fragte sie den Magier und schlug sich dann auf dem Mund. Sie wollte doch nicht verraten, daß sie gelauscht hatte. Aber der Magier sah sie freundlich an.
"Ich kam wohl etwas zu spät. Die Hecke war nicht mehr zu sehen und im Schloß fand ein großes Fest statt. Prinz Dunstan hatte nach den Liedern, die gesungen wurden, die Hecke mit seinem Schwert besiegt und die Prinzessin wachgeküsst. Ich fand die Berichte der Barden übertrieben, war aber überzeugt, die beiden könnten trotz des großen Altersunterschiedes ja noch glücklich miteinander werden “
„Die Prinzessin ist doch nicht älter geworden, sondern nur die Zeit außerhalb der Hecke ist um einhundert Jahre weiter gelaufen“, merkte Frantzig penibel an. „Dass sie in gewisser Weise einhundert Jahre älter ist, kann ihr der Prinz ja gar nicht ansehen.“
„Sie haben recht, dass die Prinzessin nicht gealtert ist. Aber die Welt um sie herum ist älter geworden. Und einhundert Jahre sind zum Beispiel in der Mode eine sehr lange Zeit. Auch die Hofetikette, die Tänze, ja, sogar die Sprache hatten sich in einhundert Jahren weiter entwickelt. Die Prinzessin war hoffnungslos altmodisch und ihr Verhalten oder ihr Aussehen gaben in den ersten Wochen immer wieder Anlass zu hemmungslosem Gelächter der Bediensteten und zu neuen Schlagern der Bänkelsänger.“
„Sie haben Recht. Die arme Prinzessin muss sehr gelitten haben“, unterbrach nun Steinbach den Magier. Aber der regte sich darüber nicht auf. Zeigten ihm doch die Fragen seiner Zuhörer, dass sie seiner Geschichte aufmerksam zuhörten.
„Prinz Dunstan war nicht der typische Held, der nur auf Abenteuer aus ist. Er hatte sich sofort in die Prinzessin verliebt und schützte sie vor dem Spott. Vor allem aber unternahm er große Anstrengungen, sie mit den Neuerungen der vergangenen einhundert Jahre vertraut zu machen. Schon bald konnte er feststellen, dass seine Liebste kein hohlköpfiges Püppchen war, sondern eine intelligente und energische Frau, die sich mit Feuereifer auf die vielen Aufgaben stürzte und schon nach wenigen Monaten merkte niemand mehr, dass die Prinzessin einh8undert Jahre verschlafen hatte. Und damit ist meine kleine Geschichte zu Ende. Es ist spät und ich denke, wir sollten uns zur Ruhe begeben.“
„Ach, das war schön“, seufzte der romantisch gestimmte Steinbach.
„Eine Geschichte bitte noch", bettelte die Magd und die drei Reisenden nickten zustimmend.
„Vielleicht morgen, dann ist Vollmond,“ entgegnete der Magier und verließ die Stube.