- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 10
Grübchen im Rücken
Beim Eislöffeln bemerkte sie nicht, dass ihr Kleid verrutscht war. Bis ein Schatten über den Tisch fiel und ihr Eis grau färbte. Einer der aufdringlichen Kerle vom Nachbartisch war aufgestanden. Jetzt blickte er von oben in ihren Ausschnitt. Es war grotesk. Die Situation reizte sie zum Lachen. Sie schaute zu Hans. Auch er konnte nichts mit dem Fremden anfangen, der wortlos neben ihnen stand wie ein wartender Kellner, den Hals unnatürlich vorgestreckt.
Vera widerstand der Versuchung, an sich hinabzuschauen. Hans strich über ihre Hand. „Laß dich nicht ärgern.“ Dann widmete er sich wieder seinen Pommes. Das war in der Tat das Beste. Weiteressen. Vom Nebentisch kamen Zurufe, bierselige Unterstützung für den Mutigen, der Vera jetzt am Arm berührte. Vera schaute verzweifelt zu den beiden Frauen dort, die Kaffee tranken. Sie verstand ihre Reaktionen nicht. Statt sich für ihre Männer zu schämen, lachten sie nur.
Um so lauter, als diese aufstanden und Veras Tisch umkreisten. Eine Wand aus Bäuchen.
„Na, Väterchen. Ist sie deine Enkelin?“
Vera wartete darauf, dass Hans in seiner wohlerzogenen Ingenieurs-Art protestierte.
Aber er schwieg. Kein: „Das ist ungehörig, meine Herren.“ Stattdessen stopfte er seine Pommes so mechanisch in sich hinein, dass Vera lachen musste. Der Mann in dem roten T-Shirt bezog es auf sich und versuchte mit seiner behaarten Hand ihre Wange zu streicheln. Sie wich aus und landete mit dem Kopf in etwas Weichem, einem Bauch hinter ihr.
Unten am Strand sonnten sich Frauen in Bikinis, viele oben ohne. Aber in dem lampiongeschmückten Promenaden-Café nur hundert Meter weiter, sorgte ein verrutschtes Kleid für Aufsehen. Vera hatte den Verdacht, dass es den Männern um etwas anderes ging.
Hans hatte mehr Angst als sie selbst.
„Zahlen, bitte zahlen“, rief er. Die Männer feixten, als sie merkten, dass die Kellnerin Hans ignorierte. Sie hielt ihn wohl für einen unhöflichen, eiligen Gast. Erst als Vera aufstand und ihr die Notlage erklärte, kam sie mit ihrem schweren Portemonnaie.
Selbst nach dem Zahlen waren Vera und Hans nicht erlöst, der Mann im roten T- Shirt und sein Kumpel verzichteten lieber auf ihr Bier und folgten ihnen.
Vera beschloss, sich nicht nach ihnen umzudrehen. Auf der Promenade war es noch heißer als im Café. Kinder mit Eimerchen und Schüppe kamen ihnen entgegen, dahinter ihre Eltern, vollgepackt mit Taschen und Picknickkörben. Überall Lachen um sie herum. Niemand beachtete sie. Sie war nur ein molliges Mädchen in einem weißen Kleid und Hans ein alter Mann mit einer Decke im Arm.
Nachdem sie den dichtbesiedelten Strandbereich verlassen hatten, stolperten sie über eine verlassene Wiese. Der Weg zur Straßenbahn war noch einsamer. Ein kleiner Pfad zwischen niedergetrampelten Gräsern, daneben ein Wassergraben. Sie konnten nicht einmal nebeneinander laufen. Vera hörte, wie sich die beiden Männer über sie unterhielten, der im roten T-Shirt hatte ein unangenehmes Lachen. Hans trippelte vor, zwischendurch blieb er stehen, um Luft zu holen, dann stieß Vera mit dem hinter ihr Laufenden zusammen.
Sie bekam Angst, dass Hans sich zu sehr aufregte. Eine Verfolgungsjagd war nichts für einen Achtzigjährigen.
„Polizei, Polizei!“, rief er unterdessen. Woraufhin die anderen noch mehr lachten.
„Sie können uns nichts tun“, versuchte Vera Hans zu beruhigen und hoffte, er würde still sein.
An der Haltestelle winkten ihnen die Männer zu, als sei alles nur ein Scherz gewesen.
In Veras Bad zog Hans später seine Hose aus und versuchte sie im Waschbecken zu säubern.
„Ich hätte die Pommes nicht essen dürfen.“ Dabei kam sein Durchfall bestimmt nicht vom Fett. Vera verzichtete auf einen Kommentar, sonst ärgerte sich Hans, dass er „sein Fräulein“ nicht richtig verteidigt hatte. Sie half ihm beim Auswaschen der Hose und hängte sie danach über einen Küchenstuhl, ein Handtuch dazwischen, damit der Bezug nicht nass wurde. Seine Frau durfte von dem Missgeschick nichts erfahren. Dann stellte sie ihm die Dusche ein, damit er sich nicht verbrühte und füllte einen Topf mit Wasser.
Während das Wasser kochte, prüfte sie im Flurspiegel ihr Kleid. Der Ausschnitt war tief, aber nicht ungewöhnlich. Ein Kleid wie viele andere auch. Sie versuchte sich selbst in den Ausschnitt zu schauen. Außer einem leichten Ansatz ihrer Brüste konnte man nichts erkennen. Sie zog den Stoff in die Länge, verschob ihn, jetzt konnte man etwas mehr sehen, die schmale Furche, die sich nach unten verschattete, ein Stück BH, nichts, was provozierend wirkte.
Als die Dusche nicht mehr lief, stand sie auf und reichte Hans ihren Bademantel durch die Tür. Dann setzte er sich zu ihr und trank Tee.
Arnd, ihr Mitbewohner staunte über den Anblick in der Küche, als er nach Hause kam. Schweigend verzog er sich in sein Zimmer. Vera schien, als sei er beleidigt und als Hans im Taxi saß, kam Arnd heraus und schaute sie merkwürdig an. Als interpretierte er ihr Verhältnis zu Hans neu. Ihr war schon öfter aufgefallen, dass Arnd sie heimlich taxierte, aber sie hatte sich nie etwas dabei gedacht, weil er eine Freundin hatte. In dieser Nacht ließ er die Tür zu seinem Zimmer auf.
Hans und sie waren kein Liebespaar. Aber ihr Umgang miteinander hatte etwas Natürliches, wenn er in seiner Unterhose neben ihr am Strand saß und sie in ihren Büchern las. Vera lag im Bett und horchte in die Stille. Sie dachte an Arnds geöffnete Tür und lächelte. Hans' Gegenwart schien manche Männer zu provozieren, als wollten sie demonstrieren, wie jugendlich und stark ihre Körper waren, wie einladend und ausdauernd. Hans war feinfühliger.
Er achtete nicht auf die tiefen Grübchen in ihrem Rücken, die ihren Speck links und rechts der Wirbelsäule unterteilten. In seiner Gegenwart konnte sie ihren Badeanzug ausziehen, wobei sie danach ein Handtuch um sich schlang und nach vorn aufs Wasser schaute. Hans sagte, dass sie schön sei und der liebe Gott hätte, als er ihre Taille formte, versonnen innegehalten. Die Haltegriffe im Speck, eine Folge göttlicher Zerstreutheit.
Aber sie löste ihr Haarband auch beim nächsten Baden, so dass ihre Locken über ihren Rücken fielen. Vera war froh, dass sie den Verfolgern nicht wiederbegegnet war. Das Gras fühlte sich unter ihren Füßen trocken an, als sie zum Strand hinunterlief. Sie achtete auf Glasscherben und kleine Erdlöcher, aus denen Wespen aufflogen. Die Wiese versandete, dann versanken ihre Zehen in feinstem Sand.
Das See war kühl, aber es war wunderbar, die Wellen auf der Haut zu spüren, ohne Stoff dazwischen. Sie schwamm einige Runden und beobachtete die Badegäste, die sich sonnten und lasen. Vera gefiel, wie die alten Menschen mit ihren Körpern umgingen, sie besaßen eine Souveränität, die den Jüngeren fehlte.
Einige junge Männer saßen auf Bänken, hoch oben am Hang und betrachteten heimlich die Nackten. Der Schatten unter den Bäumen war angenehm, aber Vera verstand nicht, warum sich die Herren ausgerechnet im FKK-Bereich aufhalten mussten. Sie wartete darauf, dass die vier Ausländer verschwanden, die nett aussahen, aber ihren Körper hungrig betrachteten, obwohl sie nicht viel von ihm sehen konnten. Sie schwamm länger, als sie beabsichtigt hatte. Ihr wurde langsam kalt. Als sie aus dem Wasser stieg, winkte Hans mit einer Tafel Schokolade, die er aus der Kühlbox zog.
Er reichte ihr ein Handtuch und sie zog ihren Badeanzug wieder an. Der Strand war mittlerweile voller und sie hatte lieber etwas an.
In ihrer Nähe saß ein Mann auf einer orientalisch gemusterten Decke. Vera fand ihn schön. Seinen Proviant hatte er wie ein Stilleben um sich verteilt, seine Haare waren dunkel und lang. Er gehörte zu den Wenigen, die in der Hitze ihre Hose anbehalten hatten, eine dunkle, lange Stoffhose. Vera schaute immer wieder zu ihm hin.
Sie balancierte zwei Becher Brause, als sie später am Nachmittag auf einen ihrer früheren Verfolger traf. Diesmal trug er kein T-Shirt. Von der Promenade waren es nur wenige Meter bis zu ihrem Liegeplatz. Der Mann musste sie beobachtet haben. Sie wunderte sich, warum er ausgerechnet nach der Hand griff, in der sie die Getränke hielt. Brause lief über sein Hemd, das er in der Hitze nicht hochgerollt hatte.
„Laß mich los!“, schrie sie und hoffte, der Schöne auf der Decke käme ihr zu Hilfe.
Sie schaute ihn hilfesuchend an. Er lächelte.
Aber er verstand nicht.
Der Druck um ihr Handgelenk wurde stärker. Es schmerzte.
Der Schöne studierte weiterhin das Geschehen, unbeteiligt, dann lächelte er wieder.
Sie versuchte, ihre Hand zu drehen, dann ohrfeigte sie den Angreifer, der sie überrascht los ließ.
Ihre Arme klebten, als sie zu Hans kam. Sie war völlig außer Atem.
Er war in sein Kreuzworträtsel vertieft und hatte in seiner Schwerhörigkeit ihren Schrei nicht mitbekommen. Sie gab ihm seine Brause. Er wunderte sich nicht, dass sein Becher halb leer war. Vera lief zum Wasser um ihre Arme zu waschen. Als sie zu den Bänken am Hang hochschaute, sah sie, wie ihr Verfolger mit seinen Kumpels redete und dabei heftig gestikulierend auf sie zeigte. Vera meinte ein Lachen gehört zu haben, nachdem sie ihn geohrfeigt hatte. Ein schadenfrohes, vielstimmiges Lachen aus Richtung der Bänke. Aber sie hatte den Eindruck, dass er sie trotz seiner eigenen Blamage für heute in Ruhe lassen würde.
Es war noch früh am Nachmittag, als sie ihre Decke zusammenrollten. Weder Vera noch Hans bemerkten, dass ihnen wieder jemand folgte.
In der Straßenbahn hielt Vera die Kühlbox im Schoß, darüber ihre Bücher. Hans die Decke und den Radiorekorder. Vera liebte es mit Hans zusammen die alten, staubigen Kassetten zu hören, die er zu Hause nicht hören durfte, weil seine Frau es ihm verbot. Vera verstand nicht, warum Hans sich so viel gefallen ließ. Aber er hatte Angst, allein zu wohnen.
Als die Bahn anfuhr, hörte Vera hinter sich ein leises Flüstern. Worte, die sie nicht verstand, die aber unmissverständlich ihr galten. Eine raue Stimme, Wörter in einer fremden Sprache, die sie nicht zuordnen konnte. Sie roch fremde Haut, würzig, leicht verschwitzt, die Stimme war nun dicht an ihrem Ohr, zärtlich, fordernd, mit einer Nachdrücklichkeit, die keinen Widerspruch duldete. Manche Wörter klangen deutsch. „Hübsch“ und „Mann“ und „sehen“ und Vera wunderte sich, dass man sie ansprach, obwohl Hans neben ihr saß. Sie drehte sich um und war nicht überrascht, als sie ihn erkannte: der Schöne; aus der Nähe wirkte er anders, nicht hässlich, aber älter und weniger gelassen.
Obwohl sie ihn selbst heimlich beobachtet hatte, gefiel ihr nicht, wie beschwörend er auf sie einsprach. In seinen Augen lag eine Härte, die nicht zu seiner Stimme passte und die ihn auf eine gewisse Weise doch hässlich machte. Sie schaute lieber nach vorn und bereute, dass sie ihn überhaupt beachtet hatte, vor ein paar Stunden, als er in ihrer Nähe gesessen hatte auf der verdorrten Wiese. Zunächst hatte sie nur das Muster seiner Decke bewundert und überlegt, ob sie ein ähnliches Plaid für ihr Sofa kaufen sollte.
Ein wenig machte er ihr Angst und sie beschloss, ihn für die weitere Fahrt zu ignorieren. Hans döste vor sich hin, die Sonne machte ihn schläfrig und seine Hände lösten sich vom Griff des Rekorders. Aber die Sitze waren so eng, dass nichts von seinem Schoß rutschen konnte.
Am Hauptbahnhof versuchte Vera, Hans vorsichtig zu wecken und nahm ihm die Decke ab. Der Lärm um sie herum machte sie nervös, die hektischen Stadtgeräusche verdrängten die Ruhe des Sees. Aber wenn sie ehrlich war, lag ihre Nervosität eher an dem Unbekanntem, der keine ihrer Gesten unbeobachtet ließ. Es war, als hätte er an diesem Nachmittag nichts anderes zu tun, außer ihr zu folgen und er tat dies mit einer Hartnäckigkeit, die sie erschreckte. Er war ein Mann mit einem Ziel und ihr wurde bewusst, dass er den Zwischenfall auf der Promenade durchaus verstanden hatte. Nur hatte er ihn anders interpretiert. Statt helfen zu wollen, hatte es ihn erregt. Es war wie eine Übergabe beim Staffel-Lauf. Den alten Verfolger war sie los, aber der Neue entwickelte einen ungewohnten Ehrgeiz.
Jetzt bemerkte auch Hans ihn.
„Da ist ja der junge Herr vom See“, sagte er, noch etwas schlaftrunken.
„Wir werden heute anders nach Hause fahren“, entschied Vera und hoffte, Hans würde wacher werden.
„Wir tun so, als ob wir die 5 nehmen, steigen aber gleich wieder aus“, flüsterte sie in sein Ohr und war froh, dass er sie gleich beim ersten Mal verstand. Manchmal hatte sie einfach Glück.
Sie waren die ersten, die einstiegen, als die Bahn kam und im Gedränge fiel nicht auf, dass sie zwei Türen weiter wieder ausstiegen. Sie duckten sich und pressten sich an das warme Blech der Bahn, damit ihr Verfolger sie vom Fenster aus nicht sehen konnte. Sie warteten bis die Bahn anfuhr, dann eilten sie los. Aber sie hatten nicht mit der übermütigen Frechheit einiger Jungs gerechnet, die angetrunken vor die Bahn liefen und den Fahrer zu einer Vollbremsung zwangen. Wütendes Gehupe, dann Stillstand. Während des Halts sprangen die Türen auf. Der Fahrer wollte wohl kein Risiko eingehen und ließ sich erpressen. Triumphierend verschwanden die Jungs ins Innere.
Fast im gleichen Moment sprang hinten der Unbekannte heraus. Er hatte Vera längst entdeckt und sie fluchte, dass sie nicht schneller den Gleisbereich verlassen hatten. Aber die Treppen zur Unterführung wäre Hans eher hinuntergesegelt als hinuntergestolpert. Wäre sie allein gewesen, hätte sie die Stufen hinunter rasen können und für einen Moment zog sie diesen Plan tatsächlich in Erwägung, schließlich war man hinter ihr her und nicht hinter Hans.
Aber sie konnte Hans nicht einfach allein lassen, hilflos zwischen all den Reisenden, wie ein kleiner Junge mit seinem Rekorder in der Hand. Obwohl Hans vielleicht verstanden hätte, warum sie floh. Sie erwog die Möglichkeit, mit Hans in den Bahnhof zu gehen. Vielleicht konnte sie ihren Verfolger in einem der Geschäfte abhängen oder die Polizei rufen. Aber sie erinnerte sich an einen ähnlichen Fall, wo die Beamten ihr nicht hatten helfen wollen. Andererseits sah sie nicht ein, sich von diesem Unbekannten den Verlauf ihres Nachmittags diktieren zu lassen. Was konnte er ihnen schon tun?
Sie überlegte, wie viel Geld sie dabei hatten. Für ein Taxi würde es nicht reichen. Nicht mal für die Mindestgebühr, um überhaupt loszufahren.
„Hans, ich glaube, es ist besser, wenn du allein nach Hause fährst“, schlug Vera ihm vor. Aber ihr war klar, dass er ablehnen würde.
„Nein!“, widersprach er trotzig, wie sie es vorausgesehen hatte. Er würde „sein Fräulein“ nicht im Stich lassen.
„Und was schlägst du vor?“, fragte sie leicht erbost.
„Spazieren fahren.“
„Spazieren fahren?“
„Spazieren fahren.“ Hans kletterte mit einer Behändigkeit in die nächste Bahn hinein, die sie ihm nicht zugetraut hätte.
Erst als sie saßen, begriff sie, was er vor hatte.
„Hans, du alte Stratege“, sagte sie und musste lächeln. Sie war gespannt, wann ihr Verfolger die Schnauze voll hatte vom Straßenbahnfahren.
Das Spiel machte fast Spaß. Wie ein Hündchen folgte er ihnen und sah zunehmend genervt aus. Hans holte ein paar Brote aus der Kühlbox und genüsslich knabberten sie vor sich hin. An einer Endstelle setzten sie sich in eine Imbissstube und tranken Kaffee. Als sie zurückkamen, war der Dunkelhaarige verschwunden.
„Gott sei Dank!“, sagte Hans.
„Soll ich uns zu Hause etwas kochen?“, fragte Vera.
Sie fuhren zurück in die Stadt und nahmen die Straßenbahn zu Veras Wohnung. Am Augustusplatz durchfuhr es sie heiß, als sie die Neueinsteigenden musterte. Sie stieß Hans in die Seite: „Da ist er wieder.“ Wie hatte sie nur davon ausgehen können, ihn abgehängt zu haben? Nicht nur sie hatten einen Plan gehabt. Jetzt führten sie ihren Gegner direkt zu ihrer Wohnung. Aber was wollte sie machen?
Hinter alten Platanen lagen die Studentenwohnheime. Weißgeflieste Zwölfgeschosser, farblich unterschiedlich akzentuiert. Sie lief zu den Hintereingängen, an den Fahrrädern vorbei. Jemand kam aus dem ersten Haus, dem Roten.
„Komm schnell!“, rief Vera und hastete die Treppe hoch, bevor die Glastür zufiel, sie besaß keinen Hausschlüssel für die Nummer 20.
„Aber du wohnst doch in der-“, protestierte Hans.
"Komm!", befahl sie und zog Hans unsanft die Stufen hoch. Sie schafften es rechtzeitig, bevor die Tür zu fiel.
Der Dunkelhaarige blieb draußen. Vera erhaschte im Umdrehen einen Blick auf seine Augen. Sie konnte nicht feststellen, was er dachte. Er wirkte nicht wütend, eher verschlossen. Sie wollte nur weg. Er musste warten, bis wieder jemand raus kam.
Vera hatte Glück. Der Aufzug stand unten. In der verspiegelten Kabine sah sie, wie Hans zitterte. Sie drückte die Zwölf. Man konnte von außen erkennen, in welchem Stockwerk der Aufzug war. Aber Vera glaubte nicht, dass ihr Verfolger schon im Haus war. Und selbst wenn. Er konnte wohl kaum so schnell hoch joggen, trotz seiner Läuferfigur.
Bevor sie ausstieg, drückte sie so viele Knöpfe, wie sie konnte, sollte das Ding auf seiner Heimfahrt in jeder Etage halten.
Sie mussten noch eine kleine Treppe nach oben laufen, dann waren sie direkt unter dem Dach. Sie öffnete die Glastür zum Verbindungsgang, der hoch über den Dächern alle Hochhäuser miteinander verband. Die Luft war trocken unter den gewölbten Glasflächen. Von unten dröhnte der Verkehr. Der Gang war wie ein langgezogenes Gewächshaus, ein genialer Partyraum, was auch schon andere Leute gedacht hatten, als Vera im Kies versteckte Bierflaschen entdeckte.
„Und wenn er uns hier findet?“, fragte Hans ängstlich.
„Er wird uns hier nicht finden.“ Noch mehr Sorge machte Vera, dass Hans versuchte, schneller zu laufen, als er konnte. Wenn er so weitermachte, würde er umfallen. Sein Keuchen hörte sich bedrohlich an. Die Ironie wäre, wenn niemand auftauchte und er einen Infarkt bekäme. Hier oben unter dem Himmel konnte ihnen niemand helfen.
„Hans, wir brauchen uns nicht zu beeilen“, versuchte sie ihn zu beruhigen. „Er wird uns nicht finden.“ Sie konnte sich selbst nicht davon überzeugen. Sie hoffte, die Tür zum grünen Haus war unverschlossen, sonst säßen sie in einer Falle, einer gläsernen Fuchsröhre.
Sie hatten Glück. Alle Verbindungstüren waren auf.
Aber Hans konnte im gelben Haus nicht mehr weiterlaufen. Vera legte die Decke über die Kühlbox und forderte ihn auf, sich zu setzen.
„Aber wir können doch nicht hier bleiben“, sagte er.
„Er hätte uns schon längst gefunden, wenn er gewollt hätte.“
Vera war sich nicht sicher, ob das stimmte. Immerhin setzte Hans sich. Sie überlegte, ihn allein zu lassen und Hilfe zu holen. Aber er schnappte wohl eher vor Aufregung nach Luft. Und er würde protestieren, wenn sie ihn zurücklassen würde. Krähen flogen über ihnen hinweg, der Himmel färbte sich dunkel. Bald würde es gewittern und sie saßen hier oben. Sie holte ihren Beutel und öffnete die Thermoskanne. Ein Schluck Tee würde ihnen gut tun.
Es wurde fast gemütlich, als die ersten schweren Regentropfen auf das Glasdach fielen. Niemand war gekommen, so dass sie auch noch die restlichen Brote aufaßen, ein merkwürdiges Picknick. Schließlich hatte sich Hans so weit beruhigt, dass sie weiterlaufen konnten.
In dem Fensterchen hinter ihrer Wohnungstür brannte Licht. Vera hatte sich selten so darüber gefreut, dass Arnd zu Hause war. Erst wollte er sich beschweren über das stürmische Klingeln, mit dem Hans seine Unruhe bekämpft hatte. Es war, als hätten sich seine Finger nie mehr vom Klingelknopf lösen wollen.
„Was ist denn mit euch los?“, erkundigte sich Arnd und wurde sofort mit einem Redeschwall überschüttet. Proportional zu seiner gerade erst überstandenen Angst, genoss Hans die günstige Gelegenheit, über sein Abenteuer zu berichten, über die Flucht vor einem gefährlichen Unbekannten, über Ablenkungsmanöver und Verfolgungsjagden. Das Picknick oben auf der Kühlbox ließ er aus.
Arnd eilte zurück zum Herd. Seine Suppe kochte über. Umständlich rührte er im Topf. Vera gefiel der ungewohnte Anblick. Arnd, der sonst nicht einmal die Mikro- Welle bedienen konnte, mühte sich ab mit Kochlöffel und Pürierstab. Er füllte drei Teller mit duftender Brokkoli-Suppe. Vera war froh, ihn nicht ausgelacht zu haben. Aber vielleicht hätte ihr jede Suppe geschmeckt wie die Beste der Welt.
„Ich bringe dich nur in Gefahr“, sagte Hans, als Arnd in sein Zimmer verschwunden war. Vera lächelte über die Dramatik in seiner Äußerung.
„Ohne mich würde dich niemand belästigen“, fuhr er fort und Vera überlegte, ob an dieser These etwas wahr sein konnte.
„Es wäre besser, wenn wir nicht mehr zusammen zum See gehen“, sagte er. „Du hast mich so glücklich gemacht. Aber die Leute möchten nicht, dass ein alter Mann noch einmal glücklich wird.“ Etwas störte Vera an seinen Worten. Vielleicht war es eine Spur nörgelnden Selbstmitleids, vielleicht war sie neidisch, dass er ihr Zusammensein stärker genoss als sie.
Sollte sie es ihm ausreden? Es wäre bequem. Er machte es ihr leicht, ihr Verhältnis zu ordnen. Sie waren kein Paar, aber Vera mochte die Intimität zwischen ihnen, Hans Umarmungen, seine Offenheit, seine Komplimente. Wäre er jünger gewesen, hätte sie sich in ihn verliebt. Er hatte als junger Mann sehr gut ausgesehen. Und das alte Foto, das Hans ihr geschenkt hatte, lag in ihrem Tagebuch und sie schaute es sich oft heimlich an. Vera wollte Hans nicht verlieren. Aber es wäre vielleicht besser, wenn sie sich nur noch im Café oder zu einem Becher Automatenkaffee in der Bücherei träfen.
Sie hatten kein Opa-Enkelin-Verhältnis, auch wenn Hans sie wie eine Enkelin zum Eisessen einlud. Ihr gefielen die harmlosen Vergnügungen und sie verstand nicht seine Frau, die ihm all dies verbieten wollte. Nicht weil sie eifersüchtig war, sie schlief seit vierzig Jahren nicht mehr mit ihm, seit der Geburt ihres behinderten Sohnes, für dessen Unglück sie Hans die Schuld gab.
Als Hans diesmal nach Hause gefahren war, ließ Arnd sich nicht auf ein belangloses Gespräch mit ihr ein. Vera musste innerlich lachen, als er von seinen Vorzügen erzählte und dass sie es sicherlich nicht bereuen würde, wenn sie ihn testete. Ohne die Sache mit Hans wäre er niemals so weitgegangen, das ahnte Vera. Arnd war zweifellos anziehend, aber sie wollte mit ihrem Mitbewohner keine Affäre anfangen. Arnd bestätigte ihre Theorie, dass manche
Männer einen Radar dafür haben, wenn erotische Schwingungen in der Luft liegen und wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass Hans sie auf eine bestimmte Art manchmal schon anmachte.
Aber das taten Gleichaltrige auch. Sie war nicht gerontophil oder wie man das nannte.
Es war nur, dass sie mit niemandem so romantisch am See sitzen konnte. Sobald sie allein waren, hörten sie in der Dämmerung Puccini, laut und hemmungslos und die Takte von Tosca vermischten sich mit dem Geräusch der Wellen und wenn sie die Augen schloss, sah sie die alte Kino-Werbung, den Felsen, von dem ein muskulöser Mann ins Meer sprang, die Arme weit ausgebreitet und wenn sie aufsah, war es Hans, dessen dunkle Augen sie anlächelten. Hans sah südländisch aus, wie ein alter Grieche, seine weißen Haare leuchteten auf seiner dunklen Brust. Und vielleicht war das der Grund, warum der junge Ausländer sie so belästigte, vielleicht lag es nicht allein an ihrem Körper und ihren langen Haaren. Vielleicht glaubte er, Hans wäre ebenfalls Ausländer. Vielleicht dachte er, er hätte mehr Anrechte auf Vera, weil er jünger war.
Vera beschloss zur Polizei zu gehen. Sie fuhr einen Tag später zur Dienststelle am See. Ein Rundbau, in dem außer der Polizei noch eine Apotheke und ein Supermarkt integriert waren. Sie zog eine Cola aus dem Getränkeautomaten im Warteraum. Dann holte man sie ab.
Der Polizist, der ihren Fall bearbeiten würde, war ein Endvierziger, korpulent mit einem freundlichen Gesicht, ein Familienvater-Typ mit sicherlich ein paar Töchtern in ihrem Alter.
„Ich möchte eine Anzeige aufgeben“, sagte Vera. Sie wunderte sich, warum der Beamte die Daten nicht in den Computer eingab, sondern ein Blatt in eine mechanische Schreibmaschine einspannte.
„Dann erzählen sie mal.“ Er hörte genau zu und lächelte sie verständnisvoll an. Mit fetten Zeigefingern hackte er auf die Tastatur, langsam und ungeschickt.
Vera erzählte ihre Geschichte, ließ aber weg, dass es sich bei dem Mann um einen Ausländer handelte. Sie wollte die Vorurteile gegen die Leute aus dem Asylantenwohnheim, was sich in Seenähe befand, nicht noch verstärken. Mit ein paar der Kindern spielte sie manchmal Volleyball. Und ihr Verfolger schien nicht dort zu leben.
„Ich kann Ihnen nicht viel Hoffnung machen“, sagte der Beamte zum Abschied. „Aber
wenn ich Ihnen noch einen Tipp geben darf. Ganz unter uns: Sie müssen auch mal die jungen Männer verstehen. Versetzen Sie sich doch mal in deren Psyche: Läuft eine hübsche Frau herum, versucht man sein Glück. Und dann begleitet man sie eben bis nach Hause.“
Begleitung hört sich euphemistisch an, dachte Vera. Und wenn Hans aus Angst oben im Verbindungsgang einen Herzanfall bekommen hätte?
„Ich habe das auch als junger Mann gemacht. Wenn mir ein Mädel gefiel, bin ich ihr bis nach Hause gefolgt.“
Vera war schlecht. Grußlos verließ sie das Gebäude und ging in den Supermarkt. Sie wollte nicht umsonst zum See gefahren sein. Sie kaufte Zutaten für ihr Abendessen und eine Tafel Schokolade, die sie schon auf der Heimfahrt zur Hälfte aufaß.
Sie konnte nicht aufhören, sich über den Beamten zu ärgern. Als sei sie nichts weiter als eine hysterische Ziege, eine Hypochonderin, wenn es das auch im polizeilichen Sinn gäbe. Man würde ihren Fall gleich wieder zu den Akten legen. Sie hatte nicht erwartet, dass man den Mann fassen würde. Darum ging es ihr nicht. Aber sie wollte, dass die Polizei das Treiben am See stärker ins Auge fasste.
Hans meldete sich tagelang nicht bei ihr. Das widersprach seinen Gewohnheiten. Vera machte sich Sorgen. Vielleicht war er krank. Warum ging er nicht ans Telefon?
Am vierten Nachmittag hob seine Frau den Hörer ab. Aber als sie Veras Stimme erkannte, legte sie auf.
Hans kam vom Orthopäden, als Vera ihn Tage später in der Stadt traf. Sie setzten sich in ein Café in der Nähe des Bach-Denkmals und bestellten Eis. Es war schon früh am Abend, kurz vor Geschäftsschluss. In zwei Stunden wollte Vera auf eine Party gehen.
Hans bewunderte ihr Kleid, das in der Taille eng geschnitten war und ihr Dekolleté betonte. Ineinanderverschlungene Perlenketten verhinderten, dass man zu viel von ihrer Brust sah.
„Du siehst schön aus, mein Frauchen“, sagte Hans. „Aber eigentlich darf ich dich nicht mehr so nennen.“
„Ich habe mir Sorgen gemacht, weil du nie ans Telefon gegangen bist“, sagte Vera.
„Ich war nicht krank“, erwiderte Hans. „Aber meine Frau hat das Telefon bewacht.“
Hans und sein Sohn mussten Kopfschmerzen bekommen haben von dem vielen Läuten, das Vera verursacht hatte in dem Glauben, dass niemand da gewesen war.
„Meine Frau weiß, dass wir zusammen am See waren“, sagte Hans. „Als sie beim Friseur war, hörte sie, wie jemand in der Nachbarkabine von einem merkwürdigen Liebespaar am Strand sprach.“
„Aber damit können doch alle möglichen Leute gemeint sein“, warf Vera ein.
„Mittlerweile weiß es unsere ganze Siedlung“, fuhr Hans einfach fort. „Sie reden nur noch von dem Alten mit dem jungen Mädchen. Sie nennen uns das ‚Liebespaar vom See'.“
Vera gefiel das Gerücht und sie musste lachen.
“Und warum glaubt deine Frau, dass ausgerechnet du der Mann bist?”
„Wir waren früher jedes Wochenende da.“, sagte Hans. „Man kennt uns dort. Ich bin bekannt wie ein bunter Hund.“
Vera dachte an den Moment am See zurück, als sie im Wasser stand und zum Ufer zurückblickte. An die alten Menschen, deren Natürlichkeit sie bewundert hatte. Sie war enttäuscht, dass es unter ihnen solche Klatschweiber gab.
„Mir war gar nicht aufgefallen, dass einer von denen dich kennt.“
„Die wollen mich nicht kennen seit der Sache mit dem-.“ Vera kannte die Geschichte.
Hans beschlabberte sich, und diesmal hatte sie keine Lust ihn darauf hinzuweisen. Sie wollte sich gern einen Kaffee bestellen, aber sie fürchtete später aus dem Mund zu riechen. Vielleicht gab es auf Sandras Party einen Mann, mit dem sie sich nett unterhalten konnte.
Sie freute sich gleich aufstehen zu können, als Hans nach einer Karstadt-Tüte griff, die neben ihm auf dem Stuhl lag. Er holte ein kleines Geschenk heraus, das er unmöglich selbst eingepackt haben konnte. Mit erwartungsvollem Blick verfolgte er, wie Vera das Päckchen öffnete.
„Das kann ich nicht annehmen“, sagte Vera. Hans musste das Handy heimlich gekauft haben, ohne dass seine Frau davon erfahren hatte.
„Damit du mich erreichen kannst“, sagte Hans und lächelte sie an.
„Du weißt doch, dass ich es nicht mag, wenn du mir so teure Sachen kaufst.“
„Aber ich kann es doch nicht mehr umtauschen“, sagte Hans. „Und was soll ich alter Mann damit?“
„Wenn du zum Beispiel nicht mehr laufen kannst und plötzlich Hilfe brauchst“, sagte Vera und wusste, darüber würde er sich ärgern. Aber eigentlich war es schade, wenn Hans das Handy wieder mitnehmen würde. Seine Frau würde es ihm wegnehmen, wenn er gerade schlief oder auf dem Klo saß und es entsorgen wie seinen Plattenspieler und die Platten. Der Radiorekorder war nur noch da war, weil sie selbst gern Nachrichten hörte.
Hans erklärte ihr die Tasten. „Ich habe meine Nummer schon einprogrammiert.“
Vera ärgerte, wie Hans sich in ihr Leben drängte. Sie würde versuchen, die Nummer später zu löschen. Es lag hoffentlich eine Bedienungsanleitung dabei. Und wenn sie ihn anrufen wollte, wüsste sie seine Nummer, sie hatte sie im Kopf. Ihr Gedächtnis funktionierte besser als seins.
„Und wenn nicht mich, kannst du einen netten jungen Mann anrufen“, erriet Hans ihre Gedanken. „Du hast doch kein Telefon. Dann kann er dich anrufen.“
Hans' Selbstlosigkeit tat Vera weh.
„Nimm es. Damit ich mich sicher fühle, wenn du abends noch ausgehst“, sagte Hans abschließend. Dem Argument konnte sich Vera nicht entziehen. Sie nahm das kleine Gerät und steckte es in ihre Handtasche. Es passte gerade noch hinein, ohne dass ihre Schlüssel das Innenfutter der Tasche durchstachen.
In der Straßenbahn bereute sie, dass sie zu Hans so unfreundlich gewesen war. Das hatte er nicht verdient. Er hatte ihr nur eine Freude machen wollen.
Sandra wohnte ziemlich weit außerhalb, sie musste zweimal umsteigen und das Viertel in dem Sandra wohnte, wirkte verlassen. Jetzt war Vera doch froh über ihr neues Geschenk und fühlte sich sicherer. Sie hörte die Musik schon auf der Straße, als sie mit ihrem Feuerzeug nach der Klingel suchte.
„Du hast dich ja richtig feingemacht“, begrüßte sie Sandra oben an der Tür. „Ich hab dich noch nie in einem so tollen Kleid gesehen.“ In der Hochschule kannte man Vera nur in Hosen. Das schwarze Leinenkleid versteckte ihre 70 Kilo gut, obwohl sie sich eigentlich nicht dick fühlte. Niemand käme auf die Idee, dass in ihrem Rücken zwei Grübchen waren. Aber vielleicht lag es eher an ihrem Hohlkreuz, das die Haut so stark zusammenschob.
Vera kam an der Küche vorbei, in der schon einige Leute auf einer Couch saßen. Ein Mann mit dunklen Locken und einer etwas großen Höckernase lächelte sie an.
„Ich zeig dir erst mal, wo du deine Jacke hinhängen kannst“, sagte Sandra und führte sie in ihr Schlafzimmer, wo sich schon mehrere Jacken auf der Bettdecke türmten.
Vera war noch nie bei Sandra gewesen. Sie hatte sich gewundert, dass sie überhaupt eingeladen worden war. Aber sie hatten sich während der Ausarbeitung ihres Gemeinschaftsreferats angefreundet und gingen manchmal Eisessen nach der Uni.
In der Küche war es dämmrig, Kerzen standen auf dem Fensterbrett und vor einem Spiegel auf dem Kühlschrank. Brennende Herzen schwammen zwischen Rosenblüten in einer Glasschüssel. Daneben Holzbottiche, die mit Salaten gefüllt waren. Es roch nach Knoblauchbaguettes, die frisch aus dem Ofen kamen.
„Da vorne stehen die Teller“, sagte ein Mädchen statt einer Begrüßung und Vera war dankbar, sich mit dem Essen beschäftigen zu können. Sie war etwas nervös, weil sie niemanden kannte. Sandra hatte aus dem Seminar niemanden eingeladen.
Vera nahm ein Pestobrötchen und etwas Salat, dann setzte sie sich neben den Mann mit den dunklen Locken auf die Couch, der einzige Platz, der noch frei war. Die anderen unterhielten sich über den Bau eines Olympia-Stadions und wie man den Kanal für Regatten nutzen könnte. Nur ihr Nachbar war nicht so sportbegeistert und schien erfreut über seine neue Gesellschaft. Alvar hieß er und sie wunderte sich über seinen fremdklingenden Namen. Er studierte ebenfalls Kulturwissenschaften, aber sie hatte ihn noch nie vorher gesehen. Er nannte ihr die Namen der anderen Gäste und erwähnte kurz, woher Sandra sie kannte. Das eine Mädchen hieß Lisa, eine Schulfreundin von Sandra und alleinerziehende Mutter. Ihr Sohn schlief nebenan im Zimmer von Sandras verreistem Mitbewohner.
Vera ärgerte, dass Lisa ständig ihren Rock hoch rutschen ließ und Alvar hin schaute. Lisa lächelte dann. Vera ärgerte sich, weil sie merkte, dass Lisa von Alvar gar nichts wollte und nur fishing for compliments betrieb, wogegen nichts zu sagen war, aber sie hätte sich einen anderen Mann suchen können.
Alvar stand auf. „Darf ich dir ein Glas Wein mitbringen?“ Er war ebenso charmant wie Hans und sie würde Hans von Alvar erzählen, um ihn eifersüchtig zu machen. Alvar lief auf den Balkon und Sandra setzte sich für einen Moment auf seinen Platz. Vera beobachtete, wie Alvar eine Flasche entkorkte, dann gesellte sich eine Frau zu ihm und hielt ihm ihr Glas hin.
Vera erzählte Sandra von der unangenehmen Begegnung am See. Hans ließ sie dabei weg.
„Warum gehst du überhaupt da hin?“, fragte Sandra besorgt.
„Weil es dort schön ist“, sagte Vera „Und weil ich seit Jahren dort schwimmen gehe.“ Vera war überrascht, dass sie log. Aber sie wollte nicht zugeben, dass sie den See erst vor zwei Monaten durch Hans kennen gelernt hatte.
„Der Asi-See? Da hängen doch nur Spanner und alte Leute herum.“, mischte sich Lars ein. Vera war nicht aufgefallen, dass er ihnen zugehört hatte. Sie verstand nicht, warum er die Familien außer Acht ließ. Es gab nicht nur Kleinkinder, die am Wasser Sandburgen bauten, sondern auch Größere mit Luftmatratzen und Inlineskatern. Junge Pärchen und Cliquen, die abends grillten. Aber Lars war wohl selbst nie da gewesen.
„Ziemlich eklig, was man da zu sehen kriegt, versteh nicht, warum man als Spanner ausgerechnet dort hingehen muss“, sagte Tim und grinste Lisa an. „Ich wüsste viel schönere Ecken.“
„Wenn ich solch hässliche Weiber schon sehe.“ Lars tat so, als wäre ihm schlecht. „Nicht nur alt, auch noch fett.“
„Die könnten mit ihren Titten ihre Kerle fast erschlagen.“ Tim tat so, als ob er sich Säcke aus dem Pullover zog und haute Lars damit auf den Kopf. Alvar, der wieder in die Küche kam, fing an zu lachen.
„Bei manchen hängt's schon bis zum Bauchnabel“, ergänzte Lisa.
Und manche können nicht einmal ihre Muschi sehen, hätte Vera punkten können. Aber ihr taten die Frauen mit einer Fettschürze leid, weil sie sich so etwas unpraktisch vorstellte. Hässlich fand sie es nicht. Im Gegenteil, sie bewunderte die Souveränität und die Lebensfreude, mit der manche alten Paare in der Sonne lagen.
„Die Männer mit ihren Bierplauzen sind nicht schöner“, sagte Sandra. „die Frauen haben wenigstens einen Grund.“ Sie schaute Tim an. „Werd' du mal schwanger und bekomm drei Kinder.“ Vera war Sandra dankbar für ihren Einwurf, auch wenn Sandras Kindertick sie meist nervte.
„Der Wein, meine Dame“, sagte Alvar und setzte sich neben sie auf die Lehne. „Entschuldige, dass ich dich so lange hab warten lassen“, flüsterte er Vera ins Ohr und seine Locken kitzelten an ihrer Wange.
Sandra stand auf und holte aus dem Kühlschrank eine Torte. Sie zündete selbst die Kerzen an. „Ich wusste gar nicht, dass sie heute Geburtstag hat“, sagte Vera zu Alvar.
„Sie mag keine Geschenke“, antwortete er und Vera gefiel, dass sie nicht die einzige war, die manchmal damit Probleme hatte.
Vera war sehr betrunken, als sie später in der Bahn saß. Betrunken und irgendwie glücklich. Ein bisschen ärgerte sie sich über die Oberflächigkeit der anderen. Auch Alvar hatte an den falschen Stellen gelacht. Aber irgendwo war jeder oberflächlich, dachte sie versöhnlich. Sie selbst und sogar die alten Leute am See.
Sie würde sich mit Alvar verabreden. Er hatte ihr seine Telefon-Nummer gegeben. Sie hatte nicht zugeben wollen, dass sie die Nummer von ihrem Handy noch nicht wusste. Sie schaute an sich hinunter, der kleine Mayonnaisefleck über ihrem Bauch störte sie nicht. Sie war zu Hans unnachsichtig gewesen, jetzt hatte sie sich selbst bekleckert. Im Kerzenlicht war es nicht aufgefallen und Alvar hatte meist nur in ihre Augen geschaut und ab und zu auf das Glitzern ihrer Perlenketten und die weiche Haut darunter. Vera stellte sich vor, wie schön es wäre, wenn er die Träger ihres Kleids zur Seite schob, um ihre Brüste zu küssen. Ob er sich erschrecken würde, wenn ihre Brüste im Liegen zur Seite kullerten und was ihm zu den Haltegriffen in ihrem Rücken einfiele.
Ihr war aufgefallen, dass alle anwesenden Männer Lisa angeschaut hatten, ihre schmalen Hüften, und keine andere Frau hätte ihren Minirock so hoch schieben können, ohne dass es peinlich ausgesehen hätte. Vera fragte sich, warum. Sandra war hübscher als Lisa, sie hatte ein lieberes Lächeln und tief im Inneren fand Vera sich selbst auch schöner.
Für Momente dachte Vera an Hans. Ob er schon schlief oder allein im Wohnzimmer saß und noch fern schaute, bis er auf die kalte Ehebetthälfte neben seine schnarchende Frau ziehen würde. Sie würde die Couch vorziehen.
Sie fror in ihrer dünnen Jacke und ihr Kleid kam ihr um diese Nachtzeit gewagt vor und sie fühlte sich nackt und verletzlich. Sie schloss alle Knöpfe ihrer Jacke und hielt im Sitzen die Beine gestreckt, damit niemand unter ihren Rock gucken konnte. Aber die meisten waren mit sich selbst beschäftigt, manche hatten die Augen geschlossen. Leute stiegen ein, andere aus.
Vera schaute in die dunkle Fensterscheibe, in der sich das Innere der Straßenbahn spiegelte. Sie erschrak, als sie hinter ihrem eigenem Spiegelbild ein vertrautes Gesicht entdeckte, von dem gewünscht hatte, es nie wieder zu sehen. Der Mann vom See. Hoffentlich würde er sie nicht erkennen. Ihre Locken fielen diesmal nicht über ihre Schultern und ihr Haar war hochgesteckt. Am liebsten würde sie den Sitz hinunterrutschen, aber dann hätte sie sich gleich verraten. Sie traute sich nicht zu atmen, ihr Herz schlug schnell.
Da war wieder dieses Flüstern. Dann hörte sie nur noch seinen Atem. Als wollte er sich nur zu erkennen geben.
Sie saß wie erstarrt und fragte sich, ob er mitbekam, wie ihre Muskeln sich anspannten. Seine Augen waren im dunklen Fensterglas unergründlich und ihre Blicke begegneten sich kurz. Jetzt musste sie umsteigen. Er folgte ihr und stand draußen in ihrer Nähe, zwei Meter zwischen ihnen, niemand beachtete sie beide. Er schaute auf ihre Knie und ließ seinen Blick unter ihr Kleid wandern.
Sie stieg in die nächste Bahn ein. Er setzte er sich wieder hinter sie. Die Bahn war voll, alle kamen von irgendwelchen Partys oder aus dem Spätfilm. Vera war froh, dass sie nicht wie Sandra in einem verlassenen Außenstadtteil wohnte, wo nicht einmal jemand seinen Hund ausführte. Sie hoffte noch, er würde aussteigen, wusste, er würde das nicht machen. Sie überlegte nach vorn zu gehen, sich in die Nähe des Fahrers zu setzen. Aber es war die letzte Bahn in dieser Nacht, und was sollte sie an der Endstelle. Der Fahrer würde nach Dienstende nach Hause fahren. Er würde ihre Angst ebenso wenig ernst nehmen, wie der Beamte in der Polizeistation am See.
Jetzt strich er, ihr unbekannte Verfolger, über ihren Hals, vorsichtig, sie beugte sich nach vorn und er zog, als wollte er sie dafür strafen, seinen Finger unsanft über ihren Nacken, sie spürte die Schärfe seines Fingernagels auf ihrer Haut, die Spur, die er hinterlassen hatte. Vera stand auf und lief zur Tür; sie stand lieber die weitere Fahrt.
Sie stieg aus. Es waren noch genügend Leute um sie herum.
Das Flüstern. Da waren die Platanen, die Laternen spiegelten sich in den Blättern, Licht fiel durch die Blätter, Lichtkegel auf den Boden.
Vera sprach eine andere Frau an, sie bat um Hilfe, die andere schaute sie verwirrt an, half ihr aber doch und begleitete sie zum Studentenwohnheim.
Die andere wartete einen Moment, bis Vera hinter der Glastür verschwunden war. Vera hatte für einen Moment ein schlechtes Gewissen. Was wäre, wenn sie die andere in Gefahr gebracht hatte? Aber der Mann schien nur auf sie fixiert zu sein, versuchte sie sich zu beruhigen.
Später im Bett dachte sie an Hans und an Alvar und an den Unbekannten.
Dann fiel ihr auf einmal ihre Wäsche ein, die noch unten im Wäscheraum in der Maschine lag. Das konnte man nicht von ihr verlangen, noch mal in den Keller zu gehen. Wenn der Verfolger noch im Haus wäre. Der nächste Maschinenbenutzer würde ihre Laken herausholen und auf den Deckel legen, bevor er seine eigene Schmutzwäsche einfüllte. Sie sollte sich keine Gedanken machen.
Vera wollte am nächsten Morgen lieber weiterschlafen. Es war eine dumme Idee gewesen, sich schon um halb acht mit Sandra im Bäckereicafé zu treffen. Vor allem nach einer Party. Aber sie mussten noch etwas an ihrem Referat besprechen. Vera trank nur schnell ein Glas Milch und tupfte etwas Abdeckcreme auf die Schatten unter ihren Augen. Im Aufzug betrachtete sie sich noch mal im Spiegel und steckte ihre Haare hoch, ihr Handy in der linken Hand, ihre Fahrradpumpe zwischen den Zähnen.
Als erstes ging sie in den Waschraum und füllte ihre Sachen in einen Plastikkorb; sie würde sie am Nachmittag noch mal waschen.
Dann lief sie zum Fahrradkeller. Sie wunderte sich, dass die Tür auf war. Hatte wieder jemand vergessen, sie abzuschließen? Sie hoffte jedes Mal, ihr Rad wäre in Ordnung. Das Letzte war aus dem Keller gestohlen worden. Einmal hatte jemand ihr Vorderrad abmontieren wollen, aber sie hatte den Dieb auf frischer Tat ertappt. Diesmal hoffte sie, dass nur das Ventil geklaut war, ein Ersatzstück hielt sie in der Hand. Ihr Hinterreifen war tatsächlich platt. Sie musste ein paar Fahrräder zur Seite tragen, dann konnte sie anfangen zu pumpen. Sie legte Tasche und Handy neben sich auf den Betonboden.
Sie hatte ihn nicht bemerkt, ihn, ihren Verfolger in der Nacht. Es war mehr eine Ahnung, wie ein leiser Luftzug, der ihren Nacken streifte und sie drehte sich vorsichtig um. Um diese Zeit war kein anderer Student im Keller, niemand ging um sieben aus dem Haus. Sie legte vorsichtig die Pumpe aus ihrer Hand.
Er sah fast niedlich aus, wie er die Augen geschlossen hatte, die Arme um seine Tasche gelegt, den Kopf auf seinen zusammengerollten Pullover gelegt. Er hatte die ganze Nacht hier verbracht, in diesem Keller, in einer Lücke, wo keine Räder standen. Warum? Er konnte nicht wissen, dass sie morgens mit dem Fahrrad unterwegs sein würde. Vielleicht hatte er nur übernachten wollen, um dann vom Keller aus die Eingangstür zu beobachten, wenn sie morgens aus dem Haus gehen würde.
Sie hatte Angst, ihn zu wecken. Aber da lag noch ihr Handy auf dem Boden und daneben ihr Schlüsselbund, der im Bügelschloss des Fahrrads steckte. Vorsichtig lief sie zurück, stolperte aber über die Luftpumpe, die ein Stück zur Seite gerollt war.
Von dieser winzigen Unachtsamkeit wurde er wach.
Er sah sie.
Er brauchte nicht lange, um aufzustehen.
Sie bückte sich und hob das Handy auf.
Und sie schaffte es noch, die eingespeicherte Nummer zu wählen.
„Hans, hier ist Vera, ruf die Polizei“, war das einzige, was sie noch sagen konnte, als sie an den Haaren gerissen wurde. Das Telefon fiel ihr aus der Hand, er versuchte sie zu Boden zu drücken, mit dem Kopf stieß sie an die Speichen ihres Rads. Hinter ihm stürzten einige Räder um. Er hatte sie versehentlich gestreift. Das plötzliche Gewicht ließ seine Knie einknicken und er fiel nach vorn. Vera schaffte es, schnell unter ihm hinweg zur Seite auszuweichen und stand auf. Sie lief über sich am Boden drehende Reifen und hoffte, nicht mit ihrem Absätzen in irgendwelchen Speichen hängen zu bleiben. Sie stürzte aus dem Keller, den Flur hinunter ins Treppenhaus. Vor der Glastür drohte er, sie einzuholen, aber sie schaffte es noch rechtzeitig, ihm zu entkommen.
Der Aufzug stand nicht unten. Sie konnte unmöglich auf ihn warten. Sie stürzte die Treppen hinauf. Ihre Kondition war gut, sie konnte kaum glauben, dass sie schneller war. Im zweiten Stock hatte sie Glück, die Aufzugtüren waren auf. Verzweifelt drückte sie auf die sieben. Sie hoffte, die Türen würden sich schnell schließen. Er kam, aber er schaffte es nicht mehr, seinen Fuß in die Tür zu stellen. Der Aufzug fuhr an. Vera drückte den Alarmknopf. Ein verschlafen klingender Techniker meldete sich.
„Sie müssen mir helfen.“
„Ich kann den Aufzug hören, Sie sind nicht steckengeblieben“, kam es zweifelnd aus der Sprechanlage.
„Ich werde von einem Mann verfolgt“, sagte Vera und wusste, dass es sich lächerlich anhörte. „Ich konnte mich gerade noch in den Aufzug retten.“
„Bleiben Sie dort. Steigen Sie keinesfalls aus. Ich werde tun, was ich kann.“ Er versprach, die Polizei zu verständigen. Dann würde er sich wieder melden.
Vera schaute auf die Uhr. Sie fragte sich, wie lange die Polizei brauchte, um zu kommen. Vielleicht hatte Hans sie schon erreicht. Wenigstens war durch den zweiten Anruf ihr Aufenthaltsort besser lokalisiert.
Sie drückte die vier, dann die elf. Sie traute sich nicht auszusteigen. Gab es vielleicht eine Bremse, mit der man die Kabine von innen anhalten konnte? Sie sah nur die Nummern und den Alarmknopf. Vielleicht konnte der Techniker den Aufzug anhalten?
Sie fragte sich, wie lange es dauern würde, bis ihr Verfolger zustieg. Eigentlich hätte er sie längst erwischen müssen. Vielleicht war er zu ihrem Rad zurückgekehrt und hatte ihren Schlüssel aus dem Bügelschloss gezogen?
Was wäre, wenn die Polizei längst da war? Und ihr Verfolger verschwunden? Die Polizeistation Süd war nur drei Straßen entfernt. Er könnte sie Stunden später wieder belästigen und dann war niemand da, um ihr zu helfen. Sie musste die Chance nutzen, dass man ihn auf frischer Tat ertappte.
Ihr fiel einer von Hans' Lieblingssprüchen ein: Du sollst dem Geld nicht hinterherlaufen. Man muss ihm entgegentreten. Das war von Onassis und ließ sich auch auf andere Dinge anwenden. Sie würde nicht darauf warten, dass ER sie überraschte. Sie lehnte ab, die Verfolgte zu sein. Sie würde im Erdgeschoss aussteigen. Sie würde ihm entgegentreten.