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Gourmetsalat
Mein Mitbewohner war verschwunden. Spurlos verschwunden, seit drei Tagen. Keine Anrufe, keine Nachrichten. Erst dachte ich, er hätte vielleicht einen Wagen gemietet und sich in den Staub von Vegas aufgemacht. Ohne eine Notiz zurückzulassen. Er könnte von einer Gruppe verzweifelter Mexikaner, versteckt in der Garage, überfallen worden sein... so etwas passiert hier andauernd. Vielleicht war er während einer seiner langen nächtlichen Spaziergänge einfach umgelegt worden. Würde irgendjemand anrufen, nachdem er gefunden worden war? Selbst wenn er tot auf dem Bürgersteig direkt vor dem L.A.P.D. (Los Angeles Police Department) läge... sie hätten nichts über ihn außer dass er Asiat war, 1,75m groß, Akne hatte und lange Haare, ein Typ Ende Zwanzig oder Anfang Dreißig, in überwiegend schwarzen Klamotten; er trug fast nie irgendeine Form von ID bei sich. Vielleicht lag er irgendwo in einem Krankenhausbett, ohne Bewusstsein oder im Koma. Ich wusste gar nicht, was ich von der ganzen Sache halten sollte, ob ich überhaupt irgendetwas deswegen fühlte; ich wusste nur, dass mein Mitbewohner ohne jede Spur verschwunden war.
Ich nenne ihn meinen Mitbewohner, aber es war Kevin, der die Miete bezahlte. Ich wohnte seit ein paar Wochen mit in seinem Apartment. Kevin schuldete mir einen Batzen Kohle, und ich hatte es für ein gutes Zeichen gehalten, als er vier Monate zuvor anrief und mich einlud, nach L.A. zu kommen und bei ihm zu wohnen. Er meinte, ich solle ihm helfen, das amerikanische „Büro“ irgendeiner koreanischen Internetfirma aufzubauen. Faselte sich irgendwas zusammen von wegen, ich könnte zum Juniorpartner werden. Die ganze Zeit hatte ich leblos in San Francisco verbracht, völlig pleite. Alles, was ich besaß, waren meine versifften Klamotten, einen Ghettoblaster, eine verstimmte Akustikgitarre und ein paar gebrauchte Bücher. Die Miete für mein schimmeliges Zimmer verschluckte jeden Dollar, den ich durch gelegentliche Jobs verdiente. Oft hatte ich mein Essen zusammengeklaut, meistens in dem Whole-Food-Laden Ecke Van Ness und California. Die haben ein unglaubliches Salatbuffet. Ich stolperte einfach immer durch den Ausgang an der kleinen Grünpflanzenecke vorbei, den irren Blick eines Botanikfreaks mit einem leicht verkifften Grinsen kombiniert im Gesicht und fünf Pfund frischester und gesündester Verzückung unter der Jacke gegen meine Brust gedrückt. Ich schlenderte dann den sonnenverklecksten Sidewalk hinunter und warf den anderen Fußgänger zufrieden lächelnde Blicke zu. Ich war stolz darauf, wie jemand zu wirken, der sich riesige, schweineteure, rein organische Gourmetsalate vom Whole-Food-Store leisten konnte. Auf dem Weg nach Hause kam ich immer an dieser großen alten presbyterianischen Kirche vorbei, sprach ein kleines Gebet, dankte dem Whole-Food-Store dafür, dass er mich durchbrachte und entschuldigte mich in der würdevollen Art, in der sich primitive Jäger bei ihrer chancenlosen Beute entschuldigen. Hatte ich mal in einer Dokumentation gesehen. Ist aber auch völlig irrelevant. Ich war in S.F. also total pleite und auch sonst ziemlich neben der Spur. Nahm Kevins Angebot der Arbeit und Unterkunft sofort an und trampte nach Koreatown, Los Angeles, in der Hoffnung, wenigstens einen Teil meines Geldes wiederzusehen. In der Hoffnung, er hätte sich endlich geändert.
Hatte er aber nicht. Ich fand ihn dünn vor – dünner als ich –, eine ausgehöhlte, vertrocknete Version seiner selbst. Schwach, krank, eine einzige Misere. Im Laufe des Tages erhob er sich ein paar Male weg von irgendeinem Computerspiel oder seinem Futon, ging hinüber zu der kleinen Küchenzeile, ließ Wasser laufen und kotzte in die Spüle. Ließ Wasser laufen. Hustete. Kotzte wieder. Schien ihn überhaupt nicht mehr zu kümmern. Während er schlief, brauten sich die Säfte in seinen Innereien zusammen, gärten, ein Zischen wie das eines Kaffeeautomaten kam aus seiner Brust. Sogar im Schlaf hustete er, immer für etwa eine Stunde, bis er aufwachte, aufstand, und wieder kotzte. Er war irgendwie an eine Videokamera gekommen und begann, sich dabei zu filmen. Gefiel ihm irgendwie. Ich glaube, es befriedigte ihn, die Beobachtungen die er dabei machte, mit anderen zu teilen, die leichten Veränderungen des immerwährenden Kotzstroms – wie ein Seemann, der die sich immer wechselnde See observiert – heute ein bisschen heller, diesmal dickflüssiger, guck was passiert, wenn ich Möhren esse... Er fand es immer spannender, sich selbst im Fernsehen dabei zuzusehen, rief mich jedes Mal, wenn er bereit für die Spüle war. Er rief Hol die Kamera! oder Jetzt geht’s los! oder Drück auf Play! Ich kommentierte das Ganze mit der Stimme irgendeines Bekannten namens Jamie, und er spielte sich selbst, sein eigenes Leben spielend. Irgendwann hörte ich auf, ihn zu filmen. Er kotzte weiter. Es war entweder Krebs oder ein Geschwür, hatte der Doktor gesagt, selbst nicht so genau wissend, was eigentlich los war, und Kevin fand immer wieder eine neue Ausrede, um nicht die lange Busfahrt in eine der Sozialkliniken für kostenlose Behandlungen auf sich nehmen zu müssen. Es ging kein Tag in dem kleinen, mit weißem Teppich ausgelegten Apartment vorüber, an dem er nicht davon sprach, sich umzubringen oder irgendwie zu sterben. Manchmal leuchteten seine Augen auf während er bedrohlich flüsterte, er würde sich und die Leute um ihn herum mit einer Knarre umlegen. Es ging immer um die Knarre, die er bereits besorgt hatte, oder die, der er besorgen wollte – er ließ das im Ungewissen, wie immer, wie alles an Kevin.
Wie bereits erwähnt, schuldete er mir eine Menge Kohle, und vielleicht drohte er mir deshalb manchmal damit, mich umzulegen. Ihm missfiel der Gedanke, bei mir in der Kreide zu stehen. Ich glaube, ein Teil von ihm wollte mir das Geld zurückzahlen, irgendwie, irgendwann, aber gleichzeitig hasste er mich dafür, dass er mir etwas schuldete. Manchmal tat er sogar so, als wäre alles meine Schuld; Kevin hatte ein unglaubliches Talent für psychologische Projektionen. Mal so als Beispiel, ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, dass Kevin eine Spur des Chaos hinter sich herzog, trotzdem warf er mir einen „chaotischen Lebensstil“ vor. Er behauptete, ich hätte absolut keine Ahnung über mich selbst, dabei war er es, dem es an Selbstkenntnis und der Fähigkeit, sich mit dem eigenen Spiegelbild zu konfrontieren, fehlte. Und obwohl er mir mehr Geld schuldete, als er mir hätte zurückzahlen können, und obwohl ich immer (oder fast immer) sehr großzügig und verständnisvoll mit dieser Tatsache umging, tat er immer so, als wäre es ein riesiger Gefallen von ihm, mir zum Beispiel einen Becher Kaffee bei Starbucks zu spendieren, die Miete zu bezahlen, irgendwelche Lebensmittel einzukaufen, die er selbst wegen seiner Krankheit sowieso nicht essen konnte oder mit winzige Beträge als „Taschengeld“ zu geben. Dollar für Dollar, als sei er der großzügige Dealer und ich der abhängige Junkie, glitten seine Finger in seine Hosentasche und zogen theatralisch einzelne Scheine aus seiner schwarzen, glänzenden, mit Las Vegas Kasinokarten vollgestopften Brieftasche. Er gab mir ein paar Scheine, tat dann auf einmal so, als wäre das ganze eine selbstverständliche Lappalie, ein ganz normaler Gefallen, und manchmal war selbst ich davon überzeugt, dass ich es war, der ihm irgendwie etwas schuldete.
Aber nie gab er mir mehr als zwanzig Dollar. Und ich konnte die Tatsache nicht übersehen, dass er mich mit der ganzen Sache kontrollierte, um wenigstens eine Spur von Macht zu haben. Und irgendwie gab ich auch immer nach. Ich ließ ihn sagen, was auch immer er sagen wollte, ließ ihn über mich lachen, bis er mir endlich einen winzigen Teil der Kohle gab. Meine Kohle, mein Geld. Meine verfickten achtzigtausend Dollar.
Auf jeden Fall war Kevin dann auf einmal weg, seit drei Tagen wie vom Erdboden verschluckt, und ich machte mir ehrlich gesagt weniger Sorgen um ihn als um die Tatsache, was jetzt mit mir passieren würde. Zusammengenommen hatte ich 5 verknitterte Dollar in meinen Hosentaschen, Pennies noch nicht mitgezählt. Die Miete würde bald fällig sein.
Am nächsten Morgen trat mir in einer fast hypnotisierten (eigentlich würde man sagen in einer durch Alphagehirnströme langsameren und verträumteren Aufwach-) Phase der Gedanke um die Signifikanz der Zahl Vier vor Augen. Ein paar Jahre zuvor war ich in Japan und Korea in Aufzügen gewesen, die keinen Knopf für den vierten Stock aufwiesen. Es gab keinen vierten Stock. Man fuhr direkt vom Dritten in den Fünften. Ich sah mich selbst in einer Vision, neben einem japanischen Geschäftstypen im Aufzug stehend und danach fragend, warum es keinen vierten Stock gab. Er lachte nur laut auf und meinte, Oh! Du wirst noch genug Zeit zwischen dem dritten und fünften Stock verbringen!, als ob die Toten anstatt zwischen Himmel und Hölle im vierten Stock auf Erlösung warteten. Jedenfalls hatte ich schon ein mulmiges Gefühl aufgrund der Tatsache, dass Kevin jetzt seit vier Tagen nicht wieder aufgetaucht war.
Doch dann bekam ich später am Nachmittag eine fast kryptische Email von ihm:
FROM: temple13@hotmail.com
TO: chacharoni@hotmail.com
SUBJECT: (none)
Alter, habe schlechte Nachrichten...duck dich, ganz tief, und bereite dich SOFORT auf eventuelle Invasion vor...und such Dir ne andere Bude.
Ich antwortete:
FROM: chacharoni@hotmail.com
TO: temple13@hotmail.com
SUBJECT: Um...
Wo bist du? Kommst du wieder?
Spätabends bekam ich seine Antwort:
SUBJECT: Re: Um...
Vielleicht, keine Ahnung wann...Ted hat mich kontaktiert...einige sind am rumschnüffeln...es ist der Dicke, sieh zu, dass du nicht in seine Finger gerätst...
Noch so eine lächerliche Email. Ted existierte überhaupt nicht. Kevin benutzte den Namen als Deckmantel, wenn irgendwas ‚mal schief gehen sollte’. Ted war reine Fiktion, eine Lüge. Und ‚der Dicke’ war unser Ausdruck dafür, dass es Zeit war, sich aus dem Staub zu machen. Ich tippte eine Antwort und klickte auf Senden:
SUBJECT: Re: Re: Um...
Was ist mit dem Dicken? Ist er okay, wo ist er jetzt? Und was soll ich mit der Wohnung machen? Ganz nebenbei, Ted habe ich nirgendwo gesehen.
Eine merkwürdige Unruhe wehte durch meine Brust und ich durchstreifte unruhig die Wohnung. Es gab kaum Möbelstücke außer den beiden Computern – der eine auf einer koreanischen Kommode, der andere auf dem Fußboden – einem Bürostuhl und unseren beiden Futons. Es würde nicht schwer sein, einfach abzuhauen; ich konnte die Computer verkaufen, hätte genug Geld, um für eine Weile bei Freunden unterzukommen. In Situationen wie diesen denkst du dir halt, Na ja, ist ja nur für ein paar Monate, wird schon gehen... Wenn ich dem Leben nur noch ein paar gute Monate abgewinnen kann... Dann wurde mir klar, dass ich die ganze Sache zu sehr dramatisierte. Ich würde schon klarkommen, ganz egal, was mit Kevin passiert war. Rauchte mir einen Joint, surfte bis spät in die Nacht im Netz und checkte keine Mails mehr.
Ein oder zwei Wochen verbrachte ich so. Schlafen, aufstehen, einkaufen – nach ein paar Tagen klauen – Videospiele, ein bisschen Gras, wieder Schlafen. Nach dem dritten Anruf des Vermieters begann ich erneut, mir Sorgen zu machen, war schon so gut wie unterwegs zur Wohnung eines Bekannten, suchte nur noch die Wohnung nach verirrten Vierteldollarmünzen ab, als ich das Loch in der Wand hinter der Kommode bemerkte. Fein säuberlich mit Tapete abgeklebt, Gott weiß, woher er ein Stück der selben Sorte aufgetrieben hatte. Mehrere Minuten kauerte ich davor, strich mit den Fingerkuppen über den geklebten Rand, drückte leichte Dellen in die Mitte des Rechtecks – und stieß schließlich mit der Faust hindurch. Meine Hände ertasteten die abgegriffene Weichheit, die sie in solchen Ausmaßen schon seit Ewigkeiten nicht mehr gefühlt hatten. Geld. Mein Geld. Dachte ich zumindest.
Den gesamten Tag betrachtete ich es, ausgebreitet auf dem Futon vor mir. Keine achtzigtausend Dollar, nein... viel, viel mehr. Irgendwann, vielleicht Stunden später, richtete sich mein Blick von den Bündeln weg auf den Computer. Kevins Emails schossen mir durch den Kopf, sein plötzliches Verschwinden, die Geheimnistuerei... dann die wenigen Worte, die wir über jene ominöse Internetfirma gewechselt hatten, Kevins abweisende Miene, sein plötzlich auffällig geringes Interesse an dem Job. All dies ergab jedoch keinen Zusammenhang, brachte keinerlei Erklärung für den fetten Batzen Kohle, die er in seinem Apartment versteckt hielt. Warum verstecken, warum kein Bankkonto, Schließfach, oder was auch immer es für Möglichkeiten gab, Geld verschwinden zu lassen?
Hunderte von Gedanken schwirrten mir durch den Kopf, Möglichkeiten, Ideen, Vermutungen. Sie alle schwirrten umher, schwirrten davon, was blieb, war ein fettes Grinsen in meinem Gesicht. Wozu machte ich mir eigentlich all diese Gedanken? Kevin schuldete mir etwas, und dies war seine Art und Weise, es mir zurückzugeben. Der Penner brachte es nicht fertig, mir das Geld in die Hand zu drücken und mir dabei noch ins Gesicht zu sehen. Stattdessen hatte er diese ganze Situation inszeniert, war verschwunden, ohne mir Geld dazulassen, hatte in diesen lächerlichen Mails Panik verbreitet, in der Hoffnung, ich würde die Wohnung nach jeder erdenklichen Form von Geld absuchen und dabei meines Eigentums fündig werden. In der Summe hatte er sich geirrt, war wohl Kevins Art, sich für die verspätete Rückzahlung zu entschuldigen. Das Bild wurde immer eindeutiger, je mehr Gras ich rauchte. Der sensible Kevin, der es nicht übers Herz brachte, seinem alten Kumpel Jamie die Kohle einfach in die Hand zu drücken. Ihm noch einmal für das Darlehen zu danken, einzugestehen, wie lange er tatsächlich bei ihm in der Kreide stand.
Was für ein Freund, dachte ich, als ich die Kohle in meinem alten Rucksack verstaute, der Wohnung einen liebevollen Lebewohlblick schenkte und mich in Richtung Busstation aufmachte. Wo auch immer er im Moment war, ich hoffte, es war ein ebenso schöner Augenblick für ihn wie für mich, als ich über die Hügel Hollywoods blickte und in Gedanken bereits die angenehmen Wellen irgendeines Pools auf meiner Haut spürte.