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Gottverlassen
Es gab keine richtigen Engel. Zumindest war keiner von denen, die ich kannte, auch nur ansatzweise besser als irgendein beliebiger Mensch. Sie mochten vielleicht hellblonde, lockige Haare und prächtige Flügel haben, aber die Vollkommenheit hatten sie deswegen noch lange nicht gepachtet. Manche von ihnen waren sogar ziemliche Idioten.
„Warum genau hat dir Elias nochmal das Auge zermatscht?“, seufzte ich, während ich daran verzweifelte, die Wundsalbe so aufzutragen, dass es nicht wehtat. Schon wieder zuckte Fynn merklich zusammen, und ich gab meine Bemühung, vorsichtig zu sein, auf. Besser, wenn er es schnell hinter sich brachte. Die direkte Folge meines Sinneswandels war, dass er sein Gesicht wegzog.
„Wow, da hat ja heute jemand Samthandschuhe verschluckt. Und um das klarzustellen: Elias hat mich nicht zusammengeschlagen, er hat mich höchstens ein wenig…touchiert.“
Als ich seinen Kommentar mit einer hochgezogenen Augenbraue quittierte, erklärte er weiter: „Eigentlich die alte Leier: Mein Vater ein Verräter, ich seine scheinheilige Brut.“
Und ich hatte fast schon daran geglaubt, dass den Anderen möglicherweise auch hin und wieder neue Gründe einfallen würden. Aber solange es einen Sündenbock gab, war ja alles in bester Ordnung. Leider hatten sie nicht völlig Unrecht. Fynns Vater hatte Mitglieder seiner eigenen Spezies an Menschen ausgeliefert, um seine Haut zu retten. Zwanghaft hatte er versucht, Teil der menschlichen Gesellschaft zu werden. Dass sein eigener kleiner Sohn so unangenehm hervorstach, machte ihm zu schaffen. In seiner Verzweiflung begann er, den Flügeln seines siebenjährigen Kindes die Blutzufuhr abzuschnüren. Meines Wissens nach war das letztendlich der Grund, warum Fynn von dort abgehauen war.
„Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, breche ich Elias die Nase.“
„Mal abgesehen davon, dass es noch etwas länger dauern wird, bis du mit dem dicken Auge überhaupt wieder irgendetwas sehen kannst, wirst du das nicht tun. Du weißt ganz genau, warum Elias das macht.“
Elias. Seine Eltern waren nur zwei von vielen Aktivisten gewesen, die gleiche Rechte für Menschen und Engel forderten. Zuerst waren die Demonstrationen friedlich geblieben, doch die Menschen hatten ihre Gründe, um uns zu hassen. Bei dem Hinterhalt, in den Fynns Vater verwickelt war, starben tausende von Aufständischen.
„Versprich mir einfach, dass du nicht versuchen wirst, ihm die Nase zu brechen.“ Das Brummen, dass als Antwort aus Fynns Kehle kam, nahm ich der Einfachheit halber als ein Ja. Die beiden waren 20 Jahre alt und benahmen sich immer noch, als wären sie 12. Ich stand auf und ging aus der Scheune heraus in Richtung des Hauses. Als ich mich noch einmal umdrehte, wirkte der schmollende junge Mann auf dem Strohballen tatsächlich eher wie ein Schuljunge.
„Na Geburtstagsprinzessin?“, hörte ich eine brüchige, aber lebensfrohe Stimme hinter mir sagen.
Meinen Geburtstag hatte ich komplett vergessen. Nun waren es also genau 19 vollkommen öde Jahre meines Lebens. Hallelujah.
Samson hatte, im Gegensatz zu mir, trotzdem daran gedacht. „Lass doch bitte für einen kleinen Moment das dreckige Geschirr liegen, das kann auch noch später gewaschen werden.“ Ich drehte den Wasserhahn zu und trocknete meine Hände ab. Wenn es Heilige gab, dann war Samson auf jeden Fall einer von ihnen. Anders als die meisten Menschen hielt er es für seine Pflicht als guter Christ, den Engeln gegenüber gastfreundlich zu sein. Ich hielt es für bescheuert, wollte mich aber nicht beschweren. Engel erinnerten Menschen tagtäglich daran, dass selbst ihr eigener Gott die Hoffnung aufgegeben hatte. Die Menschheit war von Gott verlassen worden, und Folge davon waren die gefallenen Engel. In seiner naiven Art hatte Samson begonnen, Engelswaisen aufzunehmen. Zu seinem Glück war die Gegend, in der er lebte, sprichwörtlich gottverlassen. Hätte er in der Stadt versucht, eine Horde nerviger Engeln zu verstecken, hätte er wahrscheinlich schon vor Jahren das Zeitliche gesegnet.
„Ich hab was für dich. Nur eine Kleinigkeit.“ Unbeholfen zog er einen zerknitterten Zettel aus der linken vorderen Tasche seiner braunen Cordhose. Seine Hand zitterte leicht, aber das tat sie immer. Ich nahm das ausgeblichene Papier in die Hand. „Was ist das?“
„Den Brief hat deine Mutter hier verloren, als sie dich herbrachte“, erklärte er. „Es ist nur irgendeinen Gasrechnung, aber es ist doch besser als nichts, oder?“ Er lächelte unsicher.
Irgendwie war es niedlich. Natürlich konnte ich mit dem Brief rein gar nichts anfangen, aber die Geste war lieb gemeint. Ich umarmte ihn. „Danke Samson.“
Ich sah mir das alte Stück Papier genauer an. Wahrscheinlich hätte es mir wichtig sein müssen, aber das war es nicht. Meine Mutter hatte einen Fehler gemacht und die daraus entstandene Konsequenz - mich - aus ihrem Leben verbannt. Als die Engel fielen und die Aufstände begannen, war sie Anfang 20, hübsch und naiv gewesen. Vielleicht hatte sie es deshalb für eine gute Idee gehalten, ihren Eltern zu zeigen, wie rebellisch sie war, indem sie mit einem Engel schlief. So rebellisch war sie anscheinend doch nicht, dass sie ihr bisheriges Leben für mich aufgegeben hätte. Gedankenversunken schlenderte ich aus dem Haus heraus, die Sonne schien mir entgegen.
„Hey!“
Jetzt bloß nicht umdrehen.
„Bist du jetzt auch noch taub, Missgeburt?“
Das war zu viel. Als ich die Fäuste zusammenballte, spürte ich, wie der Brief in meinen Händen zerknüllte. Ich bewegte mich keinen Millimeter mehr, sondern blieb einfach stehen. Einatmen. Ausatmen. Mein Puls verlangsamte sich, ich wurde etwas ruhiger. Und dann lag ich mit dem Gesicht im Dreck.
„Entschuldige, ich hab dich da gar nicht stehen sehen,“ säuselte Elias. Seine Stimme zitterte vor Lachen bereits. „Wow, braun steht dir. Es unterstreicht deinen…Charakter.“ Es war bescheuert, wie er über seine eigenen Witze lachte. Und es war bescheuert, das die Anderen ihn anscheinend auch noch lustig fanden. Wow, ich war von Idioten umzingelt.
„Am besten du bleibst da einfach noch ein bisschen liegen. So ungefähr für immer.“
Ich rieb mir Sand aus den Augen und sah, wie Fynn auf mich zu eilte. „Alles Okay?“ Ich nahm die Hand, die er nach mir ausstreckte, und zog mich hoch. „Hab mich nie besser gefühlt.“
„Sehet an, was ein komisches Pärchen. Der Verräter und die Missgeburt. Ihr verdient euch echt. “ Ich schloss die Augen, denn ich wusste ganz genau, was jetzt passierte. Knack. Das war Elias Nase. Dann ein stumpfes Geräusch. Jetzt lag Fynn auf dem Boden. Ich öffnete meine Augen wie in Trance. In der Peripherie sah ich, wie die anderen auf Fynns gekrümmten Körper eintraten, aber mein Blick blieb an dem Brief hängen, der sich noch immer in meiner Hand befand. Immer wieder las ich die Adresse auf dem Brief, einfach um mich abzulenken. Die Kleinstadt, an die der Brief adressiert worden war, war nur eine halbe Stunde von hier. Ich wollte meine Augen nicht abwenden, sog die Schrift in mich auf. Im Hintergrund brach ein Knochen, wahrscheinlich eine Rippe oder ein Arm oder so. Und dann, einfach so, rannte ich los.
Hausnummer 53, Nummer 55, Nummer 57. Da war es. Während ich gelaufen war, hatte ich tausende verschiedene Dialoge zwischen meiner Mutter und mir erdacht, in denen ich sie anschrie, ihr weinend in die Arme fiel oder wir gemeinsam in ein schallendes Lachen ausbrachen. Jetzt, wo ich tatsächlich vor der Tür stand, drängte sich mir plötzlich eine ganz andere Frage auf: Was, wenn sie umgezogen war und dort jemand andere wohnte? Was, wenn sie mich nicht erkannte? Und noch bevor ich mir selbst über meine Tat bewusst wurde, drückte mein Finger wie automatisch auf die Klingel, die an dem prächtigen, mit Efeu überwucherten Altbau aus Backstein befestigt war.
Ich wartete eine Weile, dann klingelte ich erneut. Und gerade als ich mich umdrehte und zum Gehen wandte, öffnete sich die Tür. Mein Kopf sah zurück, und ich starrte in meine eigenen Augen.
„Mom?“
Die Frau, die mir gegenüber stand, wirkte nicht wütend. Sie lachte oder weinte auch nicht. Nein, ihr Gesichtsausdruck drückte etwas ganz andere aus, und es brach mir das Herz: Gleichgültigkeit.
„Geh weg. Du bist hier nicht willkommen.“
„Fynn? Fynn, wach auf!“ Ich rüttelte energisch an der Schulter des jungen Mannes.
„Verdammt, Marla. Wo bist du gewesen?“ Er richtete sich auf. Eine halb verheilte Platzwunde an seiner Schläfe sah nicht besonders gut aus.
„Ich weiß jetzt, was wir tun müssen.“ Ich war mir sicher. Wir wurden hier, auf der Farm, nicht anerkannt, weil wir keine richtigen Engel waren. Ich sah nicht wirklich aus wie ein Engel: Meine Flügel waren zu klein, meine Haare zu dunkel. Und Fynns Flügel waren während Wachstumsphase abgeschnürt worden, sodass sie verkümmert aussahen. In der richtigen Welt wollte uns jedoch auch niemand haben, weil wir keine echten Menschen waren. Aber das ließ sich ändern.
„Hier. Du zuerst bei mir.“ Ich gab Fynn das große Messer, das ich aus der Küche hatte mitgehen lassen und begann, mein Shirt auszuziehen. „Ich hab auch Nadel und Faden dabei. Sobald wir fertig sind, packst du deine Sachen zusammen und wir verschwinden. Wir suchen uns einen Job oder sowas, das wird nicht so schwer sein.“
„Bist du dir sicher, dass du das aushältst?“ Ich nickte nur starr, während ich auf den Schmerz wartete. Er setzte das Messer am Ende meines linken Flügels an.