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Gottgeschichten - 02: Die Höchststrafe
Josephus saß in der Tinte. Die Seraphim führten ihn in den himmlischen Gerichtssaal, der aus allen Nähten platzte. Die Engel drängten sich auf den Zuschauerwolken; niemand wollte diesen Prozess verpassen. Josephus nahm auf der Wolke für Angeklagte Platz. Sein Verteidiger, ein umtriebiger Engel namens Oscar Wilde, setzte sich neben ihn. Ein Raunen ging durch die Menge, als die Anklägerin erschien, Johanna von Orleans. Sie maß Josephus und seinen Anwalt eines geringschätzigen Blickes und setzte sich würdevoll auf die Wolke des Staatsanwalts. Plötzlich erhellten Blitze den Gerichtssaal. Ein Gewitter mit brüllendem Donner und gewaltiger Lightshow. Das Feuerwerk erreichte seinen Höhepunkt und aus einem gleißend hellen Licht materialisierte sich der Richter. Gott hasste diese Effekthascherei, doch auf der anderen Seite wollte er seine Fans nicht enttäuschen. Das Publikum war ekstatisch. Der Himmel toste vor Beifall. Dann sprach der Herr: "RUHE BITTE! RUHE IM SAAL!” (Gott spricht grundsätzlich in Großbuchstaben. Die Kleinschreibung hat er nie gelernt. Gott ist Legastheniker, doch das fällt niemandem auf, denn jeder hält es für ein geniales Stilmittel).
Die Menge beruhigte sich, nur die jüngeren weiblichen Engel hielten noch brennende Feuerzeuge hoch. Gott schwang einen mächtigen Hammer und liess ihn mit solcher Wucht auf den Richtertisch knallen, dass Kalifornien, das sich zufälligerweise gerade unter ihm befand, von mittleren Erdbeben heimgesucht wurde und in der Südsee ein Vulkan ausbrach. Das tat ihm jetzt auch wieder Leid, aber er war nun mal ein Freund großer Gesten: "HIERMIT ERÖFFNE ICH DEN PROZESS, DIE HIMMLISCHE GERECHTIGKEIT GEGEN DEN ENGEL JOSEPHUS. FRAU STAATSANWÄLTIN, SIE HABEN DAS WORT.”
Jophanna von Orleans erhob sich und trug die Anklage vor: "Der Angeklagte, Engel Josephus, war zum Dienst als Schutzengel eingeteilt. Die Bedeutung der Aufgabe wurde ihm eindringlich klar gemacht. Sein Auftrag lautete, den Wissenschaftler, Professor Dr. Dr. William Goldwing zu beschützen, damit dieser sein Lebenswerk vollenden könne, die Perfektion eines preiswerten Wasserstoffmotors mit hohem Wirkungsgrad, der die Energieprobleme der Erde gelöst hätte. Doch Engel Josephus vernachlässigte seine Aufgabe sträflich. Professor Goldwing kam durch seine Schuld ums Leben, 5 Monate, bevor ihm mit einem neuen Prototyp der Durchbruch gelungen wäre. Der Fall ist klar, daher beantragt die Anklage die Höchststrafe.” Sprachs und setzte sich mit siegessicherem Lächeln.
"ICH ERTEILE DEM HERRN VERTEIDIGER DAS WORT”, sprach der Herr, unser aller Gott. Oscar Wilde stand auf: "O himmlischer Richter, werte Frau Staatsanwältin, anwesende Engel, mein Mandant hat die Tat bereits gestanden. Es liegen also mildernde Umstände vor. Ich beantrage, die Beweisführung abzuschließen und ersuche das Gericht um eine geringe Strafe. Ein Jahr Küchendienst auf Bewährung halte ich für angemessen, zumal sich mein Mandant bisher nichts hat zu Schulden kommen lassen.”
"Euer Ehren, ich protestiere!” Johanna redete sich in Rage: "Ich will die niederen Beweggründe des Angeklagten offenlegen, jene perversen, zügellosen Triebe, welche ihn verleiteten, seine Pflicht zu ignorieren, obwohl er wusste, dass dies der Welt unglaublichen Schaden zufügen würde. Ich beantrage ein Kreuzverhör.”
"Frigide Zicke!”, dachte Josephus. Ein Aufschrei ging durchs Publikum, denn alle Engel sind Telepathen. Die Jungfrau von Orleans lief puterrot an und bat Gott um eine bußpflichtige Verwarnung des Angeklagten, doch Oscar Wilde verwies geschickt auf §144: Die Gedanken sind frei.
Gott ließ es mit einer Ermahnung bewenden, doch ein süffisantes Lächeln schien durch seinen weißen Bart. Dennoch: "UM DIE HÖHE DER STRAFE ZU BEMESSEN; HALTE ICH ES FÜR DURCHAUS SINNVOLL, DIE NÄHEREN UMSTÄNDE UND DIE INTENTION DES ANGEKLAGTEN ZU PRÜFEN. IHREM ANTRAG WIRD STATTGEGEBEN, FRAU STAATSANWÄLTIN, KREUZVERHÖR!” (Gott sieht Alles. Aber er schaut nicht immer hin. Gott ist hoffnungslos überarbeitet und auf seinem Schreibtisch stapelt sich der unerledigte Papierkram viele Kilometer hoch). Nachdem Josephus im Zeugenstand Platz genommen hatte, schwebte Johanna mit grimmiger Miene zum Angeklagten und formulierte schnippisch ihre erste Frage: "Wie genau kam ihr Schutzbefohlener ums Leben, Angeklagter?”
"Es war ein Verkehrsunfall. Als ich es bemerkte, war es schon zu spät, um einzugreifen.”
"Sie behaupten also, es bestand keine Chance diesen Unfall zu verhindern?”
Josephus musste jetzt aufpassen, denn niemand konnte Gott belügen. Adam hatte es mal probiert. Damit hatte die ganze Scheiße angefangen. Er entschloss sich zu einer diplomatischen Antwort: "Gewiss hätte ich den Unfall verhindern können, wenn ich die Entwicklung früher beobachtet hätte, doch ich schaute gerade woanders hin. Ich bin mir der Pflichtverletzung bewusst, deshalb habe ich mich auch schuldig bekannt und erwarte meine gerechte Strafe in demütiger Buße.”
Oscar Wilde nickte ihm lächelnd zu. Immer auf reuiger Sünder machen. Das brachte Pluspunkte. So hatte er es überhaupt erst in den Himmel geschafft. Des Richters strenger Blick traf ihn und er schaute betreten zu Boden. Funktionierte immer wieder. Sein Grinsen blieb unbemerkt.
"So so!”, fuhr Johanna in ironischem Tonfall fort, "Vielleicht wäre der Unfall also zu verhindern gewesen, wenn sie nicht einen klitzekleinen Moment abgelenkt gewesen wären? Trifft es zu, dass der besagte Professor Goldwing, von dem sie wussten, dass er immer etwas zerstreut war, auf einer Bananenschale ausrutschte, als er eine vielbefahrene Straße überquerte? Dass ihn ein Sportwagen erfasste, eine Vollbremsung machte, und mitten auf die Kreuzung schleuderte? Stimmt es, dass er zu diesem Zeitpunkt nur Prellungen, Schürfwunden und einen verstauchten Knöchel zu beklagen hatte? Das der Schulbus ihm auswich und den Cadillac rammte? Ist es wahr, dass der Cadillac mit kreischenden Reifen über die Kreuzung schlidderte, wodurch ein Honda abgedrängt wurde und frontal mit dem Lieferwagen einer Glaserei zusammenstieß? Entspricht es den Tatsachen, dass sich daraufhin eine Fensterscheibe von der Ladefläche löste, über die halbe Kreuzung flog und den guten Professor enthauptete, gerade als er aufgestanden war, um sich den Staub von der Jacke zu klopfen? Meinen sie nicht auch, dass ein Schutzengel die Chance gehabt hätte, irgendwo in dieser Kette von Ereignissen einzugreifen? Selbst wenn er kurz abgelenkt war?”
"Ja.”, antwortete der angeklagte Engel kleinlaut.
Märtyrer waren so schrecklich selbstgerecht. Die Heiliggesprochenen waren die Schlimmsten. Fanatisches Feuer funkelte in Johannas Augen und ihre Nippel standen aufrecht: "Wo befanden sie sich zu dem Zeitpunkt, als der Unfall geschah?”
"Ich schwebte etwa 10 Meter über ihm.”
"Und trotzdem ist ihnen dieser Vorfall entgangen?”
"Ja.”
"Darf ich fragen, wodurch sie so abgelenkt waren?”
"Einspruch!”, rief Oscar Wilde, "Irrelevant.”
"ABGEWIESEN. ANGEKLAGTER, BEANTWORTEN SIE DIE FRAGE!”
Josephus schluckte und flüsterte mit vor Verlegenheit heiserer Stimme: "Eine Frau.”
Lautes Gemurmel im Saal.
Johanna von Orleans triumphierte innerlich: "Was war denn so besonders an dieser Frau, dass sie sie von ihrer Pflicht abhielt. Erweckte sie etwa sündige Gedanken in ihnen?”
"Einspruch! Spekulation.”
"STATTGEGEBEN. FORMULIEREN SIE DIE FRAGE ANDERS!”
Johanna lächelte hinterlistig: "Beschreiben sie, was sie sahen!”
Der Engel Josephus brach in Tränen aus und vergrub sein Gesicht in den Händen.
"ANTWORTEN SIE!”, sprach der Herr, der jetzt auch neugierig geworden war.
Der Engel schluchzte: "Ihr Gesicht trug die Züge einer Madonna. Sie kam aus der Dusche und rieb ihren braungebrannten Körper mit Öl ein. Ihre durchtrainierten Schenkel glänzten im Sonnenlicht. Mit ihrem knackigen Hintern hätte sie Nüsse knacken können. Und dann diese gigantischen, prallen, mächtigen, straffen, melonenartigen...”
"Genuuug”, schrie die eher flachbrüstige Jungfrau von Orleans, "Für mich ist die Beweisführung abgeschlossen.”
Die Menge tobte. Viele Engel im Publikum machten ihrer Empörung Luft. Andere, die seine Gedanken verfolgt hatten, verzogen sich aufs Klo, um zu onanieren.
"RUHE IM SAAL!”, rief der Herr und ließ seinen Hammer krachend niedersausen. Der Sankt Andreas-Graben brach auseinander und eine Welle glühender Lava begrub Los Angeles unter sich. Gott musste schmunzeln, denn er war sich der Ironie bewusst, doch konnte er es sich nicht gestatten, dass solche Kleinigkeiten das Tagesgeschäft beeinflussten: "HERR VERTEIDIGER; HABEN SIE NOCH FRAGEN AN DEN ANGEKLAGTEN?”
"Nein, hohes Gericht.”, stammelte Oscar Wilde, der mit einer Erektion kämpfte.
Die Schlussplädoyers gerieten recht kurz. Johanna spie noch etwas Galle und Oscar wies auf die Unbescholtenheit und das reuige Geständnis seines Mandanten hin.
Gott verkündete das Urteil: "SCHULDIG IM SINNE DER ANKLAGE. DER ANGEKLAGTE WIRD ZUR HÖCHSTSTRAFE VERURTEILT. ZUR URTEILSBEGRÜNDUNG: FÜR EINE DERART SCHWERE PFLICHTVERLETZUNG IST DIE HÖCHSTSTRAFE DURCHAUS ANGEMESSEN. SPEZIELL, WENN MAN DIE NIEDEREN BEWEGGRÜNDE DES ANGEKLAGTEN IN BETRACHT ZIEHT, ERSCHEINT ES MIR UNMÖGLICH, DIE STRAFE ZUR BEWÄHRUNG AUSZUSETZEN. DIE VERHANDLUNG IST GESCHLOSSEN. DAS URTEIL WIRD SOFORT VOLLSTRECKT”
"Neeeiiin!”, wimmerte der verurteilte Engel. Oscar Wilde klopfte ihm tröstend auf die Schulter.
Armes Schwein.
Plötzlich wurde es dunkel um Josephus. Er konnte nicht erkennen, wo er war. Eine tiefe Basstrommel dröhnte monoton in der Ferne. Dann kam Bewegung in die Sache. Erst schien ihn etwas zu zerquetschen zu wollen, dann wich die Dunkelheit einem blendend hellen Licht, das seine empfindlichen Augen schmerzte. Jemand griff nach seinen Fußgelenken, hielt ihn in
die Höhe und versetzte ihm einen Schlag auf den nackten Arsch.
Der Engel weinte. Laut schrie er seine Wut und Verzweiflung in den kalten Kreißsaal hinaus.
Die Höchststrafe war wirklich zu grausam.
Anmerkung des Autors:
Die Idee zu dieser Kurzgeschichte kam mir durch ein Zitat des Meisters:
"I can resist everything but temptation.”
- Oscar Wilde
[Beitrag editiert von: Alpha O'Droma am 24.11.2001 um 06:26]