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Gottes vergessene Insel
Die Frömmigkeit entspringt dem Wunsch, um jeden Preis in der Welt eine Rolle zu spielen
„Wir haben ihn passiert!“ hallte der Ruf über das Deck. Leander hob das fein ziselierte Gefäß hoch über seinen Kopf und ließ langsam einige Tropfen des gesegneten Weins auf die feuchten Bootsplanken fallen. Lange hatte er sich auf diesen Moment vorbereitet, und jetzt, als es soweit war, wollten ihm die Worte beinahe nicht einfallen, die er sich so sorgfältig zurechtgelegt hatte.
„Bei der gesegneten Frucht der Rebe und dem Schein Lohinns“, sprach er schließlich und trat gemessenen Schrittes an das Heck des Schiffes um sich dann all seinen Brüdern zuzuwenden. Er hielt die schlankhalsige Flasche immer noch über seinen Kopf gereckt und vergoss nun wieder einige blutrote Tropfen der kostbaren Flüssigkeit.
„Bis hierher hat uns unser Glaube geführt, Brüder“ intonierte er. „Der Wein segnete das Schiff und heiligte unsere Fahrt. Aber nur unser Glaube konnte uns durch alle Gefahren hindurch vor den Verlockungen der Häresie bewahren, auf dass wir nun bereit sind, unserem Herrn von Angesicht zu Angesicht zu begegnen und zu seinem höheren Ruhme lobsingend und mit von seiner Herrlichkeit strahlendem Antlitz zurückzukehren und aller Welt von ihm zu künden. Wir werden durch seine Hilfe den Glauben erneuern und in die Welt hinaustragen. Weiter als alle Brüder vor uns es je vermochten.“
Während er dies sprach, hatte er sich Lohinn zugewandt, der silbern strahlend am Horizont hängend ihnen schon seit Monaten den Weg gewiesen hatte. Er reckte ihm die aus Rosenquarz gearbeitete Riten-Flasche entgegen und senkte den Kopf zwischen seine ausgestreckten Arme, dann betete er leise die fünf Psalme Iannes` und stellte die Flasche anschließend langsam in ihren Schrein zurück. Seine weiten, langen Gewänder raschelten leise, als er die Lade verschloss und zurücktrat. Er verschränkte die Arme und versenkte dabei die Hände in den weiten Ärmeln seines smaragdgrünen Umhanges. Währenddessen waren seine Brüder, die gerade nicht zum Schiffsdienst zugeteilt waren, an Deck auf die Knie gesunken und beteten die acht einfachen Verse Jocas um den Segen des Herrn über ihre Mission zu erbitten.
Nachdem Leander zehn Minuten lang stumm stehend über die Taten der Heiligen alter Zeiten meditiert hatte, hob er die Arme und rief: „Morgen, meine Brüder, werden wir unsere Bestimmung finden. Der Herr wird mit uns sprechen und wir werden aufgenommen in die Gemeinschaft derer, die den Ruhm Gottes über den eigenen stellten. Wir werden erleuchtet werden.“
Dann senkte er langsam die Arme und erwachte wie aus einer Trance. Wankend stieg er die Leiter auf das Hauptdeck hinab und zog sich in seine Kammer im Heck zurück.
„Es tut mir leid, aber der Rat hat abgelehnt.“ Der Priester sah den Jungen mit seinen gütigen Augen bedauernd an und sein langer Schnurrbart hing traurig bis auf sein Kinn.
„Aber warum, ich habe doch nichts...“ dem kaum zwölf Jahre alten Knaben brach die Stimme und er verschluckte den Rest des Satzes.
„Dein Glaube ist stark, Leander. Ich weiß das. Und der Rat weiß das auch, ich verstehe nicht, warum er deine Bitte abgeschlagen hat.“
Es war ein warmer Sommertag und Leander war voller Freude schon am frühen Morgen zu dem alten Tempel gerannt. Er lag malerisch auf einem kleinen Hügel tief im Wald. Mächtige Eichen und Kastanien standen zu seinen Füßen und immer wenn Leander sie im Schein der untergehenden Sonne betrachtete, wenn er nach einem Tag harter Arbeit nach Hause zurückkehrte, schien es ihm, als ob sie sich vor der verfallenen Kultstätte verbeugten. Um die dicken, hohen Säulen des Tempels wanden sich Schlingpflanzen und Moose wucherten an den Sockeln der Heiligen. Das Dach war schon vor langer Zeit eingestürzt und Wind und Wetter hatten ihre Spuren im alten Holz des Schreins hinterlassen. Dennoch, oder gerade deswegen, hatte Leander sich hier immer wohlgefühlt. Es schien ihm richtig, dem Schöpfer von Erde und Himmel der Natur ausgesetzt zu huldigen. Wenn er im Regen vor dem Schrein kniete, dankte er für das Wasser und wenn die Sonne schien dankte er für die Wärme. Vielleicht empfand der alte Einsiedler dass ähnlich wie er. So lange Leander denken konnte, hatte der Priester hier gelebt und den Tag mit Arbeit und Gebet verbracht. Und seit sechs Jahren leistete Leander ihm beinahe täglich Gesellschaft. Er stand so früh auf, dass er den Tempel erreichte, wenn der Einsiedler gerade aus seiner kleinen Hütte trat, die zwischen zwei Eichen geduckt am Rande der Lichtung lag. Dann hielt er mit dem uralten Mann die Morgenriten, arbeitete mit ihm und blieb bis zum Abendgebet.
„Was soll ich denn jetzt tun, Vater?“ fragte Leander zitternd vor Furcht. Der alte Priester wusste, dass für seinen jungen Freund soeben ein Lebenstraum zerborsten war. Nie hatte er jemanden kennen gelernt, der so innig beten, so gierig lernen und so hart arbeiten konnte, wenn es zum höheren Ruhme des Herrn geschah. Es musste ihm wie eine grausame, ungerechtfertigte Strafe Gottes erscheinen, dass das Kloster ihm die Aufnahme verweigert hatte.
Schweißgebadet wachte er auf und tastete nach dem Amulett um seinen Hals. Seine Finger schlossen sich um das kühle Glas und er atmete erleichtert auf. Diesen Traum hatte er schon seit Jahren nicht mehr gehabt, warum war er ausgerechnet jetzt wieder gekommen? Der Herr will mich an diese Prüfung erinnern. sagte er sich und setzte sich auf die Bettkante. Damals hatte er wirklich geglaubt, sein Leben nie Gott weihen zu dürfen.
Er entzündete eine an der Wand hängende Öllampe weil er wusste, dass er in dieser Nacht nicht wieder einschlafen würde. Dann stand er auf und streifte sich das grobe Nachthemd ab, spritzte sich eiskaltes Wasser auf den narbenübersäten Körper und rieb sich mit dem Hemd trocken, dass er anschließend achtlos in eine Ecke warf. Er schlüpfte in eine einfache braune Mönchskutte, wie sie jeder an Bord trug. Bei der morgigen Begegnung war seine Priesterweihe bedeutungslos und es erschien ihm blasphemisch, dem Herrn in prächtigen Gewändern gegenüberzutreten. Nur sein Amulett wollte er tragen, der geweihte Wein in seiner mit Kupfer eingefassten Glaskugel hatte schon immer eine beruhigende Wirkung auf ihn gehabt.
Die Öllampe schwankte hin und her durch die Bewegungen des Bootes und ihr flackernder Schein enthüllte die ganze Ärmlichkeit seiner Kammer. Ein zu hartes, zu kleines Bett, Kleiderhaken für eine Handvoll Gewänder und Kutten, eine Wasserschüssel auf einem rohen Tisch und stilisierte Weinranken an den Wänden.
Er trat in den hinteren Teil des Raumes und kniete sich vor den kleinen Altar, das kostbarste, was im ganzen Schiff zu finden war. Die einen Meter hohe Marmorsäule war umwunden mit Weinreben aus Alabaster in die Goldfäden gewirkt waren und deren Trauben aus reinen Smaragden bestanden. Obwohl Leander schon immer den Prunk der hohen talonitischen Würdenträger verabscheut hatte, hatte er diesen Altar geliebt, seit er ihn das erste Mal gesehen hatte. Aber nicht etwa wegen seines Wertes, sondern wegen der tieferen Bedeutung, die ihm in einer Umgebung wie dieser zukam: ein ärmliches Äußeres, aber im inneren Kern ein Quell des Reichtums. Genauso wie diese Kammer sollte die Talonitis auch sein. Sollte.
Er verschränkte die Arme und versenkte sich in eine tiefe Trance. Er musste sich vorbereiten auf den kommenden Tag und die Prüfungen die zweifelsohne auf ihn zukommen würden. Aber hatte der Prophet nicht auch Prüfungen zu bestehen gehabt? Prüfungen, wie sie nur ein von Gott erfüllter Geist bestehen konnte?
In den vierzig Tagen, in denen er im Meer trieb, fuhr Gottes Atem in ihn und er erreichte unermüdlich schwimmend den Strand von Calcon. Dort predigte er das Wort des Herrn, bis ihm von ungläubigen Druiden die Zunge herausgeschnitten wurde. Dann schrieb er seine Prophezeiungen und Psalme nieder, bis man ihm die Hände abhackte. Er lernte mit den Füßen zu schreiben, bis sie ihm die Beine an den Knien absägten. Dann diktierte er die Worte des Herrn über eine Gebärdensprache seinen Jüngern, bis Hunderte von ihnen von den Druiden wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen wurden. Dann zog er sich mit fünf Jüngern auf einen hohen Berg zurück und bis seine Häscher ihn fanden lehrte er sie alles, was er wusste. Nach fünf Jahren kamen die Soldaten und Druiden und der Prophet schickte seine Jünger weg, die mit ihm sterben wollten. Die Ungläubigen stachen ihm die Augen aus und peitschten ihn mit dem Einzigen, was sie auf dem kargen Berg finden konnten: mit den Ranken des wilden Weins. Bis zuletzt blieb der Prophet stumm und schrie nicht, aber am dritten Tag seines Martyriums, kurz bevor er zu seinem Herrn ging, erhob er sich auf seine Füße, streckte seine Hände aus, blickte seine Peiniger an und sprach zu ihnen mit dem Wort Gottes. Dann verging er in einem blendenden Licht und die Druiden und Soldaten sanken zu Boden, beteten zum Herrn und kratzten sich weinend die Augen aus, hackten ihre Hände ab, rissen ihre Zungen heraus und brachen sich die Beine.
Leander rannen Tränen über die Wangen, als er die Verse des Martyriums des Propheten flüsterte.
„...Bruder Leander! Bruder Leander!“
Die Stimme drang nur undeutlich zu Leander durch. Er sah durch einen roten Schleier aus Schmerzen, als er widerstrebend die Augen öffnete. Sein Körper war eine einzige, heilige Qual und er wusste, nur ein wenig mehr und er hätte Gottes Antlitz erblicken können. Er verfluchte sich für seine Schwäche und riss die Augen ganz auf, setzte sein Gehirn bewusst den grellen Schmerzen aus, die das helle Licht der Lampe in ihm verursachte.
„Bruder Leander, das muss aufhören. Das nächste Mal werdet ihr nicht überleben.“
„Nein, Bruder Corus. Das nächste Mal wird es gelingen“ flüsterte er matt.
Das grelle Licht verwandelte sich langsam in das müde Flackern einer trüben Funzel, die neben seinem Krankenbett auf einem kleinen Tisch stand.
„Euer Rücken besteht nur noch aus blutigem Fleisch, das aus bloßer Gewohnheit zusammenhält. Wenn der Abt davon erfährt...“ Corus ließ den Satz unvollendet, Leander wusste, was er hatte sagen wollen ...dann wird er euch des Klosters verweisen.
Leander war schon mehrmals ermahnt worden, seine Glaubensprüfungen nicht auf die Basis uralter, fast noch ketzerischer Rituale zu stellen und sich nicht zu geißeln bis er ohnmächtig wurde. Seit er vor fünf Jahren halb verhungert, zerrissen und zerschunden vom Rat des Klosters als Mönch aufgenommen worden war, war er immer wieder als jemand aufgefallen, der seine Pflichten akribisch erfüllte und so voller Hingabe in seinem Dienst an Gott war, dass er oftmals wochenlang fastete, tagelang nicht schlief und nächtelang betete. Er war hierher gekommen, nachdem man ihn im Kloster seiner Heimat abgewiesen hatte. Er hatte geglaubt es wäre das Beste, es das zweite Mal woanders zu versuchen, irgendwo, wo man ihn nicht kannte. Und es hatte funktioniert, man hatte ihn sofort aufgenommen. Aber warum man ihn das erste Mal abgelehnt hatte, hatte er immer noch nicht verstanden.
Leander schloss die Augen und gönnte sich die Schwäche, vom Schlaf übermannt zu werden. Er musste möglichst schnell genesen, das nächste Mal würde es ihm gelingen.
„Vater Abt, es ist Zeit.“
Leander schlug die Augen auf. Er kniete immer noch vor dem Altar und fühlte sich erfrischt und ausgeruht. Meditation hatte ihm in dieser Nacht mehr Erholung gebracht, als Schlaf es gekonnt hätte. Bruder Claudin half ihm sich aufzurichten, er rieb seine schmerzenden Knie und lächelte bei dem Gedanken, diese Schmerzen einmal als Geschenk Gottes begrüßt zu haben.
„Habt ihr gebetet, Vater?“
„Ja Claudin. Vor einer Begegnung mit Gott ist das wahrscheinlich das Beste, was man tun kann.“ Leander lächelte seinen Schüler aufmunternd an, der einen sichtlich angespannten Eindruck machte. „Sind bereits alle versammelt?“
„Wir warten nur noch auf euch.“
Leander trat hinaus auf das Deck. Vor ihm knieten 23 Mönche in Richtung des Schreins im Heck ins Morgengebet versunken auf den Planken. Das Rot des Sonnenaufgangs war bereits am verblassen und er konnte das Salz der See noch deutlich riechen, wusste aber, dass dieser Eindruck im Lauf des Tages verschwinden würde. Ein einzelner Mönch stand am Ruder und hielt den Kurs. Nach Westen, immer nach Westen.
Leander kniete sich zu den Mönchen, an diesem Tag würde er nur ein gewöhnlicher Glaubensbruder sein und nicht der Vater Abt einer ketzerischen Splittergruppe der calconischen Talonitis. Aber nur noch so lange ketzerisch, bis wir zurückkehren und Zeugnis ablegen.
Herr, der Du deinen Propheten sandtest
Um uns aus dem Tal der Unwissenheit zu führen
Auf den steinigen und kalten Berg der Erkenntnis,
Wir danken Dir für den neuen Tag,
Den Du uns heute geschenkt hast.
Einen Tag, der wie wir, die untertänigsten
Deiner zahllosen Diener, von Deinem Ruhme kündet.
Leander hatte bei seiner Gemeinde die alten Gebete wieder eingeführt, die er in den uralten Bibliotheken der Talonitis gefunden hatte. Das war auch einer der Gründe, weswegen man ihn als rückwärtsgewandten gefährlichen Abweichler exkommuniziert hatte. An dem Tag, an dem der Gottkönig das grausame Urteil gefällt hatte, war er weinend zusammengebrochen. Dann hatte er sich zusammengerafft und angefangen, seine Gemeinde um sich zu scharen. Das war jetzt schon sechzehn Jahre her.
Wie bei jedem Gebet sprach er die acht einfachen Verse Jocas und fügte dann seinen persönlich Teil an.
Herr, ich werde Dir heute von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen. Ich mache mir keine Sorgen um mein eigenes Leben, denn ich habe Dein Wort schon oft gehört und kenne Dich und vertraue Dir. Aber ich bitte Dich, mit meiner Gemeinde Nachsicht zu üben. Sie haben Angst und sind unsicher, führe mich also, Herr, dass ich sie sicher zu Dir bringen kann.
Leander erhob sich als letzter und trat an den Bug. Seine Gemeinde starrte angestrengt nach Westen. Der Himmel war von einem stählernen Blau und nur wenige weiße Zirruswolken jagten schnell über ihnen dahin. Die Wellen schlugen so eintönig gegen den Bug wie sie es schon seit Wochen taten. Die schmutziggrauen Segel flatterten in der müden Brise und trieben das dickbauchige Schiff langsam vorwärts.
„Vater Abt, wann ist es so weit?“ fragte Bruder Claudin, der neben ihm stand und sich an die Reling klammerte. „Wir haben Lohinns Punkt schon gestern überquert.“
Leander lächelte beruhigend. „Keine Angst, meine Söhne. Der Herr leitet euch durch mich. Außerdem wissen wir nicht, wie weit wir Lohinns Punkt überqueren müssen, nur dass wir es müssen.“ Er kniff die Augen zusammen, aber es war nur ein am Horizont auftauchender Wal gewesen. „Es kann also noch einige Stunden dauern. Aber sicher nicht mehr lange.“
Es wurde eine Wolke uralten Staubs aufgewirbelt, als er den dicken Folianten aufschlug. Der flackernde Kerzenschein fiel auf die vergilbten Seiten und enthüllte die eckigen Buchstaben alter Frakturschrift. Das Buch lag auf einem Stapel anderer aufgeschlagener uralter Schriften in der geheimen Bibliothek der Talonitis. Leander hatte es wieder geschafft sich hierher zu schleichen, in den verbotenen Bereich der Häretiker und Ketzer. Wenn der Aufseher davon erfuhr, würde er es dem Gottkönig melden und der würde Leander dann sicherlich bestrafen, schlimmstenfalls mit Exkommunikation. Aber seit er dieses Buch in einer schmerzgetränkten Vision gesehen hatte, vor all den Jahren, bevor er als Lektor in die Talonitis gekommen war, hatte er gewusst, dass er es finden würde, und das in diesem Buch das Schicksal auf ihn wartete, dass Gott für ihn vorgesehen hatte.
Er bemerkte die sich leise nährenden Schritte nicht, als er eilig die groben Seiten umblätterte. Einige von ihnen lösten sich unter seinen ungeduldigen Fingern auf, aber die meisten waren nur vergilbt und schimmelig. Er überflog den Inhalt der Seiten nur, denn er hatte vor, dass Buch aus der Bibliothek zu schmuggeln und in seiner Kammer in Muse zu studieren. Irgendwo fielen Wassertropfen in eine Pfütze, einer der Gründe für den schnellen Verfall der alten Bücher war die Witterung in diesen Kellern: es war feucht, staubig und ein Paradies für Ungeziefer.
Als der zitternde Lichtkegel einer Lampe hinter ihm auftauchte und die hohen Bücherregale in ihren suchenden Schein hüllte, schlug er gerade eine zweiseitige Weltkarte auf. Sie war schon alt, zeigte aber die calconische Theokratie, den Gottesstaat von Kalorn und die Stadtstaaten des Herrn, ganz im Norden des Kontinents. Das Blaue Meer im Westen erstreckte sich fast über die gesamte linke Buchseite, aber bei genauerem Hinsehen konnte er in ihrer Mitte einen dünnen schwarzen Strich erkennen, und an diesem Strich entlang stand von oben nach unten geschrieben: Lohinns Punkt. Eine Stelle der Linie war mit Angaben markiert, die die genauen Sternkonstellationen darstellten und daneben zeigte ein kleiner Pfeil in Richtung Westen: Insel Gottes.
In diesem Moment legte ihm jemand die Hand auf die Schulter und er hörte die Stimme des Aufsehers. Aber Leander verstand nicht, was er sagte: er ließ seinen Freudentränen freien Lauf und fiel betend auf die Knie.
„Da vorne!“ rief Bruder Marius und zeigte zum Horizont. Als Leander gegen das grelle Mittagslicht die Augen zusammenkniff konnte er einen beinahe unmerklichen Strich am Horizont erkennen. Im Laufe der Stunden wurde er größer und größer und schien sich tatsächlich als das zu entpuppen, was Leander schon sein ganzes Leben lang gesucht hatte: die Insel Gottes. Er hatte sie das erste Mal vor zwanzig Jahren in den verbotenen Bereichen der Bibliothek der Talonitis in dem Buch eines längst vergessenen Ketzers entdeckt und seitdem nach ihr gesucht. Aber schon vorher, in einer schmerzverzerrten Vision während der er tagelang auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod dahinwanderte, hatte er sie gesehen und von da an gewusst, dass er sie eines Tages betreten würde.
Darum war er exkommuniziert worden, darum hatte er seine eigene Kirche gegründet, die Gemeinschaft des erneuerten Glaubens, um die Insel Gottes zu finden und den verknöcherten, in starren Riten gefangenen Glauben zu reformieren. Es hatte ihn fast zerbrochen, als die Talonitis ihn aus ihrer Mitte verbannt hatte, aber er hatte Anhänger um sich geschart die an ihn und seine heilige Mission glaubten. Und nun stand er mit ihnen an Bord der Windstolz, seit Tagen ohne Vorräte und fast ohne Wasser, weitab aller bekannten Küsten und hilflos den Launen der Natur ausgesetzt. Aber vor sich die Erfüllung all ihrer Träume.
Gegen Abend erreichten sie die seichteren Gewässer vor der Insel und Leander, der Stunde um Stunde bewegungslos am Bug verharrt hatte wie eine Statue, drehte sich endlich um. Er hörte seine steifen Gelenke protestierend knirschen und musste über eine solche Nebensächlichkeit lächeln.
„Wir sind da, Brüder“ sagte er einfach. Dieser Moment hatte es nicht nötig in die weitschweifigen Worthülsen gekleidet zu werden, derer sich die talonitischen Oberen so gerne bedienten. In den Gesichtern seiner Jünger las er bedingungslose Ergebenheit, Hoffnung, Glaube und das Bewusstsein, ab heute in einem Atemzug mit dem Propheten genannt zu werden.
„Wir werden die Insel heute nicht mehr betreten. Es ist bereits zu spät und wir müssen dem Herrn mit reinem Gewissen und ohne Sünde gegenübertreten. Statt der Abendmesse üben wir uns in Askese und Gebet und ich werde jedem die Beichte abnehmen.“ Er holte tief Luft und roch die lang entbehrten Düfte von Gras und Erde, Eindrücke des täglichen Lebens, die einem erst durch ihre Abwesenheit ins Bewusstsein rücken.
Wir verabscheuen die Schöpfung nicht. Wenn wir Askese üben und uns kasteien, dann doch nur, um unsere Sinne zu schärfen für alle ihre Aspekte. Extreme negative Empfindungen führen zu extremen positiven Empfindungen und umgekehrt. Nur wer alle Seiten der Schöpfung kennt, kann sie gebührend würdigen.
Das war einer der Glaubensgrundsätze, die er sich und seinen Anhängern auferlegt hatte, aber selbst diese überzeugende Darstellung hatte ihm vor der Synode, die seine Schriften als ketzerisch verboten und öffentlich verbrannt hatte, nichts genutzt. Das hatte ihn freilich nur dazu gebracht, seine Werke besser vor dem Zugriff der Talonitis zu verbergen und seine Anhänger ihre wichtigsten Teile auswendig lernen zu lassen.
„Kommt nacheinander zu mir, meine Brüder“ sagte Leander auf dem Weg in seine Kabine und zwang sich dazu, nicht augenblicklich über Bord zu springen und an Land zu schwimmen. Nach so langer Zeit war sie zum Greifen nah.
Natürlich hatte keiner seiner Jünger großartige Verfehlungen zu gestehen. Es waren größtenteils unerhebliche Sünden und er konnte ihnen die Absolution leichten Herzens erteilen. Dennoch hielt er es für notwendig, denn der Herr sieht auch den geringsten Schatten auf der Seele eines Menschen.
Leander schlief auch in dieser Nacht nicht, er kniete vor seinem Altar und betete alle Verse und Psalmen die er je gelernt hatte, bevor er selbst beichtete und den Herrn um Hilfe bat. Sein Blick fiel auf die stachelbewehrte, einer Weinranke nachempfundene Geißel, die vor dem Altar auf den Holzplanken lag. Noch immer klebte getrocknetes, mittlerweile braunes Blut an ihr und kündete von Leanders ausgestandenen Qualen. Schließlich kam er aber davon ab, er war zu alt um sich noch zu geißeln und außerdem hatte er sein ihm auferlegtes Pensum schon mehr als erfüllt. Mehr als einmal hatte er sich selbst bis nah an den Tod gebracht und dabei den Herrn geschaut. Aber damals war er noch jung gewesen, heute würde er sicher an seinen Verletzungen und seinem Blutverlust sterben. Der Prophet war schließlich auch von Gott erfüllt gewesen und hatte sein Martyrium dennoch nicht überlebt.
Irgendwo schrie ein unbekannter Vogel, ein lange vergessenes Geräusch, und die Wellen schlugen sanft gegen den Rumpf. Nur der langjährigen Erfahrung seiner Jünger in der Schifffahrt, ihrer Fähigkeit, Unwetter mit Sinnen vorauszuahnen, die Leander offensichtlich fehlten und ihrer Hartnäckigkeit, mit der sie immer wieder dem nahenden Untergang die Stirne geboten hatten, war es zu verdanken, dass sie mit diesem Schiff so weit gekommen waren. Sie hatten sich lange auf diese Fahrt vorbereitet und die meisten von ihnen hatten seit Jahren kein festes Land mehr unter den Füßen gehabt. Mittlerweile war der Schiffsrumpf sicher mit Muscheln übersät und in der Auflösung begriffen. Der Herr hatte sie wahrlich gründlich geprüft.
Als das Zwitschern der Vögel für seine durch lange Jahre des Lebens in Verfolgung geschärften Sinne unüberhörbar laut geworden war, erhob Leander sich ächzend und ging nach draußen. Die volle Sonnenscheibe war im Osten schon über den Horizont geklettert und tauchte die Insel in einen heiligen Schein. Ihre sanften Hügel waren mit dunkelgrünen Wäldern bedeckt, die sacht in der sanften Morgenbrise wogten. Schwärme von Vögeln stoben auf und sanken wieder hinunter. Einige Minuten lang genoss Leander stumm diesen wunderbaren Ausblick.
Das Leben besteht aus einer Reihe von Momenten, also ist auch das Leben selbst im Grunde nur ein Moment.
Ohne seine Augen von der Insel zu wenden sagte er: „Holt den Altar aus meiner Kabine und bringt ihn mit dem Schrein zu den Booten, wir werden die Morgenmesse vor den Augen Gottes halten.“
Tränenblind stolperte er durch den Sand. Seine Kutte triefte vor Wasser wie die seiner Brüder, weil er viel zu früh aus dem Beiboot gesprungen und an Land gewatet war. Schluchzend fiel er zu Boden und vergrub die Hände in dem wunderbar weichen, weißen Sand. Seinen Anhängern ging es genauso, sie taumelten lachend umher oder fielen schluchzend zu Boden. Viele beteten laut und inbrünstig und nur Bruder Marius und Bruder Aleksander trugen Altar und Schrein auf trockenen Boden. Mühsam stemmte Leander sich in die Höhe und seine Freudentränen wurden abgelöst von einem lauten, befreiten Lachen. „Lobet den Herrn!“ rief Claudin und kniete vor dem Altar nieder.
Es gab keine geregelte Messe an diesem Morgen, jeder kniete und betete, lachte und weinte, frohlockte und lobpreiste. Nach Stunden erst hatte sich die Aufregung gelegt und Leander sprach zu seiner Gemeinde: „Brüder, der Tag der Begegnung ist angebrochen. Der Herr wartet auf uns auf steinigen und kalten Bergen, und auch wenn es hier weder steinig noch kalt ist, so lasst uns doch zum höchsten Punkt der Insel gehen, denn der Weg zu Gott ist niemals einfach.“
Sie ließen also Schrein und Altar wo sie waren und drangen in den Wald ein. Es war bedrückend schwül und heiß, was ihnen auf dem Wasser und am Strand gar nicht aufgefallen war, und die Bäume warfen bedrohliche fremde Schatten auf die Mönche. Fremdartige Tiere und Pflanzen wimmelten und wuchsen überall um sie herum und schienen die Wanderer ersticken zu wollen. Die Stimmung der Gemeinde sank merklich und sie wurden schnell müde und verdrossen. Vergessen der Überschwang und die Freude am Ziel zu sein, vorbei die Entschlossenheit und Hartnäckigkeit der vergangenen Wochen und Monate. Die Schritte der Kuttenträger wurden müde und schleppend, sie redeten nicht mehr miteinander, sondern jeder hing seinen eigenen schwermütigen Gedanken nach.
„Die letzte Prüfung, meine Brüder!“ rief Leander plötzlich, „die letzte Prüfung vor dem Ziel. Lassen wir uns davon nicht entmutigen, jetzt nicht mehr.“
Und plötzlich hob sich die Last von den Gemütern. Die Schatten waren nicht länger bedrohlich sondern geheimnisvoll, die Tiere nicht mehr angsteinflößend sondern faszinierend. Exotische, nie geahnte Düfte drangen an ihre Sinne, die Geräusche des Waldes klangen wie Musik und große, prachtvoll bunte Vögel zogen ihre langen Federn wie kostbare Schleppen hinter sich her, wenn sie anmutig über ihnen durch die Zweige segelten.
Lachend wies Marius auf zwei kleine pelzige Fellknäuel, die sich vor seinen Füßen balgten und dieses Lachen befreite sie alle. Leander hob an, die Neunte Lobpreisung zu singen und die anderen fielen mit ein. Singend zog die Schar durch den Wald ihrem Gott entgegen.
So wie der Boden anstieg, nahm die Vegetation ab und die Bäume lichteten sich. Was aus der Ferne wie ein sanfter Hügel ausgesehen hatte, entpuppte sich nach einem langen Fußmarsch durch Hitze und Nässe als anstrengender, steiler Berg und die Mönche kamen nur langsam und schnaufend voran. Nur Leander, obwohl der bei weitem Älteste, schien von allen Anstrengungen vollkommen unberührt. Er stapfte fröhlich voran und sang eine Lobpreisung nach der anderen. Vogelschwärme rauschten über ihren Köpfen dahin und die Sonne hatte ihren Zenit bereits überschritten und brannte gnadenlos auf die Gruppe herab.
„Vater Abt, seht dort!“ rief Marius mit einem Mal und Leander folgte verwirrt und aus seiner Versenkung gerissen mit dem Blick dessen ausgestrecktem Finger.
Es war ein Turm. Sie hätten ihn eigentlich schon früher sehen sollen, waren aber im Wald von den Bäumen behindert und während des Aufstiegs zu sehr mit Schnaufen beschäftigt gewesen. „Der höchste Punkt!“ rief Leander, „Dort müssen wir hinauf.“
Obwohl sie alle erschöpft waren, beschleunigten sie ihre Schritte. Mit dem Ziel vor Augen mobilisierten sie die letzten Kräfte und vergaßen den Hunger, der schon seit Tagen in ihren Eingeweiden wühlte. Der Turm vor ihnen wurde größer und größer. Leander konnte erkennen, dass er über und über mit Weinranken bewachsen war, die große, saftige Trauben trugen. Hier oben war die Luft kälter und trockener als sie es im Wald gewesen war. Büsche und Gräser sprossen zwischen Steinen und spitzem Geröll hervor und stachen vereinzelt durch die dünnen Sohlen ihrer Sandalen.
Am Fuße des Turmes hielt Leander schweratmend an. „Der Herr nährt uns mit seinen heiligen Früchten“, sagte er und pflückte sich eine der prallen Trauben.
Bald rann allen Mönchen klebriger Saft übers Kinn, als sie sich an Gottes Gaben satt aßen. „In seinem eigenen Haus lässt der Herr niemanden verhungern oder verdursten“, lachte Marius fröhlich und wischte sich den Saft mit dem Handrücken ab.
„Suchen wir den Eingang“, sagte Leander. „Auf uns wartet wahrlich ein König der Könige, lassen wir ihn nicht ungeduldig werden.“
Sie umrundeten also den Turm auf der Suche nach einem Portal und fanden es schließlich auf der anderen Seite. Eine schwere Holztür hing in ehernen Angeln und wurde, wie konnte es anders sein, von einer Einfassung in Form steinerner Weinreben umrahmt. Über ihr waren in regelmäßigen Abständen Fenster in den Turm eingelassen. Leander holte tief Luft und drückte den großen, eisernen Riegel nach unten. Nichts geschah. Er versuchte es wieder und wieder aber die Tür wollte einfach nicht aufgehen. Schließlich hängten sich auch Marius und Claudin mit an die Tür, aber auch mit vereinten Kräften konnten sie nichts verrichten.
Fassungslos starrte der Vater Abt auf die Tür. Der Wind zerrte eisig an den Kutten der Männer und ein Vogel über ihnen schien sie mit seinen grellen Schreien zu verhöhnen.
„Der Herr prüft uns wahrlich sehr hart“, flüsterte er schließlich heiser und hob langsam seine Augen. „Wir werden die Nacht betend und beichtend auf diesem Berg verbringen, morgen werden wir geläutert sein und der Herr wird uns Eintritt gewähren.“
Betreten schweigend erklommen die Mönche die letzten Meter zum Gipfel. Einige weinten leise, andere beteten bereits stumm in blindem Vertrauen zu ihrem Abt, der sie bis jetzt immer sicher geführt hatte und der gewiss auch hierin Recht hatte. Die Müdigkeit zweier durchwachter Nächte steckte in ihren Knochen, aber die Prüfungen des Herrn sind hart und was ist schon ein wenig Müdigkeit gegen die Erleuchtung? Stumm sanken sie auf die Knie oder ganz zu Boden und spitze Kiesel bohrten sich in ihre Knie und Stirnen.
Stunde um Stunde betete Leander mit den anderen um Vergebung für alle seine Sünden. Die Sonne war längst untergegangen und es war klirrend kalt geworden. In der Dunkelheit der Nacht klangen die Stimmen der Vögel plötzlich wieder furchteinflößend und der volle Mond leuchtete gelb hinter bedrohlichen Wolken hervor. Leanders Tränen waren längst vom beißenden Wind getrocknet worden. Er konnte sich nicht erklären, warum der Herr ihnen den Eintritt verweigerte, hatten sie etwa nicht genug gebetet, nicht genug bereut, gelitten und gesühnt? Er konnte und wollte nicht wahrhaben, dass die Erfüllung seiner Bestimmung so nah vor dem Ziel scheitern würde. Er konnte nicht an einen Gott glauben, der so grausam war, ihn sein ganzes Leben mit seinen Verheißungen zu locken um ihn dann am Ende abzuweisen.
Der Herr ist unergründlich,
Er verbirgt seine Mysterien
Vor den Unwissenden.
Schlagartig öffnete Leander die Augen. Er wusste es. Jetzt wusste er es endlich. Torkelnd stand er auf, wäre fast gestürzt, als er über den holprigen Weg durch die Dunkelheit auf den Turm zutaumelte. Er erreichte die Tür, lachte aber nur wissend und begann, das Bauwerk rundherum abzutasten. Das auf einmal freundlich erscheinende Licht des Mondes beleuchtete ihn, wie er hastig Weinranken beiseite fegte, Trauben mit suchenden Händen zerdrückte und sich die Finger am rauen Stein zerkratzte. Bis plötzlich kein Stein mehr da war. Triumphierend schob er die Ranken zur Seite und legte den eigentlichen Eingang frei. Es gab überhaupt keine Tür, sie war nur Blendwerk. Die letzte Prüfung war eigentlich die leichteste von allen.
Er holte tief Luft und schickte ein letztes Stoßgebet an den Herrn, dann drückte er sich durch die Ranken und betrat den Turm. Stickige Luft schlug ihm entgegen und für einen Moment lang sah er nichts, bis sich seine Augen an das nur spärlich durch ein Fenster einfallende Mondlicht angepasst hatten. Feuchtigkeit rann die dunklen, schartigen Felsen hinab aus denen der Turm vor wer weiß wie vielen Jahren errichtet worden war. Und nicht nur, dass er sehr hoch war, er hatte auch einen gewaltigen Durchmesser und verfügte in jedem Stockwerk über einen großen Raum. Das stellte Leander fest, als er den ersten Stock über die ausgetretenen Stufen erreichte, die sich wendeltreppenförmig über die ganze Höhe des Turmes hinaufwanden. Er hatte allerdings keinerlei Interesse für die Geheimnisse, die diese Räume möglicherweise bargen, er wollte nur die unzähligen Stufen erklimmen um ganz oben seinem Herrn zu begegnen, der zweifellos auf ihn wartete um ihm kundzutun, was von nun an seine Aufgabe sein würde. „Ich komme, Herr“, flüsterte er und machte sich an den Aufstieg.
Stufe um Stufe mühte er sich nach oben. Seine Schritte hallten unwirklich in der Dunkelheit und ab und zu jagte ein auf ihn fallender Wassertropfen ihm Schauer über den Rücken. Seine Knie schmerzten wieder und sein Rücken protestierte gegen die andauernde, gleichmäßige Belastung. Fenster um Fenster zog an ihm vorbei und manchmal hörte er die Schreie fremder Tiere und horchte dann atemlos, ob sie nicht etwa im Turm selbst erklungen waren. Aber diese kindische Angst erwies sich als unbegründet und endlich, nach einer schier endlosen Reihe von Stufen und Stockwerken, erreichte er die Spitze. Es führte kein Weg auf das Dach hinauf, nur eine weitere Tür, wie die unzähligen anderen auch, führte in einen Raum und Leander konnte kaum glauben, dass dieses verrottete Stück Holz der Eingang in das Reich Gottes sein sollte. Aber der Herr ist schließlich unergründlich und so stieß er die Tür auf, die, in ihrer einen Angel quietschend, protestierend aufschwang. Er war auf alles gefasst, aber er erblickte nicht Gottes Herrlichkeit, kein Paradies, keine Offenbarung, kein grelles Licht.
Vor ihm, in der Mitte des Raumes, lag auf einem einfüßigen hölzernen Pult ein aufgeschlagenes Buch. Der Schein des Mondes fiel durch ein hohes Fenster in den Raum, genau auf den alten Folianten und erhellte ihn gespenstisch bleich. Leander machte einen unsicheren Schritt darauf zu und trat in eine nasskalte Pfütze. Angeekelt zog er den Fuß aus dem Matsch, der ihn festhalten zu wollen schien und ging weiter auf das Buch zu. Was sollte das? Sollte das die ganze Offenbarung sein? Ein altes Buch in einem dreckigen Zimmer am Ende der Welt? Der Herr ist unergründlich. versuchte er sich zu beruhigen und trat vor das Pult. Das alte Buch besaß einen dicken Einband aus unverwüstlichem Pergament und als Leander den jahrhundertealten Staub wegblies, enthüllte sich sein Name, der in leuchtendroten Lettern darauf prangte: TALONS SCHICKSAL.
Jetzt war alles vollkommen klar. Dies waren die niedergeschriebenen Worte des Propheten selbst. Hier würde er alle Antworten finden. Hier würde er Gott sehen können. In diesem alten Buch stand der Auftrag, den der Herr dem Propheten Talon einst gab und dessen Erfüllung ab jetzt Leanders Aufgabe sein würde. Er schlug die erste Seite auf und begann im schummrigen Mondschein zu lesen....
Er hatte keine Augen mehr um zu weinen. Er lag nur noch da und schluchzte in namenlosem Grauen. Seine Augen, die all diese schrecklichen Worte gesehen hatten, hatte er sich ausgekratzt, er hatte es nicht länger ertragen können, weiterzulesen. Es war eine Lüge. Alles war eine grauenhafte, furchtbare Lüge. Er versuchte, nicht daran zu denken, aber die Worte peitschten sein gemartertes Hirn wie einst die Geißelschläge seinen Rücken:
...eine Täuschung, um die Bevölkerung zum Stillhalten zu bringen, sie werden freiwillig Sklaven sein...
...ich verkünde die Worte...die Zeit tut das ihrige dazu. Sie werden mich zum Propheten küren und nie die Wahrheit erfahren.
...der Plan der Druiden ist die Unterwerfung des Volkes nicht durch die Macht des Schwertes, sondern durch die Macht des Glaubens...
...sie huldigen mir wie einem Gott...sie haben mir geglaubt, diese Narren glauben mir jedes Wort, es funktioniert wirklich...
...mich, ihren „Propheten“, den, der das alles möglich machte, haben sie hierher verbannt. Sie sagten, ich könnte wählen zwischen dem Märtyrertod und dem Exil in der äußersten Kolonie des Reiches...ich wählte das Exil.
Dieses Buch ist meine einzige Hoffnung auf Rache. Sollte es jemand finden, und wenn es erst in Hunderten von Jahren geschieht, wird er die calconische Talonitis damit zerschmettern und ich werde meine Genugtuung haben.
Epilog
Als Marius ihn einige Tage später fand, bot sich ihm ein grauenhaftes Bild. Leander hatte sich selbst verstümmelt, sich die Augen ausgekratzt und die Zunge herausgerissen, bevor er seinen Kopf an der Steinwand zerschmettert hatte. Selbstverständlich las Marius das Buch, aber er verlor nicht den Verstand darüber. Nach drei Tagen verließ er den Turm und erzählte den wartenden Jüngern die Geschichte von Leanders Himmelfahrt.
Natürlich glaubten sie ihm.