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Gott würfelt nicht
Gott würfelt nicht*
(*Albert Einsteins Meinung zur Quantentheorie)
Auszug aus dem Physikbuch der sechsten Klasse im Jahre 3049:
"Paralleluniversen: Die Welt besteht aus unendlich vielen von ihnen. Jedes einzelne Universum hat eine eigene Entwicklung genommen. Die Evolution hat in unserem die Dinosaurier aussterben lassen, aber es existieren Welten parallel zu unserer, in denen sie noch leben. Zu jeder nur erdenklichen Konstellation gibt es irgendwo ein Universum: z.B. sind in einer Welt alle Menschen unter einsfünfzig groß, in einer anderen haben sie drei Augen, wiederum woanders können Fliegen sprechen. Ein Bettler auf dieser Welt kann sich gewiss sein, daß es ein Universum gibt, in dem er ein Milliardär ist..."
Werbeplakat von Transworld:
"Machen sie Ihre Träume wahr!"
Dennis stand fassungslos vor dem bunten Gebilde aus Federn, die in allen möglichen und unmöglichen Farben schimmerten. Der Vogel, den er gerade aus nächster Nähe beobachtete war eine besonders bizarre Kapriole der Natur. Das Tier hatte die Flügel zur vollen Spannbreite ausgefahren, so als wolle es seinem Betrachter die Möglichkeit geben, das ganze Ausmaß seiner Unmöglichkeit zu bewundern. Stünden sie nicht auf einer Waldlichtung und wäre nicht Paris oder Mailand so verdammt weit weg, könnte man meinen, hier wäre eine Modenschau im Gange. Das eindringliche Piepsen des Pagers holte Dennis aus seiner visuellen Extase.
"Ist es denn zuviel verlangt, einen Tag im Jahr ungestört Urlaub zu machen?", sprach er laut zu sich, woraufhin der Prachtvogel kreischend davonflog. Seufzend schaltete er das Display ein und eine Nachricht flackerte in Laufschrift über das Handgerät.
"Mitteilung höchster Priorität, Absender: Transworld-Führung: kommen Sie sofort zurück, dringender Notfall."
"Na Klasse, die haben ihre Notfälle aber auch genau zu richtigen Zeiten. Irgendwann muss ich mit dem Mistjob Schluß machen".
Mürrisch setzte er sich in Richtung Transmissionspunkt in Bewegung. Er hatte die Trans-Ausrüstung noch an weil er gar nicht dazu gekommen ist, sich in seine Vogelkundschaftler-Kluft zu werfen bevor die Message kam. Als er die Koordinaten der Return-Stelle erreicht hat, tätigte er ein paar Handgriffe an seinem Equipment um sich zu vergewissern daß alles korrekt saß und leitete die Rückkehr in sein Heimatuniversum ein.
Sekunden später befand sich Dennis in der Empfangshalle von Transworld-Inc. Noch bevor er einen Schritt aus dem Home-circle machen konnte kam ihm Mark entgegen.
"So ein mist, wieder ein Unfall und unser Urlaub ist dahin", liess Mark verlauten. Auch er hatte eine Scheißlaune, die gar nicht zu seinem teueren Ausgehanzug passte. Eine Parfümwolke, die ihn wie eine Aura umgab machte klar, daß er offenbar aus einem Rendezvous herausgerissen worden war...
"Na, wieder mal im Blondinen-Universum gewesen?" Dennis konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, leitete es aber sofort nach innen, als er Marks Gesichtsausdruck sah.
"Wenn dein Federvieh ne bessere Beschäftigung ist, soll mich der Teufel holen!"
Die beiden sahen sich kurz an und brachen in dümmliches Kleinjungengelächter aus.
Um neunzehn Uhr erwartete sie Damon, der Chef des Programmierertems von Transworld in seinem Büro.
"Es ist Edwin", eröffnete Damon, "er ist schon seit sieben Tagen überfällig."
"Was? Aber das ist doch völlig ausgeschlossen!", brach Dennis die überraschte Stille, während Mark noch dabei war, seinen herunterhängenden Kiefer wieder hochzuziehen.
"Dann müsste er demnach tot sein. Die Naturgesetze erlauben doch keinen so langen Aufenthalt in einem Paralleluniversum."
"Das Verrückte ist, meine Herren, daß sein Lebenslicht nicht ausgelöscht ist, es brennt immer noch. Er müsste noch bei bester Gesundheit sein."
"Wieso hat ihn der Retourn-mechanismus nicht zurückgeholt?", fragte Mark.
"Das ist die Frage auf die ich von Ihnen beiden eine Antwort erwarte", erwiderte Damon. "Schauen sie sich seinen Arbeitsplatz an und studieren sie die Programme, an denen er zuletzt gearbeitet hat. Ich will bald des Rätsels Lösung sehen bevor irgend jemand anfängt Fragen zu stellen. Transworld-Inc. ist zu dem geworden was es ist, weil wir dafür bekannt sind, keine solchen Probleme zu haben."
Es verging eine Woche ohne sichtliche Ergebnisse. Die beiden hatten das Programm gefunden, das Edwin bei seiner letzten Reise benutzt hatte aber es lag in compilierter, also übersetzter Form vor, was bedeutete daß es für menschliche Augen besonders schwer nachzuvollziehen war.
Mark saß auf seinem Sofa und guckte Videos vom letzten Urlaub. Die Sucherei hat ihn müde gemacht und er wollte nichts anderes mehr als entspannen. Das Bild zeigte ihn gerade mit einer Gruppe platinblonder Frauen in einem Swimmingpool als das Telephon klingelte.
"Ich habs!", dröhnte Dennis durch den Hörer, "komm sofort rüber, du wirst es nicht glauben!"
Minuten später saßen beide an Edwins Computer und Dennis erklärte:
"Also, zunächstmal ist es ein Spider... Das heißt wenn er seine Zielwelt erreicht hat, ändert es die Spezifikation und springt weiter.
"Ja, das war offensichtlich, und weiter?"
"Dieses Kauderwelsch das er da geschrieben hat schien mir lange Zeit ziemlich sinnlos zu sein, es macht offenbar gar nichts. Aber wenn man es genauer analysiert, sucht das Programm ein Universum, das genauso wie unseres ist, mit dem Unterschied...", Dennis holte tief Luft, "daß dort der technische Stand so ist, daß genauere Spezifikationen möglich sind."
Mark schaltete kurz seinen NA-UND?-Blick ein und sagte:
"Wozu will er DAS denn?"
"Am Ende, nach etlichen Sprüngen befindet er sich dann in einer Umgebung, in der er ganz präzise ausdrücken kann wo er als nächstes hin will..."
"Wenn er z.B. sagt ich will in ein Universum, das ganz grün ist, dann kriegt er das auch... Im Gegensatz zu unseren eingeschränkten Möglichkeiten."
"Am Ende macht er noch irgendeinen unverständlichen Sprung. Das ganze scheint relativ harmlos zu sein, ich schlage vor, wir folgen ihm einfach und holen ihn dann zurück." Mark überlegte.
"Killen kann uns das Zeugs ja nicht, sein Licht ist noch am brennen. Außerdem, wenn wir ihn nicht bald finden kann ich für nichts garantieren - Tollwutmäßig mein ich."
Die beiden waren für den Abflug bereit. Sicherheitshalber hatten sie Druckanzüge angelegt - Für den Fall, daß sie in eine unwirtliche Gegend gebracht würden, in der es keinen Sauerstoff oder ungünstige Druck- und Hitzeverhältnisse gab. Als Mark noch das Visier seines Helms heruntergeklappt hatte, nickte er Dennis zu und die Startprozedur wurde eingeleitet.
Gleißendes Licht ergoss sich über den Startraum als die Energie von einem Terajoule die TRUN-Pforten unter ihren Füssen öffnete.
"Es geht los", sagte Dennis in den Sprechfunk. Danach wurde es abrupt dunkel und sie befanden sich im Nichts.
"Mal sehen wie lange es dauert, hab schon lange keine Spider-Reise mehr gemacht."
Mark wollte beiläufig und souverän klingen, aber das Unbehagen war deutlich seiner Stimme anzumerken. Der Sprungzähler an seinem Handgelenk addierte im Sekundentakt einsen dazu. Fünfzehn Minuten später waren sie schon bei eintausend Universalsprüngen und ein Ende noch nicht abzusehen.
"Wir müssen aufpassen. Wenn das so weitergeht, müssen wir abbrechen. Die Ausrüstung ist bei so vielen Sprüngen nicht ausgetestet... und..."
Dennis konnte den Satz nicht beenden, sie waren am Ziel angekommen.
Die beiden traten aus ihren TRUN- Kreisen heraus und schauten sich um. Mark wollte gerade sein Helmvisier hochklappen als er merkte daß er keinen Helm anhatte. Vorsichtig griff er sich an den Kopf, aber seine Hand traf ins Leere. Panik erfaßte ihn, als er merkte daß er keinen Körper hatte. Er schaute zu Dennis rüber und sah nur eine Nebelartige, leicht leuchtende Erscheinung.
"Dennis! Bist du noch am Leben? Wo sind wir hier?"
"Ich bin noch da... Irgendwie", antwortete Dennis. "Hier scheint es überhaupt keine Materie zu geben, aber sonst gehts mir ganz gut."
Sie schauten sich um und sahen in jeder Richtung nur ausgedehnte Unendlichkeit, keine Spur von irgendwas, das aus Atomen zu bestehen schien.
"Wie kommt es daß wir miteinander sprechen können, beim fehlen sämtlicher dafür benötigter Organe?", warf Dennis ein.
"Es sieht nach Gedankenaustausch aus, aber frag mich nicht wie das funktioniert. Na jedenfalls wär der Ort ein Hammer in unserem Reiseangebot, die Leute würden sich nur so darum reissen."
Die beiden lachten schallend, oder besser gesagt dachten sich schallendes Gelächter. Dennis bemerkte ein seltsames Gebilde in weiter Ferne.
"Du lieber Himmel, da kommt irgendwas auf uns zu!"
Da sie nicht wußten wohin sie laufen (oder schweben)sollten blieben sie einfach an ihren Plätzen und warteten auf das Ding.
Das Gebilde war etwa gleich groß wie sie selber, nur leuchtete es intensiver. Es blieb ein paar Meter vor ihnen stehen.
"Hallo Neulinge. Ich bin Silence, die Göttin der Wollust", sagte das schimmernde etwas.
Mark wußte nicht warum, es durchdrang ihn sofort tiefe Sympathie für das Wesen und er formulierte ein gedachtes Lächeln. Dennis fing sich als erster und fragte: "Kannst du uns erklären wo wir uns hier befinden?"
"Ihr seid im Götteruniversum."
"Heißt das, es gibt noch mehr von euch hier?"
"Ja, wir sind milliarden in der Anzahl, für jede Angelegenheit gibt es einen Gott, der die Geschicke in anderen Universen steuert."
"Schaut mal da unten..." Sie wies in die Ferne und die beiden Gäste erblickten eine sich in die Unendlichkeit erstreckende Ebene, die erst jetzt für sie sichtbar wurde. "Das ist das Meer der Götter."
Mark war hin- und weg von dieser Geisterescheinung der Wollust, obwohl er sie nur gedanklich wahrnehmen konnte. Hätte er im Moment ein Herz gehabt, würde es wild pochen, und bei vorhandenen Hormonen würden diese jetzt seinen gedachten Körper überfluten. Dennis, der Vogelkundler war da weniger emfänglich für und bestand auf Nüchternheit.
"Wir sind auf der Suche nach unserem Freund Edwin, weißt du wie wir ihn hier finden können?"
"Wir haben hier keine Namen in eurem Sinne, aber ich bin sicher GOTT kann euch helfen."
"GOTT? ", fragte Dennis verdutzt.
"Ja, er ist das Oberwesen hier, er weiss alles. Wenn ihr wollt, führe ich euch zu ihm."
Die beiden wollten gerade zustimmen, da veranlasste Silence, daß sie an einem anderen Ort auftauchten. Hier sah es genauso leer wie vorhin aus, bis auf das riesige transzendent leuchtende Objekt vor ihnen.
"Darf ich vorstellen: das ist GOTT", sagte sie.
Unsicher, wie man sich vor GOTT verhält, räusperte sich Mark und hauchte ein leises "Hi".
"Hallo", entfuhr es Dennis, und er wollte die Hand zum Gruß heben, ließ es aber lieber.
Das riesige nebelige Ding ließ eine kurze Pause verstreichen, dann sprach es zu den sterblichen:
"Habt ihr mich also gefunden, ihr Halunken! Wer hätte das gedacht."
"Edwin!", schrie Dennis, "Was um alles in der Welt hast du gemacht?"
Von allen Momenten die er kannte war das für Mark der geeigneteste, den Kiefer hängen zu lassen, und er tat es auch ausführlich, obwohl es niemand sehen konnte.
Das GOTT-Wesen erklärte:
"Ganz einfach- ich hab schrittweise Universen aufgesucht, die eine bessere Ausdrucksmöglichkeit der Spezifikation bieten. Im letzten hab ich dann als Ziel die Welt angegeben, in der ich der Gott über alles bin. Nun, wie ihr seht hat es geklappt."
Nach diesen Worten grinste das Edwin-Gebilde selbstverliebt.
"Du Riesenarschloch! Du Psychopath kommst sofort mit uns zurück, sonst sind wir unsere Jobs los!".
"Hahahaha!", dröhnte es aus Edwins Richtung. Eure jämmerlichen Jobs interessieren mich nicht im geringsten. Bleibt doch einfach hier und ich mache euch auch zu Göttern. Ist viel interessanter als das normale Leben, sag ich euch.
"Quatsch", entgegnete Dennis. "Der Retourn-Mechanismus tritt gleich in Kraft und holt uns zurück. Wenn du nicht mitkommst, verspreche ich dir, werden die dich feuern!"
"Der Retourn-Mechanismus kann nichts gegen Gottheiten ausrichten. Ich kann euch dazu machen, dann könnt ihr für immer hier bleiben."
Während die Retourn-Welle bereits TRUN-Kreise unter ihnen bildete, schrie Mark hastig
"Ich will hier bleiben!" und wand seinen Blick Silence zu. Dennis schrie seinen Kumpel fassungslos an:
"Du spinnst ja vollkommen! Kommst mit und keine Widerrederrralllal..."
Seine Worte erstarben in einem Zischen und dann war er weg.
Dennis war wieder unterwegs nach Hause. Er hatte seinen Körper wieder. Sein Kopf steckte nun im gewohnten Druckhelm und am Handgelenk subtrahierte der Sprungzähler unaufhörlich einsen. Schneller als auf dem Hinweg war er zurück in seinem Heimuniversum.
Als er da war, fiel ihm sofort etwas auf. Die Welt hatte sich verändert. Er war nicht mehr im Transworld-Gebäude - es gab überhaupt kein Transworld-Gebäude mehr. Die Stadt, die früher das Firmengelände umgab, gab es auch nicht mehr. Dennis starrte auf ein paar Lehmhütten, vor denen in Lumpen gehüllte Bauern ihr Feld bestellten. Seine Trans-Ausrüstung war weg und er hatte stattdessen einen Leinensack an und stand barfuß im Matsch.
Wahnsinnig vor Wut ging er auf einen der Bauern zu, um ihn zu fragen was hier los sei, als er einen Anhänger an dessen Brust baumeln sah. In Holz eingraviert grinste das dämliche Antlitz von Edwin. Als der Bauer bemerkte, daß Dennis den Anhänger anstarrte, verdrehte er die Augen nach oben und sagte
"GOTT, GOTT",
dann fiel er auf die Knie um zu beten.