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Gott und seine Welt
Die Kirchglocke läutet über dem Dorf. Es ist zwölf Uhr Mittag an einem friedlichen Sonntag. Gott scheint heute ganz besonders nah bei den Menschen zu sein.
Im Gottesdienst stehen die Leute vor einem Rätsel: Der alte Gültscher, der sonst immer allein in der vordersten Bankreihe sitzt, ist heute nicht in der Kirche. Und weil er fehlt, zitiert auch keiner eine Bibelstelle. Keine vom Tier zumindest. Die Leute tuscheln, der Gültscher sei vermisst, weit weg, wahrscheinlich tot. So einfach habe er noch nie gefehlt, der Zeigefinger Gottes. Mit der einen Ausnahme, als er so krank gewesen sei, dass er angeblich Jesu Leuchten auf den Liedern gespürt habe.
Zur selben Zeit wie die Kirchglocke den Gottesdienst beendet, nimmt im Nachbardorf die alte Tanner den Topf vom Herd. Vom Sohn hält sie nichts. Aber für den Enkel macht sie heute sogar Suppenwurst. Mit schmalen Augen schaut sie durch das schmutzige Fenster. Das Hofgatter zwischen den Bäumen schaukelt. Der Hund trottet an den Hühnern vorbei. Herumtreiber, denkt sie. Eines Tages wird er wie sein Vater, so sicher wie Leben und Tod zweierlei sind!
Gleichzeitig, wie dies durch ihren zu früh ergrauten Kopf geht, schlendert der Junge die Dorfstraße hinab. Die Glocke verklingt im Tal und die Feinen und Wohlbekleideten strömen nach Hause.
Der Vater hockt im Wirtshaus. „Hau ab, Junge! Geh heim!“, schnauzt er und mit seiner steinharten Hand ohrfeigt er ihn auf die Straße hinaus.
Die Wange brennt noch immer, als der Junge den See erreicht. Der Vater ist ein Schwein, denkt er wie so oft und tritt einen leeren Holzeimer um, der vor dem Bootshaus steht. Warum holt Gott immer die Falschen? Warum kann nicht Vater tot sein?
Hinter dem Steg schillert dunkel der See.
Der Uferweg ist grasbewachsen. Er hat zwei ausgetrocknete Fahrrillen und der Junge spielt Leben und Tod. So hüpft er über die kahlen Stellen und hat ständig den Kitzel im Nacken. Er könnte stundenlang so trödeln, denn irgendetwas lässt sich immer in Leben und Tod einteilen. Aber auf halber Strecke beginnt ein Wäldchen. Und dort wo der Weg in die Baumschatten eintaucht, bleibt er stehen. Er blickt über das dunkle Wasser. Über der Insel hängt Rauch. Komisch, denkt er, denn er weiß, dass die Insel dem Gültscher gehört.
Unter den Baumkronen meidet er die Sonnenflecken und streift durch das raschelnde Laub. Der See schwappt zwischen niederem Gehölz und gurgelt und schmatzt. Ein Ruderboot schaukelt unter einem dicken Ast.
Der Junge steigt auf den Baum und kriecht den Ast entlang. Über dem Boot summen Bienen. Auf der Reling glitzert eine goldene Flüssigkeit, die sie zu mögen scheinen. Vorsichtig hangelt sich der Junge hinab in das schwankende Boot und als es ruhig liegt, tupft er mit einem Finger in die Flüssigkeit. Honig, denkt er staunend. Wer streicht den Honig auf sein Boot?
Über seinem Kopf kracht es laut. Erschrocken sieht er sich um. Der Wald rauscht leise und ein paar Vögel singen. Ansonsten ist es still.
Es war nichts, denkt der Junge und widmet sich wieder dem Boot und überlegt, wem es wohl gehören könnte.
Ein Hecht schießt platschend aus dem Wasser hervor und schnappt nach einer Mücke. Der Junge beugt sich aus dem Boot und folgt gespannt dem glitzernden Wesen, bis es im grünlichen Nass nicht mehr zu sehen ist. Als er den Kopf über das Wasser senkt, um noch mehr Fische auszumachen, entdeckt er an der Außenseite des Bootes einen Schriftzug: „Der Engel des Herrn“, steht dort. Nur, dass der Junge es natürlich auf dem Kopf stehend liest, was ihm nicht leicht fällt. Ein komischer Name, befindet er. Und was ihn außerdem verwundert, ist ein komischer roter Farbstreifen, der neben den Lettern prangt. Wie aus Blut, schießt es ihm durch den Kopf. Sofort fällt ihm eine biblische Geschichte ein: Die, in der ein Gottesengel alle erstgeborenen Ägyptersöhne totschlägt und nur die Familien verschont, an deren Türpfosten ein roter Blutstreifen prangt. Der alte Gültscher hat diese Geschichte erzählt. Er hat gerne über diesen Engel gesprochen, der Gültscher. Den Engel des Herrn, so hat er ihn genannt. Ja, Gültscher wollte Angst verbreiten. Angst vor dem Tod und Angst vor Gott. Selbst der Großvater hat ihn deswegen schon lange für verrückt erklärt. Aber der Junge ist sich da nicht so sicher: Es kann doch sein, dass er Recht hat der Gültscher, was dann? Ängstlich horcht er in den Wald hinein. Die Bäume schweigen. Dann stiebt ein Vogelschwarm aus dem Blätterdach auf. Aber der Junge ist deswegen nicht beunruhigt. Er weiß ja noch nichts davon, dass alles Geschehen eine Ursache hat.
Unter dem Sitzbrett findet der Junge ein Stoffknäuel. Grobe Kleider: ein geriffeltes, dunkles Kordjackett, ein braunes Hemd, lederne Gartenhandschuhe und eine Drillichhose. Nur die Schuhe fehlen, denkt er. In der Rocktasche findet der Junge etwas Kleingeld und eine silberne Taschenuhr. Auch ein schrumpeliges Schnäuztuch steckt darin. In einer Ritze zwischen den Bohlen glitzert es. Der Junge vergisst alles andere und hebt das glitzernde Ding auf. Ein goldenes Kruzifix. Das kennt er doch! Es gehört dem Gültscher! Dann ist es also Gültschers Boot, denkt der Junge zufrieden. Und plötzlich kichert er. Ob der Alte jetzt nackt durch den Wald läuft? Plötzlich hat er eine Idee. Er schält sich aus seinen Sonntagskleidern und schlüpft in die große Hose und das Jackett hinein, dann hängt er sich das Kruzifix um den Hals und ruft vergnügt: „Ich bin der Gültscher!“ Und als er auch noch seine Schuhe auszieht und sie in einem Anflug von Verwegenheit unter der Sitzbank verstaut, nähert sich gut sichtbar und von der Sonne beschienen ein Mann seinem Baum.
„He, Knirps! Was hast du vor?“ Seine Stimme ist hell und freundlich. „Sag mir doch, wo du an einem so schönen Nachmittag hin rudern willst!“ Der Mann hat unendlich blaue Augen, trägt ein dünnes Hemd und einen Strohhut und unter seiner Nase steht ein leuchtendroter Schnurrbart, den er versonnen zwirbelt. Der Junge steht mit dem Rücken zum See in dem schaukelnden Boot, ansonsten wäre er geflohen. „Was wollen Sie von mir?“, fragt er leise. „Gott sei Dank nichts Schlimmes“, meint der Mann und mustert ihn von seiner erhöhten Uferposition aus wohlwollend. „Lass mich dich nur begleiten. Ich kenn mich bestens aus hier, ja? Wie in meiner eigenen Westentasche, wie man so schön sagt.“ Er lacht gackernd. „Aber… ich muss nach Hause“, sagt der Junge kleinlaut. „Deine Großmutter wartet auf dich, ich weiß. Das weiß ich besser als jeder andere. Ist es nicht immer wieder schön? Allwissend zu sein, meine ich.“ Der Mann gluckst leise und zwinkert ihm zu. Da nimmt der Junge all seinen Mut zusammen: „Sind Sie irre?“ Der Mann ist überrascht. „Also nein, wovon redest du nur!“ Sein Gesicht wirkt ehrlich empört, so dass es dem Jungen schwer fällt, sich nicht zu schämen. „Entschuldigung“, murmelt er verlegen. „Das… das kommt nur davon, dass meine Großmutter mir erzählt hat, dass im Wald manchmal Irre herumlaufen. Weil da doch dieses Irrenheim ist, ganz in der Nähe, in Schüssenried, glaub ich.“ Der Mann schmunzelt. „Ich weiß, ich weiß. Aber sei dir sicher, dass ich da nicht hingehöre. Es ist doch allerhand, was dir die Erwachsenen so alles erzählen!“ Doch dann tut er so, als falle es ihm wie Schuppen von den Augen. „Ach, jetzt weiß ich, was sie wahrscheinlich meint, deine Großmutter! Neulich stand darüber was in der Zeitung! Dass einer ausgebrochen sei! Ja, davon hab ich gehört.“ Der Mann lacht und er klingt dabei wie eine rostige Gießkanne, fremd und grell und hallend. Dann springt er mit einem Satz in das Boot. Es schwankt ganz gehörig und weil es damit nicht aufhören will, solange sie beide mit rudernden Armen nach dem Gleichgewicht suchen, packt der Mann den Jungen an den Schultern und drückt ihn auf die vordere Sitzbank. Er tut das ganz sanft, nicht grob, wie ein Irrer. Aber trotzdem bleibt dem Jungen fast das Herz stehen.
„Sie sind der Mann aus der Anstalt!“, keucht er entsetzt. Der Mann sieht ihn an, ungeduldig und leicht verärgert. „Aber nein. Letzte Woche ist einer ausgebrochen, aber nicht ich! Hab ich doch schon gesagt! Ich weiß es, ich weiß es sogar ganz genau! Und weißt du auch warum?“ Der Junge windet sich im Griff des Mannes. „Weil er tot ist. Hörst du, der Irre ist tot!“ „Aber…“ Der Junge hört plötzlich auf sich zu wehren. „Wenn er tot ist, der Irre, warum schreiben sie das dann nicht auch in der Zeitung?“ „Ach, die Zeitung. Vermutlich stand es wieder mal auf einer der hintersten Seiten. War ja nur ein Irrer. Mach dir darüber mal keine Sorgen“, sagt der Mann und lockert seinen Griff. „Der Kerl, also der Irre, hat sich auf die Schienen gelegt. Da lag er auch noch, mausetot, als ich dazukam.“ Der Junge befreit sich ganz von ihm. „Wer‘s glaubt wird selig! Bist du vielleicht einer, der Leichen zum Friedhof bringt oder was? Dann brauchst du einen schwarzen Anzug!“ „Nicht zum Friedhof. Und nicht die Leichen“, antwortet der Mann und wischt sich kleine Schweißperlen von der Stirn. „Ich bin vielmehr für das Wesentliche zuständig. Und ich bin auf keinem Fall der Irre“, beteuert er mit breitem Grinsen. „Du kannst mir trauen. Siehst du?“ Der Mann fasst sich an die Brust. „Ich schwöre hoch und heilig: Ich bin nicht der Mann, der vom Zug überfahren wurde. Denn der war der Irre aus dem Sanatorium und der bin ich nicht. Und das ist die Wahrheit, so wahr ich mir helfe und bei all meiner Herrlichkeit, in Ewigkeit, Amen!“ Der Junge schweigt ehrfurchtsvoll. „Manche Leute glauben vielleicht, dass ich eine kleine Schraube locker habe“, fuhr der Mann fort. „Und dass ich Manches tue, das sie nicht so wirklich verstehen, macht es auch nicht leichter. Na ja.“ Er holt tief Luft. „Jedenfalls war es ein ganz schönes Spektakel. Glaube mir! Als der sich vor den Zug geschmissen hat, war er geschnetzelt wie ein Stück Pute!“ Der Junge runzelt die Stirn. „Das glaubst du ja selbst nicht.“ Der Mann sah ihn beleidigt an. „Du solltest nicht so unhöflich sein! Ich erzähl dir ja nur, wie’s war!“ Der Junge mustert ihn kritisch. „Warst du ehrlich dabei?“ „Ja! Natürlich! Als ob ich lügen könnte!“ Der Mann hält kurz inne und ein kleines Siegerlächeln schleicht sich über sein Gesicht. „Klar, es interessiert dich, was da passiert ist. Wusste ich‘s doch! Also, es war nur zwei Kilometer entfernt von hier. Der Kerl kam aus der städtischen Anstalt, wie gesagt. Er kam hierher in die Gegend, denn er wollte heimkehren. Da hat man ihn aber natürlich bereits erwartet - im Haus meine ich. Und da ist er rasch wieder abgezwitschert. Einfach aus dem Fenster. Schwups über den Gartenzaun und schwups zu den Schienen. Und dann: Ding, ding, ding…“ Der Mann macht mit der Hand eine Geste, als führe ein Zug vorbei und nehme mit einem Schlag etwas mit. „Verstehst du?“ Der Junge nickt. „Die eine Hälfte sah aus wie ein Pfannkuchen und die andere wie achtzig Pfund Suppenfleisch.“ Der Junge kichert. „Das gibt’s ja nicht!“ „Wenn ich‘s dir doch sage! Ich weiß sogar, wer der Irre genau war! Mit Name und Wohnort.“ Der Junge sieht ihn forschend an. „Und wer?“ „Ach, du kennst ihn natürlich nicht.“ Der Mann winkt ab. „Nur ein Milchbauer, der hier in der Gegend mal eine Molkerei geführt hat. Bevor er irre wurde, natürlich.“ „Mein Großvater war auch Milchbauer“, sagt der Junge. „Er ist tot“, nickt der Mann wissend. „Er war nicht irre, aber er ist tot.“ Der Junge kämpft gegen die Tränen an. „He, Kopf hoch! Ich bin mir sicher, ihm geht’s gut, da wo er jetzt ist“, sagt der Mann. Der Junge wischt sich mit dem Ärmel über die Augen. „He, Knirps, weißt du was? Wir rudern eine Runde! Was hältst du davon?“ „Aber ich muss nach Hause.“ „Ach, i wo. Ich rudre dich heim, quer über den See. Das geht viel schneller und ist ungeheuer interessant. Wirst sehen.“ „Ich… ich weiß nicht“, meint der Junge zögernd. „Denk nicht so viel nach, du weißt doch jetzt, dass ich nicht der Irre sein kann.“ Der Junge nickt zögernd. Während der Mann mit geschickten Händen das Tau von dem Ast löst, fragt er: „Willst du Schokolade?“ Der Junge überlegt. „Na, vielleicht später“, meint der Mann und wirft das Tau lässig ins Boot. Während er die Ruder unter den Bänken hervorzieht, legt der Junge seine Hände auf das trockene Holz der Reling und zuckt zurück. Die Finger kleben. Verstohlen schmiert er sie an der Gültscherhose ab, dann bemerkt er, dass der Mann ihn beobachtet. „Da ist Honig dran“, erklärt er beschämt. „Ich weiß“, sagt der Mann. „Ich hab ihn schließlich dort verteilt. Pass auf!“ Er lässt die Ruder los, die locker in den Laschen pendeln und holt ein goldgelbes Glas hervor. „Der ist für die Bienen“, erklärt er. „Als Dank.“ Demonstrativ träufelt er eine dünne Spur auf die Reling. „Ich mag die Bienen. Sie leben nur für ihr Volk. Und für die Blüten an unseren Obstbäumen. Nur ihnen haben wir es zu verdanken, dass wir Obst kennen.“ Das versteht der Junge, denn mit dem Großvater war er oft auf den Obstwiesen unterwegs. Es gefällt ihm, was der Mann sagt und der Mann scheint auch zufrieden. Er zerzaust ihm das Haar. „Ich sehe schon, du bist ein Bienenfreund. Du hast Glück, dass du mich getroffen hast. Wenn du willst, zeige ich dir noch mehr interessante Dinge.“ Der Junge nickt mit leuchtenden Augen. Nun, da seine Angst weg ist, kann er den Mann ganz anders sehen. Zum ersten Mal seit Großvaters Tod spürt er, dass ihn einer ernst nimmt.
Als sie in ruhigen Zügen über den See gleiten, beginnt der Junge zu fragen: „Wieso heißt das Boot so komisch?“ „Engel des Herrn meinst du?“ Der Mann überlegt. „Tja, eine schwierige Frage. Beinahe theologisch. Vielleicht erkläre ich es so: Viele Menschen glauben, dass es einen Todesengel gibt. Aber das ist Quatsch…“ „Das fand mein Großvater auch!“, ruft der Junge. „Und meine Großmutter! Aber der Gültscher behauptet…“ „Der Gültscher“, unterbricht ihn der Mann harsch, „hat dazugelernt!“ Seine Augen flackern für einen Moment auf, wie bleckende Kerzen. Das irritiert den Jungen. Und als der Mann das erkennt, blinzelt er rasch. „Entschuldige. Der Gültscher war ein schrecklicher Moralapostel. Aber er hat sich gebessert, du kannst mir ruhig glauben.“ Er lächelt grimmig. „Er ist daheim“, fügt er erklärend hinzu. „Aber… daheim ist er nicht…“, widerspricht der Junge verwirrt. „Nein, natürlich nicht. Nicht so wie du denkst. Aber Gültscher hin, Gültscher her, wir hatten es davon, dass es den Todesengel nicht gibt. Dein Großvater war ein schlauer Kopf. Nicht alle wollen wahrhaben, dass ich auch solche Seiten habe. Unangenehme Aufgaben.“ Der Junge runzelt die Stirn. „Du? Aber ich dachte, wir reden über…“ Er sucht vergeblich nach dem richtigen Wort, aber er merkt plötzlich, dass er gar nicht mehr so sicher ist, um wen oder was es hier eigentlich geht. „Wir reden über Gott“, sagt der Mann hilfsbereit. „Ja, mein ich doch“, nickt der Junge bekräftigend. „Also über mich“, sagt der Mann und genießt die Ratlosigkeit, die abermals das Gesicht des Jungen beschleicht. „Na, so schwer ist das nicht zu begreifen“, springt ihm der Mann zur Hilfe. „Wir reden über Gott und wir reden über mich. Aber wir reden nur von einer Person. Also bin ich wohl Gott. Oder irre ich da?“ Der Junge öffnet stumm den Mund. Und plötzlich perlt ein helles Lachen aus seiner Kehle hervor. „Du bist Gott?“ „Aber ja!“ Der Junge presst sich beide Hände vor den Mund und läuft vor Begeisterung rot an. Der Mann weidet sich an seinem Anblick. Schließlich beteuert er feierlich: „Ich bin‘s, so wahr ich hier sitze und rudere. Glaub mir oder glaub mir nicht. Das ändert nichts an der Tatsache.“ Der Junge schüttelt seinen Lachkrampf ab und versetzt, beinah ärgerlich: „Blödsinn! Gott sieht anders aus, ich bin doch kein Esel!“ Der Mann schüttelt nachsichtig den Kopf. „Nein, ein Esel bist du sicher nicht. Übrigens“, setzt er unbekümmert fort, „du trägst ungewöhnliche Kleider für einen Jungen deines Alters. Willst du nicht wissen, wer sie vor dir getragen hat?“ „Der Gültscher!“, sagt der Junge prompt. „Aber ja, wir klug du bist! Er wollte gerade zur Gartenarbeit, der alte Kerl, rüber zu seiner Insel, da hab ich ihn abgepasst. Er wollte mir auch nicht glauben, dass ich Gott bin. Zuerst. Dann aber hat er es eingesehen. Er hatte ein völlig falsches Bild von mir.“ Der Junge schneidet eine Grimasse.
„Ich sehe schon, du hältst mich für einen Aufschneider“, seufzt der Mann. „Aber dagegen kann ich nichts machen. Eigentlich ist es dein Problem. Die Kleider kannst du übrigens behalten. Der Gültscher hat sicher nichts dagegen.“ Der Junge mustert den Mann. Er weiß nicht mehr, was er glauben soll und was nicht. Schließlich kommt ihm ein Gedanke: „Du strahlst nicht!“ „Ich strahle nicht?“ „Ja!“, ruft er triumphierend. „Und deshalb kannst du nicht Gott sein!“ „Oha! Ein pfiffiger Einwand. Aber erkläre mir eins: Wieso sollte ich strahlen, wo ich doch nicht die Sonne bin? Oder eine Lampe?“ Der Junge grübelt über seine nächste Antwort nach, er will sich nicht so einfach geschlagen geben. Der rothaarige Mann zwirbelt versonnen seinen Schnurbart. „Ich bin aus Fleisch und Blut, wie du“, meint er schließlich. „Du bist nach meinem Ebenbild geschaffen. Also, wenn du nicht strahlst, wie könnte dann ich es tun? Das wäre ja unlogisch. Und überhaupt, warum braucht es einen Gott, der strahlt? Zum Strahlen habe ich die Sonne geschaffen, die ist hell genug für alle. Oder merkst du etwa nicht, wie der See glänzt? Und die Bäume atmen? Die Luft ist hier so frisch, dass man darin baden könnte. Das verdankst du nur der Sonne. Oder mir, denn ich habe sie ja geschaffen.“ Er lacht wieder, wie eine rostige Gießkanne und dieses Lachen erscheint dem Jungen diesmal wie das Lachen eines guten alten Kerls. Wie das Lachen Gottes vielleicht.
„Wenn du also Gott bist“, setzt er zaghaft an, „wieso musst du dann rudern?“ „Na hör mal, das ist ja wirklich albern!“ Der Mann hört auf zu rudern. „Siehst du jemanden, der mich ablöst? Nein! Und darum muss ich rudern!“ Der Junge schüttelt unzufrieden den Kopf. Aber der Mann sagt: „Du kannst aufhören zu rätseln. Ich bin Gott! Mit Leib und Seele! Das Beste wird sein, ich zeig dir den Himmel. Wenn du deinen Großvater dort siehst, wirst du mir wohl endlich glauben!“ Der Junge starrt ihn ungläubig an. „Ist… ist das wahr?“ Der Mann nickt. „Er ist da und erwartet dich. Wir sind eigentlich schon längst unterwegs zu ihm. Ich stelle dir meine Jünger und all die anderen vor, danach bringe ich dich zu ihm. Du wirst dich rasch einleben, das wette ich. Siehst du, da drüben ist es!“ Er zeigt auf die noch ein gutes Stück entfernte Insel, wo noch immer dunkler Rauch aufsteigt. „Aber das ist doch nicht der Himmel! Der Himmel muss viel weiter weg sein!“ „Wer hat dir denn den Unsinn erzählt? Aber gut, du hast in einem Punkt Recht. Da drüben ist nicht der Himmel, sondern nur der Eingang. Und genauso gut könnte der auch woanders sein, wenn ich ehrlich bin. Aber heute will ich ihn eben dort haben. Weißt du, ich kann die Himmelspforte, wie der Eingang hierzulande genannt wird, überall öffnen. Bei deinem Großvater war sie ganz einfach in seinem Bett.“ Mit großen Augen bestaunt der Junge den Mann. Das ist wirklich Gott, denkt er. Woher weiß er sonst all das? Aufgeregt malt er sich aus, wie er den Großvater wiedersehen wird. Wenn das die Großmutter wüsste! Oder der Vater! Gott lächelt still vor sich hin und rudert weiter. Doch nach einigen Zügen lässt er unvermittelt die Ruder los und packt mit flinkem Griff unter seine Jacke, wo er etwas Flaches zum Vorschein bringt. „Schokolade gefällig?“ Diesmal greift der Junge zu. Die Schokolade zerschmilzt süß und weich in seinem Mund. Komischerweise schmeckt sie aber nicht anders als die Schokolade, die er ab und an aus Großmutters Schublade stibitzt. Als er Gott das sagt, antwortet der gelassen: „Du hast gestohlen? Nun, das ist nicht so schlimm. Du magst eben Schokolade. Ich auch. Solange du nicht Geld stiehlst. Das ist nämlich viel schlimmer. Es sei denn, du bist bettelarm, dann ist es was anderes. Aber gut, was wollte ich sagen? Ah! Das ist schon das erste Geheimnis um den Himmel, worüber wir hier sprechen: Wieso sollte die Schokolade dort besser schmecken als hier? Sie schmeckt doch auf der Erde schon gut genug.“ Er lacht überlegen und isst auch ein Stück. Während sich der Junge, grübelnd über Gottes Antwort, die verschmierten Zähne blankleckt, lässt er eine Hand aus dem Boot baumeln. Es ist schon Herbst, das Wasser ist beißend kalt, aber das ist ja gerade das Schöne daran. In der Mitte des Sees, fragt der Junge plötzlich: „Ist das Wasser im Himmel kälter oder wärmer als hier?“ Gott lächelt. „Rate mal.“ „Vielleicht ist es gerade so, wie das Wetter es zulässt?“ „Ha! Genau! Du hast es endlich begriffen!“ „Aber dann ist es im Himmel ja nicht anders als auf der Erde!“ „Nein. Und warum auch? Himmel und Erde sind so eng miteinander verbunden, dass dir kaum ein Unterschied auffallen dürfte. Nur, dass ihr nach dem Tod noch in Gesellschaft all der netten Engel und Jünger seid. Und all der Verstorbenen, wie dein Großvater einer ist.“ Der Junge lacht übermütig. „Fein!“, ruft er und reibt sich die Hände. Er ist stolz, dass er es verstanden hat. „Ich sollte nur noch wissen, wie lange wir bleiben. Sonst macht sich die Großmutter Sorgen, weißt du, Gott?“ „Oh, weißt du, wir bleiben für immer. Deine Großmutter kommt nach. Du wirst gar nicht mal so lange warten müssen.“ „Oh...“, der Junge ist irritiert. „Aber… können wir nicht noch mal kurz bei meiner Großmutter vorbeigehen?“ „Nein, das können wir nicht!“, sagt Gott knapp. „Ich… ich kann doch nicht einfach so verschwinden!“ „Das hast du doch schon längst getan.“ Gott dreht den Kopf zur Seite und schaut auf den See. Seine Augen flackern düster.
Scharfer Brandgeruch weht über das Wasser. Der Junge beißt sich auf die Lippen, während Gott verbissen rudert. Mit leichtem Zittern in den Knien schaut der Junge auf den Innenraum des Bootes, wo seine alten Kleider liegen. Ihm wird bewusst, dass die groben Kleider die er jetzt trägt, jemandem gehört haben, der vielleicht kurz vor ihm mit dem Mann gefahren war. Dem Gültscher… Seine Hände schließen sich fest um das Kruzifix. Dem Gültscher hat es gehört, dem alten Kerl. Wo auch immer er ist... Der Junge erinnert sich plötzlich an eine Geschichte, die davon handelt, dass die Menschen, die sterben müssen, in einem Boot über einen Fluss gebracht werden, hinab ins Totenreich. Er bekämpft seine Angst und schaut den Mann fest an. „Wenn du wirklich Gott bist, dann musst du mich gehen lassen!“ „Gedulde dich!“, antwortet dieser. Das Boot nähert sich der Insel. Der Junge kann die brandige Luft auf der Zungenspitze spüren. Weit entfernt am Seeufer liegt das Dorf. Hinter grünen Wipfeln ragt der Kirchturm auf und weiter vorne, an der Straße, kauert mit hellen Fenstern das Wirtshaus. Das alles sieht er und kann doch nicht hin. Vater, denkt er verzweifelt. Warum bist du kein Vater! Warum bist du nicht hier! Dann dreht er sich um und sieht am anderen Ufer zwischen Weiden und Feldern einen kleinen Wurf Bauernhäuser in die Hügel geschmiegt. Großmutter, denkt er. Die Kirchglocke schlägt hell. „Ich muss heim! Jetzt sofort! Tut mir Leid!“ „Sei jetzt still! Du kannst im Himmel jeden Menschen sehen, den du sehen willst“, knurrt der Mann. Er lügt, denkt der Junge. Gott ist nicht so! Er lügt die ganze Zeit! „Ich muss heim!“, brüllt er verzweifelt. „Ich hab es versprochen! Großmutter denkt sonst, ich wäre tot!“ Er klammert sich mit seinen kleinen Händen an die Reling und fängt an, wie von Sinnen das Boot zu schaukeln. „Tot, dass ich nicht lache!“ Der Mann lässt die Ruder los und beugt sich vor. „Wenn deine Oma mich persönlich kennen würde, dächte sie so was nicht! Sie würde sagen: Du habest die Seite gewechselt. Gib endlich den Gedanken auf, dass Tod und Leben einen Unterschied bedeuten, Knirps. Sie sind Zwillinge, verstehst du mich?“ Entschlossen zieht er den Jungen auf seinen Schoß. „Lassen Sie mich los! Ich will heim!“, schreit der Junge mit hoher Stimme. „Ich weiß“, presst der Mann mit zusammengebissenen Zähnen hervor. „Und ich, Gott, bin hier, um dir diesen Wunsch zu erfüllen!“ „Sie sind nicht Gott! Sie dürfen mir nichts tun!“ Von unbändiger Wut gepackt, strampelt der Junge sich frei. Er bringt dabei das Boot so heftig zum Schwanken, dass der erschrockene Mann mit beiden Händen an die Reling greifen muss, um das Gleichgewicht auszubalancieren. Die freie Sekunde nutzend, springt der Junge ins Wasser, wo er wie ein Stein eintaucht und sofort verschwindet. Der Mann ruft: „Du brauchst nicht zu fliehen! Alle Wege führen in den Himmel, wenn es mal soweit ist!“ Aber der Junge hört nichts mehr.
Nach Luft ringend taucht er auf. Hört die Stimme des Mannes rufen, aber Gültschers Kleider ziehen ihn unter Wasser. Die Jacke klebt schwer an seiner Haut und mit schwindender Kraft windet er sich aus ihr heraus. Lässt sie in Tiefe gleiten. Dann strampelt er noch seine Hose ab und ganz ohne Ballast weiß er, dass er es zur Insel schaffen wird. Er dreht den Kopf. Das Boot scheint fort. Angestrengt schwimmt er los und schließlich, nackt, bis auf die wollene Unterhose und das Kruzifix, kriecht er zwischen dichtem Schilfröhricht an Land. Die Sonne scheint hell über dem See und eine Weile liegt er da wie tot. Irgendwann schleppt er sich weiter, die Uferböschung hinauf, über eine Wiese, in der Insekten summen und auf das dichte Unterholz zu. Vielleicht ist jemand, bei dem Feuer, denkt der Junge. Vielleicht gibt es Hilfe! Er krabbelt zwischen die Äste und Dornen. Bekommt Tannennadeln und Erde in den Mund. Schürft sich den Ellenbogen auf. Erst zwischen einer Gruppe hoher Kiefern wagt er es, sich aufzurichten und umzuschauen. Die Insel ist friedlich. Nur der Brandgeruch verrät, dass etwas nicht stimmt.
Das Bootshaus, denkt der Junge. Da muss das Feuer sein! Er taumelt weiter. Dann sieht er es: ein großer Haufen Obstkisten, der lodernd in sich zusammenfällt. Das Gras ringsum ist verdörrt und schwarz. Qualm bedeckt den Himmel. Sein Atem geht schwer. Das Feuer muss schon lange brennen. Jemand muss immer nachgelegt haben, seit Stunden schon. Gerade bricht eine dicke Lage Kisten krachend und Funken sprühend in sich zusammen. Ein paar Flammen springen auf das Bootshaus über. Das trockene Rindendach fängt Feuer. Hustend schaut der Junge sich um. Da kann ich jetzt nichts machen, denkt er und will fortlaufen. Dabei stolpert er über etwas Schweres. Er schreit vor Entsetzen. Es ist der Gültscher. Er ist vom Qualm umschlossen und regt sich nicht. Trägt nur seine klobigen Arbeitsschuhe. Ebenso nackt wie ich, durchzuckt es den Jungen. Panisch dreht er sich im Kreis. Die Dunkelheit zwischen den Kiefern droht. Er wünscht sich heim. Will mit jemandem reden. Nur reden und in Sicherheit sein. Instinktiv umschließt er mit zittriger Hand das Kruzifix an seinem Hals und flüstert: „Lieber Gott…“ Und hält inne. Nein, nicht Gott! Nicht Gott! „Gültscher…“, raunt er stattdessen und kniet sich neben den Toten. „Tut mir leid, dass ich dein Kreuz geklaut hab, das wollt ich nicht. Ich dachte du wärst weg und tot und nicht mehr in der Gegend. Bist du auch in das Boot gestiegen, das Engel des Herrn heißt? Und dann bist du hier gestorben. Wie konnte das passieren?“ Dem Jungen versagt die Stimme. Er entdeckt die blauen Male an Gültschers Hals. Erwürgt, soviel erkennt er. Als er zum nächsten Atemzug ansetzt, raschelt es hinter ihm.
Im Feuerschein steht der Mann. „Da bist du ja endlich, Knirps! Ich dachte schon, du wärst ertrunken.“ Er lächelt triumphierend und mit zwei langen Schritten ist er bei ihm. Mit seinen großen Händen packt er ihn und während er ihn niederringt, lacht er fortwährend in sich hinein. „Siehst du? Da liegt der Gültscher! Oder was auf Erden von ihm über ist.“ Er drückt die Handgelenke des Jungen ins Gras. „Du solltest nicht schreien. Hörst du? Du hast keinen Grund dazu. Du nicht!“ Der Junge schluchzt hilflos. Plötzlich wird der Mann von einem heftigen Hustenreiz gepackt. Während er dagegen ankämpft, kriecht der Junge in den Qualm hinein. Am Bootshaus rappelt er sich auf. Über ihm knistern die Dachleisten. Funken regnen auf ihn herab. Panisch sieht er sich um. Der Mann hustet leise. „Mein lieber Himmel, darauf war ich nicht gefasst!“ Er wischt sich Asche aus dem Schnurrbart und kommt näher. „Du suchst nach einem Ausweg? Da!“ Erbarmungslos zeigt er auf das Feuer. Der Junge ist totenbleich. Seine Augen sind weit aufgerissen und er scheint aufgegeben zu haben. Aber auf einmal hat er ein glimmendes Holzbrett in der Hand. Mit Wucht schleudert er es auf den Mann. Als der erschrocken zur Seite weicht, verschwindet der Junge krachend im Gebüsch neben dem Bootshaus. Er hofft, noch einmal schwimmend zu entkommen. Bis zum Ufer! Bis dahin muss ich es schaffen!
Der Mann schüttelt lachend den Kopf und rückt seinen Strohhut zurecht. Er hebt das glimmende Holzbrett auf und mit Schritten, die keine gewöhnlichen Schritte sind, umgeht er das Gestrüpp und die Bäume beinahe als schwebe er. Und als der Junge keuchend zwischen den Zweigen am Ufer hervorbricht, wartet der Mann bereits auf ihn. Mit dem Holzbrett in der Hand sagt er: „Da bist du ja, Knirps.“ Dann kracht das Brett nieder. Der Junge sieht Schatten heraufsteigen. Er spürt wie es weich um ihn wird. Dann hört er ein lang anhaltendes Schleifen. Ein lauter werdendes Tosen. Dazwischen ein Lachen, wie von einer rostigen Gießkanne. Wie das Lachen eines guten alten Kerls. Wie das Lachen Gottes vielleicht.
Als der Junge noch einmal aufwacht, liegt er im Feuer zwischen den brennenden Obstkisten. Die Flammen toben um ihn herum. Sein Haar ist verschmort. Seine Haut ist versengt. Sein Augenlicht verlischt allmählich in der Hitze. Verschwommen erkennt er durch das bunte Zucken den Mann, der im rötlichen Schein der Wiese steht. Im Schmerz bäumen sich alle Farben im Kopf des Jungen auf. Er sieht Gültschers Kruzifix, das glühend auf seiner Brust liegt. Er sieht die Großmutter. Sieht den Vater. So ist das also, wenn man stirbt, denkt er. Dann wird seine Welt dunkel.
Die Kirchenglocken läuten über dem Dorf. Es ist zwölf Uhr Mittag, an einem friedlichen Sonntag. Gott ist heute ganz besonders nah bei den Menschen.
Als er die Augen öffnet, sieht er den See und der Wind streift über sein sauberes, entspanntes Gesicht. Der Gültscher in der vordersten Bankreihe hat geschwiegen. Der Großvater hat dem Jungen zugezwinkert, denn der Junge und alle, die je gestorben sind, wissen es nun. Wie das Universum funktioniert. Wie das Leben funktioniert. Wie der Tod funktioniert. Vielleicht sogar, wie Gott ist.
Denn vielleicht ist Gott nur wie wir.