Gott sei Dank!
Er saß jede Nacht auf dem Kasten. Starrte einfach nur aus dem Fenster. Ich hatte immer das Gefühl, dass er mich gar nicht wahrnahm, wenn ich im Zimmer war. Nicht einmal, wenn ich direkt neben ihm stand. Ich habe mich nie getraut ihn anzufassen. Ich arbeite auf der psychiatrischen Abteilung und man weiß ja nie was sich die Patienten so alles einfallen lassen. Erst neulich hat ein Patient einen minutenlangen Schreianfall gekriegt bloß, weil eine Krankenschwester sein Lieblingsstofftier in die Hand genommen hat. Nur damit Sie mich nicht falsch verstehen, ich will hier gar nicht schlecht über meine Patienten reden. Sind ehrlich gesagt mehr sowas wie Familienmitglieder für mich, sie gehen einem manchmal fürchterlich auf die Nerven und doch hat man sie gern.
Schon komisch, wie einem manchmal die Gesellschaft dieser Menschen, die angeblich nicht mehr funktionieren, vor Augen führt, wie krank die Welt eigentlich ist. Ich will mich jetzt auch gar nicht über die Welt beschweren, die kann ja auch nichts dafür wie absurd sie eigentlich ist. Die Gesellschaft, mit ihren Normen und Regeln, die ist schuld. Alles muss ins Muster passen, alles muss „normal“ sein. Wenn ihr mich fragt, die wirklich Verrückten findet man nicht in der Psychiatrie, außer vielleicht beim Betreuungspersonal. Und in dem Fall mache ich mich wohl gerade selber schlecht. Ich hatte heute nicht die beste Nacht. Viel Geschrei, eine Patientin wollte sich ständig den Katheter raus ziehen und dann noch der Neuzugang aus der Neuro. Schlaganfall, die Arme wird wahrscheinlich nie mehr ohne Stütze gehen können und weigert sich vehement zu schlafen. Sitzt nur da und hält die anderen Patienten wach, weil sie ihre Nachttischlampe nicht ausmachen will. Naja, ein bisschen Sturheit sei ihr gegönnt, schließlich wüsste ich auch nicht, wie ich reagieren würde, wenn man mir sagt, dass ich für den Rest meines Lebens mit einem Rollator herumschleichen müsste.
Also Sie sehen, bis jetzt war es eine lange Nacht. Ich hasse die Nachtschichten, ich höre dann immer förmlich mein Bett nach mir schreien. So, aber zurück zu meinem Lieblingspatienten. Er sitzt jede Nacht auf seinem verdammten Kasten und starrt aus dem Fenster. Ich weiß nicht einmal auf was genau er starrt, die Fenster sind vergittert und viel gibt’s dort draußen nicht zu sehen. Andererseits ist das Unterhaltungsangebot des Krankenhauses jetzt auch nicht gerade berauschend. Entweder starrt man in irgendeine Illustrierte, schaltet das Radio an oder kritzelt die Wände voll. Ja, wir haben auch Künstler unter uns, mehr oder weniger. Vielleicht sieht er die Gitterstäbe auch gar nicht, vielleicht starrt er auch einfach nur ins Leere, wer weiß. Ich habe schon lange aufgegeben, irgendeinen Sinn in dem zu suchen was meine Mitmenschen machen. Klar, betrinken wir uns mal und steigen ins Auto. Natürlich kann ich meine Frau und Kinder blutig schlagen, wieso nicht? Was, ich hab‘ doch bloß die letzten 40 Jahre geraucht, wieso hab‘ ich bitte Lungenkrebs?
Ja, da ist mir unser stiller Beobachter schon lieber. Trotzdem, komisch ist er schon. Ich frage mich nur, was da bei ihm so im Kopf vorgeht. Jetzt nicht was da falsch läuft, sondern eher woran er denkt. Schließlich muss er ja an irgendetwas denken, oder? Manchmal denke ich, er stellt sich vor, dass er nicht hier ist, in diesem trostlosen Zimmer, sondern irgendwo anders oder irgendwer anderes ist. Jemand der nicht still aus dem Fenster starrt, der nicht an ein Gebäude, ein Zimmer gefesselt ist. Oder vielleicht auch einfach jemand der als freier, „normaler“ Mensch durch diese Flure geht. Ohne dieses weiße Band um sein Handgelenk, das ihn als „Kranken“ brandmarkt. Als beschädigte Ware sozusagen, bei der der Kassenbon verloren gegangen ist und die jetzt hier gelagert wird. Vielleicht redet er auch deshalb nicht mit mir, weil ich ihn dann aus seiner schönen kleinen Welt herausreißen würde, in der er ein normales Leben führt. So wie man es sich vorstellt halt. Mit dem Job, der Freiheit und allem Drum und Dran. Ich schätze, er wäre schon zufrieden, könnte er wie ich sein. Ich bin zwar auch an dieses Gebäude „gefesselt“, ist ja schließlich mein Job, da kann ich schlecht abhauen, aber ich bin kein Patient, ich bin nicht krank. Ich stecke nur mit einem Haufen Irrer, und ich meine nicht nur die Patienten, in dieser Station fest. Ich drehe mich um und gehe auf den Flur hinaus. Weit und breit keiner zu sehen. Als ich mich umdrehe liegt er im Bett. Fast bewundernswert wie schnell er das hinbekommen hat. Als hätte er darauf gewartet, dass ich endlich aus dem Zimmer gehe. Aber gut, das erinnert mich daran wie müde ich bin. Ich glaube ich könnte gleich im Stehen einschlafen. Ich schaue rauf zu Decke, an der sich bereits einige Risse im Anstrich befinden. Das Licht flackert beständig, wie wir es alle aus den Horrorfilmen kennen, kurz bevor der Psychokiller sich sein nächstes Opfer krallt. Psychokiller, ich liebe Ironie.
Nein, ich könnte hier nie Patient sein, so viel ist sicher. Mit all‘ dem gesagt, drehe ich mich um und lege mich ins Bett, diese Müdigkeit macht dich fertig. Dieser Laden macht dich fertig, dieses gottverdammte Fenster mit seinen Gittern macht dich fertig. Gott sei Dank, bin ich nicht er. Gott sei Dank, bin ich „normal“ und funktioniere noch. Nicht defekt, keine Ausschussware. Denkt er sich und schläft ein, während die Gitterstäbe vor seinem Fenster ein Muster auf sein Gesicht werfen und das weiße Band um sein Handgelenk leise im Dunkeln zu schimmern scheint. Gott sei Dank.