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Gott im Wasserglas
Gott im Wasserglas
Sie steht vor mir und ich kann mich nicht entschließen. Denn das kann ich nie. Weil ich mich nicht entschließen kann, bin ich hier. Bin ich unterwegs.
"Einen Kaffee." Denn dann muss ich nichts entscheiden. Sie nickt und kommt schon nach Minuten wieder. Mit einer großen Tasse und eine Kanne in der Hand. Auf der grauen Resopalplatte wirkt die Tasse beinahe weiß. Aber das war sie mal. Ist sie nicht mehr. Ich konzentriere mich auf den Kaffee, den sie in geübtem Schwung hineingießt.
Sie verschwindet und kommt noch einmal wieder. Mit einem leeren Glas und einem Wasserkrug. Ich nicke nur, als sie eingießt. Dann lässt sie mich allein. Gedankenverloren greife ich nach dem Henkel meiner Tasse. Vielleicht will ich gar keinen Kaffee. Es bleibt ja noch das Wasser. Ich muss mich nicht entscheiden.
Aber für den ersten Schluck ist es noch zu früh. Neben der Tasse liegt ein Löffel. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass sie mir einen Löffel gebracht hat. Als ich zum Umrühren ansetze, klirrt das Metall gegen die Tasse. Eine Frau sieht nur einen halben Moment später über ihre Schulter zu mir herüber und ich sehe weg. Auf meine Tasse.
Der Kaffee wird durch das Rühren in einem Strudel nach unten gesogen und zieht sich an den Wänden hoch. Ein Trichter, der sich fortlaufend verformt. Ich erwische mich bei dem Gedanken, dass ich gern hineingesogen werden möchte. Meine Entscheidungen niemals treffen. Meinen Weg nicht fortsetzen. Und auch nicht zurückgehen. Niemals entscheiden. Einmal im Leben habe ich eine wirkliche Entscheidung getroffen. Und nichts so sehr bereut, wie das. Nie wieder etwas bereuen.
Nie wieder Tränen. Das denke ich mir jede Nacht. Und dann, am Morgen, habe ich die kleinen Krusten an meinen Augen und ein Blick in den Spiegel sagt mir, dass ich nicht loyal war. Dass ich mich einmal mehr betrogen habe. Um einen weiteren Tag.
Aber immerhin, denke ich, bin ich hier. Das ist schon mal eine Entscheidung. Nein, eigentlich nicht. Denn hierher bin ich nicht allein gekommen. Geschäftsreise. Und ja: Ich bin ganz in der Nähe. Hier trennen sich die Straßen. Nach Hause, oder nicht. Ich weiß nicht, welche der Straßen nach Hause führt. Aber ich bin auch noch nicht bereit, es herauszufinden.
Mein Kaffee kommt dem Rand der Tasse gefährlich nahe. Schwarzer, heißer Kaffee. Ich weiß gar nicht, warum ich ihn rühre. Weder Milch noch Zucker. Ich mag keinen schwarzen Kaffee. Suchend sehe ich mich auf dem Tisch um. Am Fenster steht ein Schälchen mit kleinen Milchpäckchen. Zuerst reiße ich eins auf. Gieße es in die Tasse und beobachte, die sich die Wolken im Schwarz verlieren. Noch dreht sich der Kaffee. Obwohl ich aufgehört habe, zu rühren. Manchmal, denke ich, haben Dinge mehr Folgen, als wir uns eingestehen. Also reiße ich eine zweite Milch auf. Eine dritte. Vier Würfel Zucker. In meiner Tasse ist jetzt irgendetwas, aber kein Kaffee. Süße Milch, ein wenig braun. Drei Würfel Zucker hätten ausgereicht. Aber es waren immer zwei in einem Paket. Eigentlich ist es ja auch ganz egal.
Ich habe sie zuerst gar nicht bemerkt. An einem Tisch, nur ein paar Meter entfernt, sitzt ein kleines Mädchen. Dunkle Locken und ein sehr ernster Blick. Wie alt mag sie sein? Nicht älter als vier, vermutlich. Aber ich kenn mich da nicht so aus. Sie hat sich im Stuhl herumgedreht und sieht zu mir herüber, und ich weiß nicht, warum. Was soll ein Kind gerade mit mir anfangen können? Nichts und wieder nichts. Eine Frau, die nicht für Kinder geschaffen ist. Es nie war.
Mir wird mulmig unter ihrem Blick. Zu starr und konzentriert für dieses Alter, finde ich. Als wollte sie etwas ergründen, das tief in mir drin steckt. Und das will nicht mal ich selbst wissen. Mittlerweile haben sich unsere Blicke ineinander verhakt und es fällt mir mehr als schwer, mich von ihr zu lösen. Mit einem eisigen Schauer über meinen Rücken gelingt es mir, mich loszureißen und wieder in meine Tasse zu sehen. Ein unheimliches Kind, denke ich, und versuche, sie nicht mehr zu beachten. Aber ich kann ihren Blick weiter spüren.
Geh, Kleine, lauf weg. Ich bin nicht gut für Kinder. Das sage ich nicht nur so, das habe ich bewiesen. Ich kann das nicht, will das nicht. Basta. Vielleicht will ich es doch. Habe ich aber nicht. Kann ich nicht mehr ändern. Vielleicht aber doch.
Meine Gedanken verlassen die Raststätte und rasen die Straße entlang, vor der es mir graut. Bis vor ihre Haustür. Hinauf, klingeln, den Atem anhalten. Und dann eine Frau, die ich nicht kenne. Nein, sie ist erst siebzehn. Aber auf mich wirkt sie, wie eine Frau. Und wie ein kleines Kind. Mein Kind. "Ja, bitte?" Eine hochgezogene Augenbraue, genau wie bei ihrem Vater.
Ich kneife die Augen zu und schüttele heftig den Kopf. Für einen Moment flackert das Bild vor meinen Augen. Dann bin ich zurück an meinem Tisch. Aber immer noch spüre ich die Augen der Kleinen auf mir. Und sofort ziehen meine Gedanken mich wieder vor diese Tür. Ein Mädchen öffnet, und fällt mir, ohne ein Wort, schweigend um den Hals. Weint.
Aber das ist Wunschdenken. Oder Alptraum. Ich weiß es nicht. Ich will nicht dorthin zurück. Aber ich kann dem nicht entkommen, wenn ich es nicht tue.
Nach über vierzehn Jahren sollte ich erwachsen genug sein. Nicht mehr einundzwanzig. Aber auch das ist keine Entschuldigung. Keine, die zählt. Als ich so alt war, wie sie jetzt, hat sich alles verändert, in meinem Leben. Ich kann nicht zu ihr zurück. Ich muss zurück. Aber ich werde es nicht schaffen. Ein paar Münzen auf dem Tisch liegen lassen und gehen. In den Wagen steigen und fort. Aber das ist eine Entscheidung. Ich bin gegangen, ohne zu erklären. Wenn ich zurückkomme, werde ich erklären müssen. Nach über vierzehn Jahren.
Ich habe sie nicht kommen sehen. "Was ist mit Dir?" Die Stimme hat eine so festen Klang, dass ich zuerst nicht glauben kann, dass sie dort steht. Ich antworte nicht. "Ist das Kaffee?" Sie ist neugierig. Ich nicke nur und als ich dabei die Tasse bewege, schwappt ein wenig Kaffee über den Rand. "Iih!", quietscht sie, aber nur leise, "ekelhaft." Und ich weiß nicht, ob sie Kaffee an sich meint, oder den Kranz, der sich auf der Tischplatte um die Tasse gebildet hatte. Ein trübes Gemisch aus Kaffee und Milch.
"Warum Kaffee?", sie lässt nicht locker. Aber ich schweige. "Magst Du den?" Ein Nicken bringe ich gerade noch zustande. Kinder sind eben neugierig. Und sie kann nicht wissen, was ein kleines Kind für mich bedeutet. Es ist nicht ihre Schuld. Hoffentlich geht sie bald wieder. "Nee", als wäre das eine Antwort auf meine Hoffnung. "Glaub ich nicht!" "Wieso?", meine Stimme klingt rauer, als sonst. "Weil Du keinen Schluck getrunken hast." Eine simple Feststellung. Und wahr. Eigentlich mag ich ja keinen Kaffee. Nicht wirklich. Nicht immer zumindest.
Ich will aufstehen und gehen. Aber die Kleine klettert auf den Stuhl gegenüber, kniet sich darauf und zieht das Wasserglas zu sich heran. "Das solltest Du trinken!" Als ich nicht darauf reagiere, fährt sie fort. "Es sei denn, Du hast Angst davor." Ich schüttele den Kopf und zwinge mich, die Kleine anzusehen. Sie kann ja nichts dafür. "Warum sollte ich Angst haben?"
"Na, einen der Diamanten zu verschlucken!" Als wäre das völlig natürlich. "Welche Diamanten?" Sie zeigt nur stumm auf den Boden des Glases. Ich kann ihr nicht folgen. "Da sind keine Diamanten." "Woher willst Du das wissen?" "Na, die würde ich doch sehen."
Sie rollt mit den Augen, als hätte ich gesagt, Giraffen sind blau. "Diamanten im Wasser kann man nicht sehen! Das weiß doch jeder." Ich habe es nicht gewusst.
Während ich wieder vermeide, sie anzusehen, rutscht sie vom Stuhl herunter und steht noch einen Moment da, die Hände auf der Tischplatte. "Aber trink ruhig. Es wird schon gut gehen." Ehe ich mich versehe, ist sie fort.
Durch das Fenster kann ich sie einsteigen sehen. In einen blauen Minibus. "St. Agatha Kinderheim" steht auf der Seitenwand. Das gibt den Ausschlag. Ich habe zu viel verpasst. Zu viel versäumt, um auch nur noch eine Minute zu warten. Ich springe in den Wagen und fahre zu ihrem Haus.