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Goo
Leute, die Eike nicht kannten, erzählten sich in der Regel drei Dinge über ihn: Erstens, dass er gut aussah, zweitens ein Langweiler war und drittens seltsam. An das Erste glaubte Eike nicht; die Kombination aus Zweitens und Drittens schien ihm unlogisch. Niemand konnte zugleich seltsam und langweilig sein.
Eike hatte ein Geheimnis und er hatte etwas, dass er das Orakel nannte – das war der Ort zwischen Gaumen, Zäpfchen und Zunge. In der verschwiegenen Zeit hatte Eike viele Entscheidungen treffen müssen. Die Versuchung, seiner Mutter alles zu erzählen, hatte ihn gequält. Das Orakel half, indem es ihm Entscheidungen abnahm. Er konnte ihm jede Frage stellen: sollte er es ihr sagen? Ja oder Nein? Zwischen Zungenballen und Gaumen baute sich Druck auf. Das war seine Art zu antworteten.
Eikes Geheimnis hing mit der Grundschulzeit zusammen und einem Spiel namens Kabelsalat und natürlich mit dem stotternden, stinkenden Tobi, seinem Mitschüler. Dabei war alles nur ein Versehen. Aber wer hätte das geglaubt?
Im Wald war das passiert und abends. Da hatten sie ihn hingelockt und Kabelsalat mit ihm gespielt. Denn niemand mochte den Tobi – selbst Eike nicht. Hinter einem Baum hatte er gestanden und beobachtet, wie seine Mitschüler ihm eine Augenbinde anlegten. Da dachte der sich wahrscheinlich noch, das wäre jetzt zum Spaß, weil er eben der Neue wäre. Dann zogen sie ihm die Plastiktüte über den Kopf und sagten, dass sie ihm den P. abschneiden, wenn er petzen geht. Und der heulte so sehr, und Eikes Herz hätte ihn fast verraten.
Als sie mit dem fertig waren und der weinend in den Ästen hing – mit all den Schnüren und der Plastiktüte –, da kam Eike hinterm Baum vor. Er wollte ihm helfen, zog an den Strippen, aber der ungeschickte Tobi stolperte und fiel. Es knackte und der schrie, wie nie einer geschrien hatte, und schüttelte seinen Kopf unter der Tüte und zappelte und Eike rannte.
Die Schuldigen wurden aufgespürt und bekamen, was Eike glaubte, verdient zu haben – auch wenn das Orakel etwas anderes meinte. Er konnte nicht mehr schlafen. Zumindest nicht mehr gut. Wenn er seine Tränen mit der Zungenspitze leckte, wusste er, dass er von nun an einer von den Bösen war. Mama fragte, was mit ihm sei, aber er konnte sie nicht ansehen. Er wollte nicht, dass sie ihn hasste. Einige Wochen weinte Eike scheinbar sinnlos, bis sie zu einer Ärztin gingen. Der Eiki weint nur noch, der war immer glücklich, der lacht nicht mehr.
Es dauerte nicht lange, bis Eike für intelligent und sonderbar genug befunden wurde, um auf eine spezielle Schule zu wechseln. In der zwölften Klasse, kurz vor seinem Abschluss, kam er mit einem Mädchen namens Goo zusammen, die in der Neunten war, fünfzehn, und rauchte.
Sib badete in der Milch; nicht, weil es gut für die Haut war. Es war wie Kaffee trinken für andere, machte wach und glücklich. Sie kaufte einhundert Liter mit der Kreditkarte ihres Vaters, erhitzte alles in drei Wasserkochern und prüfte mit einem Thermometer, ob die Temperatur 40,5 Grad betrug; alles andere machte sie dösig und das mochte sie nicht. Sie lag im Bad bis die Milch kalt war und ihre Finger schrumpelig und dann duschte sie heiß.
Eiki fehlte ihr manchmal. Sonst eigentlich nichts. Sie würde nie arbeiten müssen und also hatte sie Zeit für andere Dinge im Leben. Es war nicht gerecht, aber schön. Sie lag auf dem Bett in weißer Unterwäsche und dachte daran, wie es wäre, endlich einen Penis zu besitzen. Gegen alles würde sie pinkeln: Litfaßsäulen, Zäune, leere Dosen, Urinale. Die Möglichkeiten waren unbegrenzt und sie konnte es nicht erwarten; dabei hatte sie noch gar keine Entscheidung getroffen. Weiße Unterwäsche würde sie nicht aufgeben. Sie wollte besonnen sein und auf eine Weisung warten.
Sib hatte auch ein Geheimnis, das kannte außer ihr nur Eike. Das Geheimnis war eine ältere Frau mit rotem Lippenstift, blassen Wangen und kurzen Locken. Sie war selbstbewusst, elegant, ein richtiges Mannequin. Sie nannte Sib bei ihrem vollen Namen und gab ihr Ratschläge, wenn Sib sie darum bat. Das Schöne war, dass Sib die Frau mit dem Lippenstift nie besuchen musste. Sie konnte ihre Fragen einfach in sich drin stellen und bekam direkt eine Antwort. Da nämlich saß die Frau – in Anzughose, die Beine überschlagen in einem gepolsterten Sessel mit schwarzgrünem Lederüberzug und lächelte wissend. Sie nannte Sib Sibylle und Sib nannte sie Gott.
Bevor Sib an die neue Schule kam, fanden Leute sie merkwürdig. Es war ihr wie ein Wunder vorgekommen, dass Eike sie gemocht hatte. Scheinbar wollte niemand – außer alten Männern in Kneipen – über Geschlechtsumwandlungen reden und viele fragten sich offenbar ungern, ob sie sich in ihrem Leben wohlfühlten. Ihre Eltern schoben Sibs Ideen auf Flausen in ihrem Kopf. Das war nicht grundsätzlich falsch, nur dass es eben keine Flausen waren. Seit Sib neun war, und Gott ihr zum ersten Mal erschienen, hatte sie Sib versprochen, dass sie einmal ein Mann sein werde.
Die Kippe glomm und knisterte. Goo nahm einen tiefen Zug und wischte sich Träne und Mascara von der Wange. Warum musste alles immer nach Eike gehen. Dieser scheiß Eike. Und diese noch beschissenere Sib.
Eine Frau im Pelz klackerte an ihr vorbei. Goo schloss die Augen, sog ihren Duft ein. Sie liebte den Duft reicher Frauen. Das hatte etwas von Blumen und feuchtem Gras. Es machte sie glücklich. Eine wie Sib würde das nie verstehen. Geld hatte eben doch einen Geruch, aber den rochen nur Arme. Für solche Frauen war Goo ein blinder Fleck. Selbst wenn sie sich ihnen zum Essen angeboten, sich bis auf die Knochen hätte ausschlürfen lassen, es wäre nie mehr als eine flüchtige Erinnerung von ihr geblieben. Goo hustete, warf die Kippe weg.
Die Hände in den Manteltaschen lief sie durch die Straße. Vielleicht sollte sie eine Ausbildung machen. Sagten eh alle. Andererseits, was wussten die? Goo mochte Eike und der sie eventuell auch. Hätte sie die Sache bloß nicht erzählt. Wie lange wäre das gut gegangen? Ein Zettel in der Herztasche – mit Zitronenschrift; und die Tischtennisplatte erst.
Nach dem Training hatten sie und der Neue ein bisschen gespielt und der hatte den Ball geschmettert und ihn aufgehoben und dabei ihren Bauch gestreift; sie hatte ihn genommen und das T-Shirt weg; und dann hatten sie es auf der Tischtennisplatte gemacht; und natürlich ging die Platte kaputt und stand seitdem wie ein Mahnmal im Raum.
Alte Männer machten ihr Offerten, als erinnerte Goo sie an jemand. Wenn sie einen an der Imbissbude fragte, der hatte vielleicht einen Golf. Der konnte sie in der Gegend herumfahren – auch wenn heute kein Regen war. Wieder musste sie weinen. Scheißkerl. Der hatte sie einfach rausgeschmissen – auf halbem Weg zu McDonald’s –, sie könne jetzt ja wieder demonstrieren gehen, freitags mit den Freundinnen.
Zwei Jahre noch bis zum Führerschein. Vielleicht sollte sie einfach sterben.
Ich will, dass du weißt, wie es mit ihm war. Ich glaub, er heißt Jacob. Sein Schweiß riecht männlich, und er hat hübsche, schwarze Haare auf den Armen. Ich hab ihn ausgezogen und er hat meine Hände genommen und mich auf die Tischtennisplatte gedrückt. Ich hab mich gegen nichts gewehrt. Meine Wangen waren knallrot, weil er so süß war. Er hat es gemacht und jetzt kannst du es für immer vergessen. Es hat ein bisschen weh getan, aber ich bin froh, dass er es gemacht hat und nicht du. Donnerstag seh ich ihn wieder, und ich hoffe, du weißt, was wir dann tun.
Goo faltete das Papier in der Mitte, nahm die Zigarette aus dem Mund, bohrte sie hindurch. Es qualmte. Alles machte sie nur kaputt. Immer kaputtmachen. Sie nahm die Zigarette auf die Zunge. Es zischte. Goo spuckte die Zigarette aus, fühlte das Brennen, die Strafe, spuckte noch einmal. Der Brief blieb liegen. Goo ging.
Mit dem Fernseher fing er an, und der Playstation. Er riss die Kabel, den Fernseher mit, und trat in die Mattscheibe. Weil es nicht reichte, nahm er den Fernseher und schleuderte ihn gegen die Wand. Er riss den Tisch hoch, den Stuhl, nahm ihn, schleuderte ihn aus dem Fenster; knüllte und zerriss Papiere; schmiss Stifte um sich, nahm einen, zermalte ihn auf dem Boden. Eike atmete schneller.
Nicht die dümmste Kuh der Schule hatte er ficken können. Nicht einmal das.
Und es regnete doch. Goo hustete und hielt sich an einem Baum fest. Die Kippe leuchtete. Sie ließ sich fallen, die feuchten Haare ins Gesicht, nahm die Kippe wieder auf. Gegen die Rinde; Goo atmete Wölkchen aus und weinte.
Sib nickte mit geschlossenen Augen, während ihre Fingerspitzen die Stelle berührten, an der es fehlte. Durchs Fenster hörte sie die Tropfen trotz Musik. Sie strich über den Hügel.
Ein Stein flog durchs Zimmer und noch einer. Sib setzte die Kopfhörer ab, ging zum Fenster. Eike sah aus wie ein nasser Pudel; sie musste lachen, das Blut pochte.
Mach auf!
Sib nickte, warf ein Handtuch runter.
Seine Augen waren rot, als hätte er geweint. Sib hob die Bettdecke, Eike öffnete seinen Gürtel und zog die Hose aus. Dann stieg er zu ihr. Er sagte nichts. Sie nahm seinen nassen Kopf, drückte ihn an sich. Er zog sein T-Shirt aus und sie kraulte seinen Rücken. Er seufzte, schien zu weinen.
Eine Weile lagen sie da, er hatte die Augen geschlossen. Seine Hand berührte die Stelle, obwohl sie schon einmal darüber gesprochen hatten. Es fühlte sich ja nicht schlecht an. Sib starrte auf die Fotowand; Eike, sie im Arm und eine Flasche Moët. Seine Finger kreisten. Das Handy vibrierte. Irgendwann hörte es auf, vibrierte aber gleich wieder. Sib tippte gegen Eikes Schulter; wie ein Fötus lag er neben ihr. Sie schob seine Hand beiseite, stieg aus dem Bett, fischte sein Handy aus der Hose. Goo, sagte sie. Eike reagierte nicht. Goohoo! Na dann halt nicht. Ich bau einen.
Wir schreiben ihr, sagte Eike. Er tippte; Sib zog, hielt den Rauch, bließ gegen den Bildschirm.
Ich hab so eine Vermutung, dass sie im Wald ist. Hab ihr mal erzählt, dass einem dort alles Böse vergeben wird.
Aber du wolltest nicht mehr hin.
Ich mach eine Ausnahme, sagte Eike.
Sie sagt, wir sollten es lassen.
Ist mir egal, was sie sagt.
Aber sie ist Gott, Eike!
Nicht meiner.
Sie glaubte, Stimmen zu hören, nahm einen Zug. Goo! Warum war diese Sib mit dabei? Sie hielt seine Hand. Etwas stimmte nicht. Hey Goo! Eike hockte sich neben sie und Sib neben Eike. Sie konnte seine Wärme spüren, wollte ihn an sich, alles vergessen.
Schön hier, so kalt und nass, sagte Eike lustig.
Sie schwiegen.
Du willst, dass ich dir vergebe?
Goo nickte.
Dann bin ich also dein Gott?
Goo nickte.
Sollen ja unbarmherzig sein, diese Götter. Aber nicht ich. Ich vergeb dir.
Etwas fiel von Goo ab.
Aus der Dunkelheit löste sich ein Schatten, griff nach Eike, zog ihn an sich. Sib presste ihre Lippen auf seine, drückte ihn auf den Waldboden. Es roch nach Blumen. Goo schloss die Augen; Tränen kamen. Sie hörte alles mit, hinter verschlossenen Augen, nahm eine Kippe, gab sich Feuer, zog.