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Gong - letzte Runde
Gong - letzte Runde
Fast gleichzeitig trafen die beiden Schläge am Ende der 11. Runde. Der auf den Gong und der durch seine Deckung mitten ins Gesicht.
Der Kampf war verloren - er hatte ihn schon lange zuvor verloren.
Sein Gegner entspannte sich nach der letzten Gerade wie eine gut eingestellte Maschine und steuerte zielgenau in seine Ecke.
Er stand noch immer da.
In 30 Sekunden würden sie sich hier zum letzten Mal treffen:
In der Mitte des Rings, in der Mitte des Madison Square Garden, in der Mitte von New York.
„In die Ecke, in die Ecke“ hörte er eine Stimme.
Zwischen zwei Blitzlichtern sah er einen Arm in einem weißen Hemd nach ihm greifen.
Wie würde er wohl auf diesen Photos aussehen?
„Hier lang!“
Alles drehte sich, er drehte sich, wurde gedreht und plötzlich erkannte er die Gesichter seines Teams.
„In die Blaue Ecke!“
„Blaue Ecke,“ blubberte es mit einem Schwall Blut über seinen Mundschutz heraus.
„Alles in Ordnung, mein Junge?“, rief es aus dem Blau.
Sein Gesicht schwelte, und sein Körper erfuhr das Vielfache der Erdanziehung.
Aber das kannte er.
„Setz dich hin!“ hörte er seinen Trainer Frederic.
Doch in seinem Kopf war ein neuer Schmerz. Viel unberechenbarer.
„6 Monate, vielleicht aber auch ein paar Jahre. Diese Art von Tumor ist unberechenbar.“, hatte Dr. Winebaum gesagt.
„Aber wenn er kämpft – wenn er kämpft, garantiere ich für Nichts.“
Sein Scheitel verrutschte als er das sagte und
Emily schaute mich mit diesem Blick an.
23 Sekunden.
„Nur noch eine Runde, dann hast du´s überstanden“
Kaltes Metall an seiner Braue.
Ein Tropfen Blut tauchte die Szenerie in Rot.
Emilys Lieblingsfarbe.
20 Sekunden.
Sie war nie bei seinen Kämpfen.
Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, pflegte sie ihre Rosenbüsche neben dem Pool. „Du musst wissen, was du tust“ hatte sie nur gesagt und mit ihren Tränen gekämpft.
Sie trug das rote Sweatshirt, dass sie ihm vor Jahren im Urlaub gekauft hatte.
Als ihre kleine Tochter sich darauf erbrach, und der Fleck nicht ganz rausging, rangierte sie es aus.
Er mochte Rot an sich nicht besonders, aber in diesem Augenblick hätte er viel dafür gegeben, dieses Shirt tragen zu können.
„Zieht ihm die Hose hoch, noch so einen Leberhaken verkraftet er nicht“ hörte er Freddy besorgt.
Und Mr. Silvestri:
“Wenn du das Handtuch schmeißt, sorg ich dafür das du nie wieder einen Boxer trainierst – hab´ ich mich deutlich ausgedrückt?“
Noch 16 Sekunden.
In seinem Kopf pochte es. Er war sicher, das Geschwür genau lokalisieren zu können. Knapp hinter seiner linken Schläfe.
Dort hatte sein Sohn im Herbst ein erstes graues Haar entdeckt: “Erwachsene Männer prügeln sich doch nicht mehr“ hatte er gesagt und war kopfschüttelnd aus dem Badezimmer getrottet.
„Schlag zurück! Du musst zurückschlagen, sonst hast du keine Chance“ hörte er seinen Trainer dicht neben seinem Ohr.
12 Sekunden.
Sein ganzes Leben lang hatte er zurückgeschlagen. Auf der Straße, auf dem Schulhof und schließlich zu Hause.
Er sah den Blick seines Vaters als der in Zeitlupe fiel. Er ging vor dem Klo im Hausflur unter wie die Titanic. Und das Gesicht seiner Mutter, dass er gerne gestreichelt hätte. Er wollte sie einfach abschminken; den ganzen grün-blauen Lidschatten um ihre großen glänzenden Augen.
Stattdessen ließ er sie mit ihm im Schatten des Treppenhauses zurück und lief hinaus ins Licht, ins Ungewisse, in sein eigenes Leben -
und schlug sich durch.
"Vielleicht kannst du noch einen Lucky Punch landen. Der ist auch langsam müde, seine Deckung fällt." doch selbst durch den Lärm des Madison-Square Garden konnte er die Verzweiflung in der Stimme seines alten Freundes hören.
10 Sekunden bis zur letzten Runde.
Plötzlich wurde es still. Die Schreie, das Pochen, die Schmerzen wurden gedimmt. Aber das Licht wurde heller. Kein grelles, kein Scheinwerferlicht - warmes Licht.
9 Sekunden.
Seine Wangen glühten wohlig. Als ob Emily sein Gesicht hielt, über seinen versteinerten Nacken strich.
Alle Angst fiel von ihm ab.
Sprühnebel traf auf sein Gesicht und er spürte jeden einzelnen Tropfen auf der Haut. „Nimm Wasser mit“, hatte Emily ihn immer ermahnt, wenn er zum Laufen an den Strand ging. Wasser zum Meer mitnehmen – aber so war die Welt eben.
6 Sekunden.
Seine letzte Sorge bestand darin, noch einmal bis zur Mitte des Rings zu kommen.
Raus aus der Ecke.
5 Sekunden.
„Los jetzt, steh auf – tu was für dein Geld“ schrie Mr. Silvestri
Genau das wollte er. Aber bestimmt nicht mehr für ihn, auch nicht für sich, sondern für Emily und die Kinder. Alles war arrangiert.
4 Sekunden.
Er stützte die Hand auf ein Knie und legte seinen Kopf auf die Schulter seines Trainers, dicht an sein großes Ohr. „Ich wär´ gern´ noch mal mit dir in Brooklyn, Freddy“
3 Sekunden.
Mit der Trägheit einer russischen Rakete hob er vom Stuhl ab.
2 Sekunden.
Sein Gleichgewichtsorgan war seit seiner ersten Fahrt ohne Stützräder nicht mehr so gefordert.
1 Sekunde.
Er holte tief Luft. Aber nicht um zu schreien, sondern um sich durch den Lärm deutlich zu artikulieren: „Alles Weitere regelt mein Anwalt, Mr. Silvestri.“
Gong letzte Runde.
Er lächelte und ging, so aufrecht er konnte, in das gleißende Licht.