Globales Denken
"Mama, ich kann nicht mehr! Ricky sah wirklich ziemlich abgespannt aus, als er durch die Wohnungstür kam. "Was hast Du denn heute schon wieder?" fragte seine Mutter, und ihr Gesicht spiegelte den Ausdruck gewohnheitsmäßiger Abwehr wider.
"Ach, ich bin heute einfach total erledigt!" antwortete Ricky. "Weißt Du," fuhr er fort, "heute haben wir im Sport den 1000-Meter-Lauf gemacht. Und weil ich so langsam war, mußte ich hinterher noch fünfzig Liegestütze machen. Herr Greiner war heute wirklich wieder gemein."
"Ricky!" Seine Mutter sah ihn vorwurfsvoll an. "Das möchte ich überhört haben. Schieb' nicht immer alles auf die Lehrer. Wenn Du eine schlechte Note schreibst oder sonst irgendwo Probleme in der Schule hast, dann sind immer die Lehrer daran schuld. Du solltest einmal die Schuld bei Dir selbst suchen. Du bist einfach ein fauler Knochen."
"Aber Mama!" unterbrach er sie.
"Kein Aber! Seid uns Dein Vater verlassen hat, da ackere ich mir den Rücken krumm, damit Du aufs Gymnasium gehen kannst. Und dann bezahle ich Dir noch Deine Orgelstunden und den Tennisunterricht. Und wie dankst Du mir dafür? Jeden Tag jammerst Du fortwährend darüber, wie schlecht es Dir geht!"
"Aber Mama!" wieder versuchte er, einen Einwand anzubringen, und allmählich hörten sich seine Worte gekränkt und weinerlich an.
"Nein, Ricky! Ich dulde keinen Widerspruch. Du beklagst Dich immer darüber, wie sie alle auf Dir herumhacken, aber Du denkst niemals darüber nach, wie sehr Du mir eigentlich auf der Tasche liegst. Und damit genug jetzt. Ich muß wieder an meine Arbeit, damit es der gnädige Herr auch schön hat." Während der letzten Worte hatte sie ihren Mantel vom Haken genommen und nun verschwand sie aus der Wohnung.
Ricky schlurfte in Richtung Wohnzimmer und stellte seine Schultasche neben dem Tisch ab. Total abgespannt ließ er sich auf einen Stuhl fallen und stützte das Gesicht in die Hände. Ein paar Minuten lang saß er einfach so da und genoß die Ruhe. Als er seinen Kopf wieder aufrichtete, waren seine Augen gerötet, als ob er gewint hätte.
Mit einem tiefen Seufzer öffnete er seine Schultasche und holte sein Aufgabenheft heraus. "Was haben wir denn heute noch alles zu tun?" fragte er das leere Zimmer. "Ach, ja, dieses authentische Wochenreferat. Ich soll innerhalb von fünf Minuten berichten, was innerhalb einer Woche in Politik, Kultur und Sport passiert ist. Da sind fünf Minuten sicher zu kurz, wenn man bedenkt, was allein die Politiker innerhalb einer Woche alles anstellen." Ricky war zwar erst sechzehn Jahre alt, doch in der Schule trichterte man ihm seit Jahren ein, er solle seinen Verstand benutzen.
Dieser Auftrag kostete Ricky manche Stunde Schlaf, denn mittlerweile dachte Ricky über alles nach. "Globals Denken" nannten sie das in der Schule, doch das machte Ricky schwer zu schaffen.
Um seine Hausaufgaben zu erledigen stand er auf und ging zum Zeitungsständer. Zwischen den Illustrierten seiner Mutter fischte er die Tageszeitungen der letzten Woche heraus und legte sie auf den Tisch. Seiner Schultasche entnahm er die nötigen Schreibutensilien, worauf er sich an die Arbeit machte.
Man hatte den Schülern von vornherein gesagt, daß diese Wochenreferate nicht unbedingt in der zeitlichen Abfolge der Geschehnisse abgefaßt sein sollten, da sich oft innerhalb einer Woche mehrere Vorfälle zum gleichen Thema ereigneten. Also begann Ricky mit der ersten Tageszeitung.
Seine von der Schule gelehrte Fähigkeit, global zu denken, ließ ihm so manche Schlagzeile, welche für die meisten Menschen heute schon selbstverständlich ist, als besonders schockierend erscheinen. Seite um Seite und Zeitung um Zeitung arbeitete er durch.
Als seine Mutter mehrere Stunden später von der Arbeit zurückkam, lag Ricky mit dem Gesicht inmitten einer Zeitung auf dem Tisch. Margarete Ludwig dachte, daß der Junge während seiner Schularbeiten eingeschlafen war. Wie eine Furie rannte sie um den Tisch herum und stieß fortwährend Verwünschungen aus, wie undankbar und faul Ricky doch sei. Doch trotz ihres enormen Lautstärkepegels reagierte der Junge überhaupt nicht.
Folglich machte sie bei seinem Stuhl abrupt halt und versetzte ihm einen Rippenstoß. Doch anstatt aufzuwachen fiel Ricky einfach vom Stuhl. Sein Gesicht sah todbleich aus, und als ihn seine Mutter so da liegen sah, bekam sie einen Schock. Schnell ließ sie sich auf die Knie nieder und rüttelte ihren Sohn sanft. Doch Ricky wachte nicht auf.
Als er auch auf leichte Ohrfeigen nicht reagierte, sprang sie verwirrt auf und hastete zum Telefon. So schnell ihre aufgeregten Finger nur konnten, wählte sie die Nummer des Rettungsdienstes. Zwischen den wenigen Tut-Zeichen, ehe sich die Stimme des Diensthabenden meldete, schienen Stunden zu liegen.
"Rettungsstelle!" meldete sich eine tiefe Männerstimme.
"Ja, hier Ludwig, Winzergasse 4, dritter Stock. Mein Sohn ist glaube ich ohnmächtig. Als ich nach Hause kam, lag er mit dem Gesicht in der Zeitung." Sie keuchte bei ihren Erklärungen wie eine antike Dampflokomotive, was zum großen Teil an ihrer fülligen Figur lag. "Und als ich ihm dann einen Stoß gab"; erklärte sie weiter, "fiel er vom Stuhl und blieb genauso reglos am Boden liegen. Bitte, kommen Sie sofort!" Der letzte Satz klang mehr befehlend als bittend. "Er ist doch mein einziges Kind, und ich möchte nicht..." Plötzlich brach sie in Tränen aus. Ihre Brust verkrampfte sich unter den tiefen Schluchzern, sodaß sie stark husten mußte.
Teilnahmslos und an solche Gefühlsausbrüche gewöhnt gab ihr die Stimme am anderen Ende der Leitung wichtige Instruktionen: "Überprüfen Sie bitte zuerst, ob er noch atmet, ob sein Herz noch schlägt." Frau Ludwig ließ den Hörer fallen und rannte zu Ricky zurück. Schnell drehte sie ihn auf den Rücken und preßte ihr Ohr an seine Brust. Ihr Brustkorb pumpte wie ein Blasebalg, sodaß ihr zuerst nur ihren eigenen Herzschlag in den Ohren hallte. Endlich hatte sie sich wieder so weit unter Kontrolle und konnte das lebenswichtige Signal vernehmen.
Für ihre Masse äußerst behende sprang sie wieder auf und nahm schwer keuchend den Telefonhörer zur Hand. "Hören sie", schrie sie, "sein Herz schlägt total seltsam. Immer so bumm - bumm und dann kommt lange nichts und dann wieder bumm - bumm. Kann ich irgendetwas tun?"
"Solange sein Herz noch schlägt haben wir eine große Chance. Ein Notarztwagen ist bereits unterwegs zu ihnen." Und nach einer kurzen Pause setzte er hinzu. "Haben sie schon mal einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht?"
Frau Ludwig überlegte einen Moment. Oh ja, es war schon sehr, sehr lange her. "Ja! Das habe ich!" antwortete sie schließlich, und zum ersten Mal lag etwas Unsicherheit in ihren Worten. "Gut!" sagte der Sanitäter. Dann fragte er: "Wissen sie noch, was die Schocklage ist?" Als Margarete Ludwig nach längerem Überlegen auch diese Frage bejahen konnte, erhielt sie den Auftrag, ihren Sohn in diese Lage zu versetzen und dann einfach auf den Krankenwagen zu warten.
Kaum lag der Hörer wieder auf der Gabel, da bettete sie Ricky auf den Teppichboden in die richtige Lage. Mit tränenverschmiertem Gesicht kniete sie neben dem reglosen Körper und kontrollierte fortwährend den Herzschlag des Jungen.
Als es endlich an der Tür klingelte, kam Frau Ludwig beinahe nicht mehr vom Boden auf. Doch die Gefahr der Situation verlieh ihr eine Energie, zu der sie sonst wahrscheinlich niemals in der Lage gewesen wäre. Ihre Unterschenkel fühlten sich taub an, und als das Blut zurückkehrte kribbelte es bis in die Fußsohlen hinunter. Schnell drückte sie nun auf den elektrischen Öffner für die Haustür, und als sie die Wohnungstür aufriß hörte sie die Sanitäter bereits die Treppe heraufpoltern.
Die Holzstufen ächzten unter den schnellen Schritten der Retter, doch der Lärm war im ganzen Haus hörbar. Die Wohnungstür gegenüber der Ludwigs öffnete sich, und eine ältere Frau trat heraus. "Was ist denn das für ein Lärm hier?" keifte sie, doch in diesem Moment rauschten bereits die drei Sanitäter an ihr vorüber. Entsetzt wich sie zurück. Ihr Kinnladen klappte herunter und ihre Augen nahmen gewaltige Ausmaße an.
Bei Ricky angekommen stellten die Sanitäter einen komaartigen Zustand fest. Nun war es wichtig, ihn so schnell als nur möglich in ein Krankenhaus zu bringen. Während die Sanitäter Ricky auf der Bahre festschnallten, warf dessen Mutter ein paar seiner Kleidungsstücke in eine Tasche.
Innerhalb weniger Augenblicke war die Wohnung leer, und fünf Personen fuhren mit Martinshorn und Blaulicht zum Katharinen-Hospital.
Vier Tage lang bangte Margarete Ludwig um das Leben ihres Sohnes. Ihre Nachbarin hatte den Vorfall mittlerweile im ganzen Haus bekannt gemacht, und jeder Bewohner, der Frau Ludwig sah, drückte ihr große Anteilnahme und Mitleid aus. Alle stocherten in einer offenen Wunde herum.
Endlich schlug Ricky die Augen wieder auf, und mit Frau Ludwig sagten plötzlich alle, daß sie es ohnehin schon gewußt hätten, daß der Junge wieder zu sich kommen würde.
Jetzt war es natürlich an den Ärzten, der Ursache für diesen plötzlichen Zusammenbruch auf den Grund zu gehen. Ricky durchlief eine Vielzahl von Untersuchungen, ohne den Ärzten auch nur einen Anhaltspunkt geben zu können. Immer wieder versuchte er, ihnen alles zu erklären, doch die Ärzte hörten rund zwei Wochen lang nicht auf seine Worte.
Als sie schließlich mit ihrem Mediziner-Latein am Ende waren, da schickte man einen Psychologen zu Ricky. Wenn kein körperlicher Defekt zu finden war, dann konnte es wohl nur noch die Psyche sein, meinten sie. Und endlich konnte Ricky sein Herz ausschütten. Kreidebleich lag er in seinem weiß bezogenen Bett, doch sein Gesicht drückte große Erleichterung aus.
"Na, mein Junge"; fragte ihn der Psychologe, "wie geht es Dir?"
"Jetzt geht es mir besser!" sagte Ricky, und um sicherzugehen, daß er den richtigen vor sich hatte, setzte er hinzu: "Sie sind doch der Psychologe, oder?"
"Ja", antwortete der Mann, der eigentlich gar nicht aussah, wie ein Arzt. "Ich bin Doktor Willschewsky, Facharzt für Psychologie. Mich haben sie extra für Dich aus der Stadt geholt, weil die ganzen Mediziner aus Dir nicht schlau werden. Und da Du sagst, Dir gehe es jetzt besser, da bin ich mir sicher, daß Du mir eine ganze Menge zu erzählen hast, oder?"
"Klar!" sagte Ricky, und ein Seufzer der Erleichterung kam über seine Lippen.
"Dann fang am besten mal am Anfang an!" meinte der Doktor. Und Ricky erzählte:
"Angefangen haben meine ganzen Probleme eigentlich schon in der fünften Klasse. Damals waren meine Eltern noch zusammen und sie sagten, wenn sie mich ins Internat steckten, dann hätte ich es viel besser. Dort würde gut auf mich aufgepaßt, dort hätte ich geregelte Lernzeiten, und vor allem wäre es nicht so weit zur Schule und ich müßte nicht so früh aufstehen." Ricky schluckte, ehe er fortfuhr. "Wissen sie, für mich war das dann ein doppelt schwerer Anfang. Zum einen die neue Schule, das Gymnasium, zum anderen der neue Freundeskreis im Internat. Der erste Schultag war für mich schon der totale Horror. Alle Neulinge waren mit ihren Eltern gekommen, nur ich mußte ganz alleine dastehen und darauf warten, daß mein Name vorgelesen wurde. In der Schule und im Internat hatte ich dann immer das gleiche Problem: Meine Eltern waren verdammt arm, und nachdem das Internat schon ziemlich teuer war, konnten sie für mich nicht mehr allzuviel ausgeben. Die meisten Schüler in meiner Klasse und im Internat kamen aus bedeutend wohlhabenderen Familien und waren eigentlich immer ziemlich modern gekleidet. Ich hatte natürlich immer nur so billige Sachen und war deshalb oft das Ziel von Spott und Hohn. Für Sport hatte ich mich nie besonders interessiert, weshalb ich auch heute noch keinen besonderen Körperbau habe, und auch dafür wurde ich verspottet.
Im Endeffekt lief also alles darauf hinaus, daß ich, so oft ich mit anderen zusammen war, eigentlich fortwährend gehänselt wurde. Das habe ich ziemlich schnell begriffen, und weil ich schon in der Grundschule immer viel gelesen hatte, da stürzte ich mich auch jetzt wieder auf die Bücher. Aber nicht etwa auf die Schulbücher, was für mich wichtig gewesen wäre, weil ich von Anfang an große Schwierigkeiten hatte, sondern auf alles, was die Schulbücherei zu bieten hatte."
Ricky hielt einen Moment inne, um ein Glas Wasser zu trinken. Die Zweifel, die in ihm aufkamen, ob er weitererzählen sollte, schob er sofort beiseite. Dann fuhr er fort: "Einen Wälzer nach dem anderen verschlang ich schneller, als so mancher andere eine Zeitschrift. Obwohl ich mich immer inmitten einer Menschenmenge befand, war ich stets allein. Mir machte es nicht, und als die anderen dann bemerkten, daß ich mich nicht mehr über ihren Spott aufregte, hörten sie irgendwann damit auf. Kinderbücher habe ich natürlich nie viel gelesen, wes..."
"Moment!" unterbrach ihn Doktor Willschewsky. "Warum sagst Du, 'natürlich' hättest Du nie viele gelesen? Das mußt Du mir schon näher erklären!"
"Ach so, natürlich. Nun, es war so, daß ich bereits im Alter von fünf Jahren ziemlich gut lesen konnte. Mit sechs, etwa vier Monate nach meiner Einschulung, bekam ich mein erste richtiges Buch geschenkt. Es hatte über hundert Seiten und war im Großdruck geschrieben, doch innerhalb von zwei Tagen schon hatte ich es durchgelesen. Wie ich mit dem Lesen meinem Alter ein gutes Stück voraus war, so wurden dann natürlich auch schnell die Anforderungen an meine Lektüre immer höher.
Also habe ich in der fünften Klasse nicht nur solche Sachen wie die 'Unendliche Geschichte' und den 'Herr der Ringe' in einer Woche gelesen, sondern auch solche Bücher wie 'Krieg und Frieden' von Tolstoi oder 'Vom Winde verweht'. Weil ich jetzt natürlich fast meine ganze Freizeit mit Lesen verbrachte, interessierte sich bald niemand mehr für mich. In der Schule saß ich in der Pause in der Bücherei, und im Internat erledigte ich meine schriftlichen Arbeiten ziemlich schnell. Wenn wir die gemacht hatten, dann durften wir nämlich lesen, was wir wollten. Viele von den anderen saßen mit Comics drin, doch die haben mich nie so richtig interessiert. Als ich in der fünften Klasse dann sitzenblieb, waren meine Eltern mittlerweile geschieden, meine Mutter wußte fast nichts mehr über meine Interessen, und ich durfte mir tagelang anhören, wie faul ich sei und wieviel Kummer ich ihr bereitete. Zur Strafe wurde ich aus dem Internat genommen und mußte die Klasse wiederholen. Doch weil ich alles ja schon einmal durchgemacht hatte, schnitt ich ein Jahr später mit hervorragenden Leistungen ab.
Danach konnte ich meine Noten so ziemlich halten, und weil ich in der Schule der Älteste in der Klasse war, hatte ich da auch keinerlei Probleme mehr. Freundeskreis hatte ich trotz allem keinen, weil ich mich nach wie vor hinter meine Bücher klemmte, wann immer ich die Gelegenheit dazu hatte. Mit vierzehn las ich Einsteins Relativitätstheorie, die Biographie von Hitler und authentische Kriegsberichte. Damals schon brachten sie uns in der Schule bei, daß wir unser Hirn benutzen sollten.
Je mehr ich las, um so deutlicher wurde meine Weltanschauung. Und bei all den Katastrophen, die rund um unseren Globus herum passierten, konnte ich es gar nicht verstehen, daß all die anderen einfach so in den Tag hinein lebten. Also begann ich, die Menschen zu hassen. Ich konnte mit niemandem darüber reden, weil mich von meinen Altersgenossen niemand verstanden hätte, und die Älteren stempelten mich ohnehin noch immer als Spinner ab.
Also griff ich irgendwann einmal zur Zigarette. Bei mir war das nie so, wie das immer irgendwo geschrieben wird. Von wegen, daß man in der Clique das Rauchen anfängt und so. Ich hab' die Kippe als gutes Trostpflaster empfunden, aber das war wohl mit elf schon das erste Mal. Mit dreizehn qualmte ich dann schon eine ganze Schachtel innerhalb von ein, zwei Tagen.
Zusätzlich find ich dann noch an, meine Gedanken über Gott und die Welt einfach aufzuschreiben. Einfach so! Ich schrieb Gedichte, die sich nicht reimten und Geschichten über Helden, die niemals existierten und Probleme lösten, die keinen interessierten, aber irgendwann einmal lies ich die Mappe mit meinen Texten in der Bücherei liegen. Das ist jetzt etwa ein Jahr her. Ein Abiturient hat sie mir dann gebracht, einer, den ich sogar noch vom Internat her kannte, und er meinte, ich hätte ein wunderbares Talent zum Schreiben.
Er organisierte dann einmal eine Fete extra für mich, auf die die ganzen Oberstufler nur kamen, um mir zuzuhören. Von diesem Zeitpunkt an, da wir ich jemand. Man holte mich einfach aus der Versenkung und redete mit mir über Gott und die Welt. Was ich schrieb wurde verschlungen, und das bereitete mir bald schon neue Schwierigkeiten.
Es kam mir so vor, als ob ich mich selber verkaufte. Wissen sie, ein Teil von mir war froh darüber, endlich einen Ansprechpartner für all die schwierigen Gedanken gefunden zu haben, doch ein anderer Teil hatte große Angst davor, daß irgendjemand auf die Idee kam, ich müßte verrückt sein.
Von da an traute ich niemandem mehr. Die anderen vertrauten mir dafür um so mehr. Fast jeden Tag kamen jetzt ein paar zu mir, um mich bei irgendeinem Problem um Rat zu fragen. So erfuhr ich als einstmals Außenstehender nach und nach fast alles über etliche Schüler in meiner Schule. Praktisch gesehen trug ich zum einen die privaten und intimen Geheimnisse von denen mit mir herum, zum anderen belastete mich das, was in der ganzen Welt passierte. Haben sie zum Beispiel gewußt, daß es in unserem Jahrhundert weltweit schon über einhundertundfünfzig Kriege gegeben hat, einer brutaler wie der andere?"
"Nein!" Der Doktor schüttelte nachdenklich den Kopf. "Aber erzähl' bitte weiter!"
"Also gut. Mittlerweile stand ich unter einem riesigen Druck. In der Schule wollte ich weiterhin meine Leistungen bringen. Dann mußte ich natürlich immer ein offenes Ohr für die anderen haben, und wenn einmal keiner kam, dann ging ich auf diejenigen zu, die so aussahen, als hätten sie etwas auf dem Herzen. Natürlich mußte ich auch stets neue Geschichten und Gedichte schreiben, um das Bedürfnis der Leute zu befriedigen. Meiner Mutter sollte ich im Haushalt helfen, und außerdem hatte sie mich inzwischen noch zum Tennis- und Orgelunterricht angemeldet.
Wenn ich dann nachts im Bett lag war ich einfach nicht mehr in der Lage, abzuschalten. Und weil ich niemanden so richtig vor die Stirn stoßen wollte, wurde mein Schlaf immer weniger. Jeden Tag gehe ich unausgeschlafen zur Schule, und das nun seit etwa einem halben Jahr. Wenn ich noch viel Schlaf finde, dann sind das vielleicht fünf Stunden oder so. Und selbst da finde ich keine Ruhe mehr. Mein Gehirn verarbeitete nonstop die Flut von Informationen, die tagtäglich auf mich eindringt, sei es der Unterrichtsstoff, die Probleme der anderen oder meine erfundenen und trotzdem irgendwie wahren Geschichten. Irgendwann begann die die Angst vor dem Leben. Allmählich entwickelte sich meine Weltanschauung dahin, daß die Welt im großen und ganzen eigentlich nur aus Problemen besteht. Und jedes neue Problem, von dem ich hörte, las oder schrieb bereitete mir Kopfzerbrechen.
Als ich dann am Montag über der Zeitung saß um mein Wochenreferat über Politik, Kultur und Wirtschaft zu schreiben, da entdeckte ich, was zur Zeit eigentlich an Problemen abging. Durch meinen Streß hatte ich total verpaßt, was in der Welt eigentlich passierte. Zum Fernsehen kam ich ja eh nicht mehr, und so blieb ich beim aktuellen Zeitgeschehen total hinter dem Mond.
Beim Lesen hatte ich die Probleme bis zum Anfang der neunziger Jahre ziemlich gut mitbekommen, aber was zur Zeit eigentlich vor sich ging, davon hatte ich nicht die Spur einer Ahnung. Als ich dieses Wissen dann am Montag zum Teil nachholte, da sprang bei mir einfach eine Sicherung heraus, es machte peng und um mich herum wurde es Nacht.
Bis ich wieder aufwachte, hatte ich natürlich absolute Ruhe, Irgendwie war es nur ein erholsamer Schlaf für mich, der mir sagte, es sei an der Zeit, etwas zu ändern. Die Ärzte erklärten mir dann fortwährend, daß sie die Mediziner seien und sie die Diagnose meines Zusammenbruches stellten und ich einfach abwarten sollte. Was ich zu sagen hatte, interessierte keinen von ihnen. Folglich hatte ich Zeit genug, um über mein Leben nachzudenken, und ich stellte fest, daß ich bis zum Hals in der Scheiße stecke."
Abermals seufzte Ricky tief und der Psycholog wachte aus einer Art Trance auf. Verwundert und nachdenklich betrachtete er den Sechzehnjährigen in seinem Bett. "Wie stelst Du Dir Dein Leben dann in Zukunft vor?" fragte er schließlich.
"Ich habe keine Ahnung!" sagte Ricky. "Ich weiß, daß sich etwas radikal ändern muß, nur wie es dann hinterher aussehen soll, davon habe ich keine Ahnung!"
"Ich hätte da einmal eine Idee!" sagte Dr. Willschewsky und blickte Ricky erwartungsvoll an. "Ich schreibe von Zeit zu Zeit diverse Artikel für 'Das Gesicht'. Kennst Du Dieses Magazin?"
Ricky überlegte. "Aber natürlich", platzte er dann heraus, "das ist doch die Zeitung, in der sie über so besondere Persönlichkeiten berichten. Oder über arme kranke Menschen." Irgendwo in seinem Verstand leuchtete eine Warnlampe auf, doch Ricky war nicht mehr dazu in der Lage, sie zur Kenntnis zu nehmen.
"Gut!" meinte nun der Doktor und sah ihm tief in die Augen. "Was würdest Du nun davon halten, wenn wir Deine Geschichte in dieser Zeitung so veröffentlichen, wie Du sie mir gerade erzählt hast?"
Jetzt brach diese Alarmstimme durch. "Nein!" kreischte sie, und Ricky überdachte das Angebot des Doktors mit allen nur möglichen Konsequenzen. "Was passiert dann?" fragte er. "Ich meine, auf diese Weise werde ich doch wieder ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt, und die Leute, die von mir lesen, die wollen vielleicht all das Lesen, was ich geschrieben habe, obwohl sie nichts davon verstehen. Was hätte das ganze dann für einen Sinn?"
Der Doktor sah jetzt aus wie ein kleiner Junge, denn man bei einem Streich ertappt hatte. Verlegenheit stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er jetzt antwortete. "Ricky, höre mir gut zu. Ich werde alles daran setzen, daß Du auch während der ganzen Geschichte keinen Reporter zu Gesicht bekommst, der nicht von Gesicht ist. Ist das ein Angebot?"
"Aber warum?" Ricky seufzte. "Ich meine, auch wenn wir das ganze machen, was ergäbe das denn für einen Sinn?"
"Laß mich Dir etwas erklären: Ich übe seit rund fünfzehn Jahren meinen Beruf aus, und Fälle wie der Deine sind mir vor allem in den letzten paar Jahren immer wieder zu Ohren bekommen. Du bist im Prinzip nur ein Opfer unserer Leistungsgesellschaft, doch es muß aufhören, daß diese Opfer immer noch jünger werden. Deswegen möchte ich darüber einen Artikel schreiben, um all jene zu finden, denen es genau so geht wie Dir. Denn ich bin mir sicher, daß wir gemeinsam etwas ausrichten können. Ich weiß auch, daß mich diese ganze Sache Kopf und Kragen kosten kann, doch ich bin der Meinung, daß endlich jemand den Anfang machen muß, koste es, was es wolle."
"Okay!" sagte Ricky. "Das denke ich eigentlich auch. Alle jammern sie über die Umweltverschmutzung und den Krieg, und trotzdem fahren sie weiter mit dem Auto oder gehen zur Bundeswehr, anstatt den Bus zu nehmen oder den Zivildienst zu absolvieren."
"Wir verstehen uns also, oder?" Dr. Willschewsky streckte Ricky seine große Hand entgegen, und der Junge schlug erfreut ein. War er doch nicht der einzige, der so viel über die Welt nachdachte? War er doch nicht so schlecht, wie seine Mutter immer behauptete? Der Artikel sollte es herausstellen, ob und wieviele Kinder und Jugendliche es gab, die sich in einer ähnlichen Situation befanden.
Zwei Wochen später war Rickys Geschichte auf vier Seiten im 'Gesicht' zu lesen. Dr. Willschewsky hatte ein paar Worte zur Einleitung geschrieben und setzte zum Abschluß ein paar Ausführungen über den stetig steigenden Leistungsdruck unserer Gesellschaft hinzu. Ganz am Ende des Artikels war eine Kontaktdresse abgedruckt, bei der sich betroffene Kinder und Jugendliche oder hilfesuchende Eltern melden konnten.
Und die Resonanz war gewaltig. Innerhalb von zwei Wochen sammelten sich rund achtzigtausend Zuschriften aus dem ganzen Land, in denen jeweils eine ganze Lebensgeschichte zu lesen war. Nun war es eine Frage der Öffentlichkeitsarbeit, um gegen das Problem anzukommen.
Dr. Willschewsky setzte sich mit einem Teil der Leute in Verbindung und brachte kurze Zeit darauf ein Buch mit authentischen Lebensgeschichten junger Menschen heraus, die an den Druck unserer Gesellschaft schon im Kindes- oder Jugendalter zu zerbrechen drohten. Das jüngste Opfer war erst elf Jahre alt und hatte Rickys Geschichte zwar nur zum Teil verstanden, aber trotzdem seinen traurigen Lebenslauf eingereicht.
Die Konsequenz dieser ganzen Aktion war, daß Dr. Willschewsky eine Anklage wegen Verleumdung erhielt, sein Buch verboten wurde und er selbst in einem großen Artikel in der Boulevardpresse als Aufhetzer und Rebell dargestellt wurde.
Von diesen Rückschlägen auf das Tiefste verängstigt, schwiegen all jene Kinder und auch die betroffenen Eltern erneut, wie sie es zuvor schon jahrelang getan hatten. Ricky ist heute in einer psychiatrischen Klinik, wo er keinerlei Informationen mehr über das Weltgeschehen erhält. Er hat eine halbwegs annehmbare Lösung erreicht, aber einsam und verlassen ist er heute noch genauso, wie vor zwei Jahren, als das ganze passierte.
Vielen Tausenden geht es gleich, wie Ricky, doch wer hilft ihnen, wenn der permanent ansteigende Leistungsdruck von niemandem auch nur im Geringsten gemildert werden kann, weil fortwährend jedwedes Argument durch politischen und wirtschaftlichen Druck zunichte gemacht wird?