Glatteis
Freitag, 10. November, 23.30 Uhr. Thomas war zu der Party eines alten Bekannten eingeladen. Sie hatten sich nach langer Zeit zufällig getroffen, und Mirko hatte gesagt: „Hey, komm doch zu meiner Einweihungs-, Geburtstags- und überhaupt-mal-so-ein-bisschen-feiern-Party.“
Klingeln, warten, summ, Tür auf. Schon aus dem Treppenhaus hörte Thomas laute Musik und die aufgeregten Stimmen fröhlicher Menschen. Er trat in die Wohnung und schaute sich um. Vor ihm im Flur standen zwei Typen. Der eine war ziemlich groß, trug eine Brille und wirkte ein bisschen wie ein ungelenker Informatiker. Der andere war eher so die Richtung „Hey, ich bin total entspannt.“ Verfilzte Haare, die ihm bis zu den Schultern gingen, Schlabberlook. Auf seinem T-Shirt stand: „Lieber Gras rauchen als Heu schnupfen.“ Thomas fand die beiden doof und wollte das auch kund tun. „Hey, wer seid Ihr denn, Tim und Struppi?“ Die beiden schauten ihn fragend und ein bisschen feindselig an. Der Lange antwortete: „Und wer bist Du? ´N Alleinunterhalter für Arme?“ Das hatte gesessen. Thomas suchte hastig nach einer schlagfertigen Antwort, fand sie nicht und setzte stattdessen einfach eine böse Miene auf.
Er ging schnell weiter. Wo war Mirko? Thomas brauchte ein bekanntes Gesicht und ein Bier, und zwar in dieser Reihenfolge. Erst mal die Fassung wieder erlangen. Ein paar Leute schauten ihn eher uninteressiert an, als er das Wohnzimmer betrat. Er versuchte, locker und selbstsicher zu wirken. Klappte nicht so richtig.
Kurz bevor man Thomas seine Orientierungslosigkeit ansah, erblickte er Mirko. Dieser war in ein Gespräch mit einer sehr schönen Frau vertieft. Hmm, ungünstige Situation. „Hi Mirko“, sagte Thomas möglichst lässig und ein wenig zu laut, „alles klar? Wieder mal am baggern?“ Er setzte ein breites Grinsen auf. Die beiden schauten ihn an. Sie lachten nicht. Mirko sagte etwas gequält: „Hey Thomas, ich dachte, Du kommst nicht mehr. Wie geht´s?“ Er wollte es nicht wissen, kein Wunder nach Thomas´ Einstieg. „Gut, alles bestens, danke.“ Eine schlechte Lüge. „Super“, sagte Mirko und wandte sich wieder der Schönen zu. Die beiden setzten Ihr Gespräch fort und beachteten Thomas nicht mehr. „Mirko, wo krieg´ ich denn hier ´n schönes Bierchen?“, fragte er. Vor seinem geistigen Auge sah er sich an Mirkos Hemdzipfel zupfen. Kein erhebender Anblick. Nachdem Thomas die Frage dreimal wiederholt hatte, antwortete Mirko: „Im Badezimmer.“ Mirko hatte wirklich keine Lust, mit ihm zu reden. Thomas wurde rot.
Er schaute sich um, ob irgendjemand seine Demütigung bemerkt hatte. Er war sich sicher, dass das keinem entgangen war. Schnell das Badezimmer suchen. Flur, ein Zimmer, noch ein Zimmer, Bad. Davor eine fünfköpfige Gruppe von Leuten mit voller Blase oder leerer Flasche. Sie unterhielten sich angeregt. Thomas fragte: „Steht Ihr alle an oder findet Ihr den Flur so toll?“ Uninteressiertes Kopfnicken. Anscheinend standen sie an. Er versuchte, sich möglichst gelassen an die Wand zu lehnen und zu warten. Gekonnt ließ er seinen Blick schweifen. Im Türrahmen des einen Zimmers standen zwei Frauen. Er brachte Spannung in sein Gesicht und schaute der einen tief in die Augen. Die beiden kicherten eher belustigt als verführt und wandten sich ab. 0:3 für die Außenwelt. Kein guter Tag heute.
Er ergatterte sich ein Bier, trank es aus, holte noch eins und trank es aus. Das wiederholte er mehrmals. Keiner redete mit ihm, und wenn doch, dann nicht lange. Aber das machte ja nichts. Die Leute waren sowieso alle blöd. Blöd und hässlich. Oh ja, er hatte eine große Tasche zum Hereinlügen dabei.
Mittlerweile war es kurz vor zwei. Das war eigentlich der späteste Augenblick, in dem er gehen und dabei so tun konnte, als sei er einfach zu toll für diese Veranstaltung. Jetzt würde der Abend erst richtig beginnen. Und zwar woanders, wo die Leute schon sehnsüchtig auf Thomas warten würden. Mit einem lockeren Schwung leerte er sein Bier und suchte seine Jacke. Auf dem Weg zur Tür streute er noch ein paar gelangweilte Blicke, die sich jedoch unbemerkt in Luft auflösten.
Er machte sich auf den Weg nach Hause. Da waren zwar keine Leute, die sehnsüchtig auf ihn warteten, aber alles andere hätte nur noch schlimmer werden können. Irgendwie fühlte er sich auf einmal schlecht.
Thomas kam in seine Wohnung, legte sich ins Bett und fror. Seine Gedanken kreisten um die Frage, warum dort draußen eigentlich so viele Langweiler unterwegs waren. „It´s lonely at the top“, dachte er sich. Dann schlief er ein.